Das für das Verständnis der Pathogenese degenerativer Hirnerkrankungen so bedeutsame Prinzip der selektiven neuronalen Vulnerabilität wird dem Neurologen wohl bei kaum einer Erkrankungsgruppe so deutlich vor Augen geführt wie bei den Motoneuronerkrankungen
. Basierend auf diesem topischen Prinzip lassen sich die Erkrankungen in den Typ der spastischen Spinalparalyse (Läsion der Betz-Zelle und der Pyramidenbahn), der
spinalen Muskelatrophien (Läsion der motorischen Vorderhornzellen) und einer Kombination beider Läsionstypen – der
amyotrophen Lateralsklerose (ALS) – einteilen. Die Ursachen der Erkrankungen der Motoneurone sind weitgehend unbekannt, und das Verständnis ihrer genetischen Grundlagen, der Pathogenese und die Entwicklung von Behandlungsansätzen stehen am Anfang. Dabei wird zunehmend klar, dass die mit einem monogenetischen Erbgang assoziierten Varianten zwar einen wichtigen Modellcharakter haben, sie aber allein nicht wegweisend für die so dringend benötigten therapeutischen Ansätze sind. Es wird heute häufig vergessen, dass auch die entzündlich und toxisch bedingten Erkrankungen der gleichen Systeme aufgrund ihres Modellcharakters ebenfalls einen Zugang zur Ätiopathogenese des charakteristischen Musters selektiver Vulnerabilität bieten.
Spastische Spinalparalyse
Spastische Spinalparalysen können hereditär oder sporadisch auftreten. Das charakteristische gemeinsame Merkmal der Erkrankungen ist eine sich klinisch stereotyp manifestierende, langsam progrediente spastische Parese der unteren Extremitäten; diese Symptome sind das Resultat einer zentralen distalen Axonopathie des kortikospinalen Trakts; das gleiche Läsionsmuster weisen die Hinterstränge auf. Nicht selten finden sich jedoch auch akzessorische Symptome. Trotz der monomorphen Kernsymptomatik stellen die hereditären (erblichen) spastischen Paraplegien (HSP, Strümpell-Lorrain-Krankheit) eine genetisch heterogene Gruppe von Erkrankungen dar, bei denen autosomal-dominante, -rezessive und X-chromosomale Erbgänge beschrieben worden sind.
Das Krankheitsbild ist vor seinem genetischen Hintergrund erstmals im Jahre 1880 von Strümpell beschrieben worden (Strümpell
1880). Seit den Arbeiten von Harding (
1981) werden reine und komplizierte („complex“, „complicated“) Varianten der Erkrankung unterschieden; dabei beziehen sich die Begriffe auf das Auftreten und das Fehlen akzessorischer Symptome. Der Kern der neuropathologischen Befunde besteht aus einer Degeneration der distalen Anteile des kortikospinalen Trakts sowie der distalen – zervikalen – Anteile des Tractus gracilis. Darüber hinaus wurde seltener über eine Affektion der spinozerebellären Trakte sowie eine Reduktion der Anzahl der Betz-Zellen im motorischen Kortex berichtet. Bei „komplizierten“ Formen der HSP geht das Vulnerabilitätsmuster selbst über diesen Kern hinaus. Es ist heute klar, dass das klinisch scheinbar so einfache und stereotype Kernsyndrom der spastischen Spinalparalyse einen komplexen genetischen und metabolischen Hintergrund hat. Der genetische Hintergrund, v. a. der rezessiven Form, erscheint so komplex, dass eine klinisch sinnvolle Einteilung nach genetischen Gesichtspunkten wohl eine Illusion bleiben wird, es sei denn, es ergeben sich auf dem Boden einer soliden Einteilung für den Patienten therapeutische Konsequenzen; dies ist aber heute nicht sehr wahrscheinlich (Depienne et al.
2007).
Kurz nachdem Charcot erstmals die ALS beschrieben hatte, postulierte Erb im Jahre 1875 die Existenz einer sporadisch auftretenden degenerativen Erkrankung des kortikospinalen Trakts, die ohne Beteiligung der Vorderhornzellen bleibt. Wenngleich in den folgenden Jahrzehnten die Existenz dieser Entität wiederholt angezweifelt und besonders herausgestellt wurde, dass die beschriebene Symptomatik häufig doch im Verlauf in eine ALS übergeht, so scheint die Existenz eines Syndroms der isolierten progredienten Pyramidenbahndegeneration ohne Sensibilitätsstörungen und zerebelläre oder kognitive Beeinträchtigungen heute sowohl klinisch als auch neuropathologisch gesichert. Im englischen Sprachgebrauch wird dieses Krankheitsbild unter dem Begriff primäre Lateralsklerose („primary lateral sclerosis“) zusammengefasst. Sie kann klinisch zuverlässig von der HSP abgegrenzt werden.
Klinik
Dabei kann bei einigen Individuen mit leicht ausgeprägter Symptomatik die wiederholte klinische Untersuchung wichtig werden, um durch Dokumentation der Progression eine spastische Diplegie aufgrund einer perinatalen Schädigung differenzialdiagnostisch auszuschließen.
Folgende Laboruntersuchungen können aus differenzialdiagnostischen Erwägungen durchgeführt werden:
-
-
-
MRT,
Lumbalpunktion, ggf. HTLV-1(humanes T-lymphtrophes Virus 1)-Aquaporin4-, oder MOG-Antikörper.
Die abschließende klinische Diagnose sollte den Erbgang sowie die akzessorischen Syndrome miteinschließen.
Differenzialdiagnostisch beachtet werden müssen die Zerebralparesen, eine Kompression des Rückenmarks durch Tumoren oder Bandscheibenvorfälle, die
Syringomyelie sowie die Neurolues und die Myelopathie bei B
12-Mangel. Selten können MS oder NMOSD differenzialdiagnostische Probleme bereiten; die MRT, die Serum- und die Liquoruntersuchung sind entscheidend. Die HTLV-1-assoziierte
tropische spastische Paraparese kann aufgrund der Anamnese vermutet und serologisch und durch Liquoruntersuchungen abgegrenzt werden. Interessanterweise bieten metabolisch-toxische Erkrankungen wie der vornehmlich in Ostafrika beobachtete
Neurocassavaismus („Konzo“) und der in Äthiopien und dem indischen Subkontinent endemische menschliche
Neurolathyrismus ein identisches klinisches Bild. Es ist daher eine interessante Frage, ob die heute wahrscheinlichen Ursachen dieser Erkrankungen in Relation zum molekularen Defekt bei der HSP stehen. Beim Neurocassavaismus
wird ein Glykosid, das an das Glukosemolekül
Cyanid gebunden ist, beim Neurolathyrismus
die exzitatorische Aminosäure β-oxalyl-N-amino-L-Alanin (BOAA) verdächtigt. Sehr schwierig kann die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu den Folgen perinataler
Hypoxie („spastische Diplegie“) werden, falls das klinische Syndrom bereits in den ersten Lebensjahren auftritt. Das Problem potenziert sich, wenn eine eindeutige Familienanamnese oder eine sichere Dokumentation der perinatalen Problematik fehlen.
Eine Abgrenzung hereditärer spastischer Paraparesen zu metabolischen Erkrankungen ist insbesondere bei einer positiven Familienanamnese und hier wiederum besonders bei Hinweisen auf einen rezessiven oder X-chromosomalen Erbgang eine Notwendigkeit (Depienne et al.
2007). Die wichtigste Differenzialdiagnose ist die klinische Abgrenzung von der
Dopa-empfindlichen Dystonie (Segawa-Syndrom), die im Initialstadium einer hereditären spastischen Paraparese ähneln kann. Die Erkrankung wird ebenfalls autosomal-dominant vererbt und wird therapeutisch überzeugend durch kleine Dosen von L-Dopa beeinflusst. Bei jeder unklaren Gangstörung oder Sturzneigung – insbesondere im Kindesalter – sollte diese Differenzialdiagnose beachtet werden. Es ist ebenfalls von erheblicher Bedeutung, differenzialdiagnostisch die X-chromosomal vererbte
Adrenoleukodystrophie und ihre spinale Form, die
Adrenomyeloneuropathie, zu beachten. Die wichtigste biochemische Auffälligkeit ist bei diesem Krankheitsbild die Akkumulation sehr langkettiger
Fettsäuren in der weißen Substanz des ZNS, in der Nebennierenrinde und im Hoden, da der peroxisomale Abbau dieser Fettsäuren beeinträchtigt ist. Die Erkrankung kann daher durch den Nachweis erhöhter Spiegel langkettiger Fettsäuren im
Plasma abgegrenzt werden; darüber hinaus können Untersuchungen in Fibroblasten oder
Erythrozyten durchgeführt werden. Eine Erhöhung der Spiegel langkettiger Fettsäuren ist als definitiver diagnostischer Beweis zu werten. Nur 60 % der Patienten mit Adrenomyeloneuropathie weisen auch eine
Nebennierenrindeninsuffizienz auf, bei 40 % lassen sich mit der Kernspintomografie Veränderungen der zerebralen weißen Substanz nachweisen. Auch – heterozygote – Frauen können das klinische Bild einer meist milden spastischen Paraparese entwickeln. Die Abgrenzung dieser Gruppe von Patienten mit Adrenomyeloneuropathien wird zunehmend wichtiger, da es sich mehr und mehr um eine beeinflussbare Erkrankung zu handeln scheint.
An das Vorliegen eines anderen – seltenen – metabolischen Defekts muss beim klinischen Bild einer spastischen Paraparese immer dann gedacht werden, wenn ein autosomal-rezessiver Erbgang vorzuliegen scheint, eher eine Tetraparese als eine Paraparese imponiert oder wenn das klassische klinische Bild durch eine mentale Retardierung oder demenzielle Entwicklung oder eine Ataxie kompliziert wird. Zu den differenzialdiagnostisch bedeutsamen Hilfsuntersuchungen können das MRT, die Untersuchung von somatosensorisch und
motorisch evozierten Potenzialen sowie verschiedene biochemische Untersuchungen (langkettige
Fettsäuren, Arylsulfatase, Galaktozerebrosidase,
Laktat,
Pyruvat,
Lipoproteine,
Vitamin E), in seltenen Fällen auch die Liquoruntersuchung und die
spinale Angiografie (Durafistel) gehören. Die elektrophysiologischen Untersuchungen des peripheren Nervensystems ergeben in der Regel Normalbefunde. Die Ergebnisse der Untersuchung somatosensorisch evozierter Potenziale weisen auf die Präsenz einer zentralen distalen Axonopathie hin; so ist die Amplitude der kortikalen P-40-Antwort nach Tibialisstimulation bei normaler Latenz reduziert. Konsistent mit diesem Befund ist die insbesondere bei schwerer Betroffenen nachweisbare Reduktion der Amplitude der N 13 nach Medianusstimulation. Die Untersuchung der kortikospinalen Latenz nach
magnetischer Kortexstimulation ergibt an den – klinisch ja meist nicht betroffenen oberen Extremitäten – in der Regel einen Normalbefund; an den unteren Extremitäten kann das Potenzial ausgefallen, seine Amplitude reduziert oder – in selteneren Fällen – die Latenz verlängert sein.
Spinale Muskelatrophien
Die progressiven
spinalen Muskelatrophien sind eine klinisch heterogene Gruppe von Erkrankungen, die als Folge eines selektiven Untergangs motorischer Vorderhornzellen und der motorischen Kerngebiete des Hirnstamms auftreten. In diesem Abschnitt wird eine Einteilung nach traditionellen Kriterien vorgenommen, ohne dass auf Querverweise auf den derzeitigen Stand der genetischen Diagnostik verzichtet werden soll (Lefevbre et al.
1995; Zerres et al.
1993). Zur Funktion der Genprodukte ist derzeit wenig bekannt.
Es werden proximale
spinale Muskelatrophien von den distalen Formen unterschieden (Osawa und Shisihikura
1991; Zerres et al.
1993). In die erste Gruppe gehört die akute infantile Form Werdnig-Hoffmann (SMA Typ 1), die chronisch infantile Form (SMA Typ 2, intermediärer Typ), die juvenile Form vom Typ Kugelberg-Welander (SMA Typ 3) und die adulte Form (Typ 4). Diese Erkrankungen zeigen einen autosomal-rezessiven Erbgang und müssen von den wesentlich selteneren Formen mit dominantem Erbgang unterschieden werden. Ein besonderes klinisches Verteilungsmuster zeigen die verschiedenen erblichen Formen der progressiven Bulbärparalysen sowie die juvenilen skapuloperonealen und fazioskapulohumeralen Formen. Auch der sporadisch auftretende distale Typ Hirayama gehört aufgrund des selektiven Befalls der distalen Armmuskulatur zu den Erkrankungen mit einem spezifischen Verteilungsmuster. Als wichtige Variante wird die neurogene Form der Arthrogryposis multiplex angesehen. Das Kennedy-Syndrom (spinobulbäre Muskelatrophie, SBMA) unterscheidet sich von den erstgenannten Erkrankungen aufgrund des X-chromosomalen Erbgangs.
Proximale spinale Muskelatrophien
Leitsymptome
Distale spinale Muskelatrophien
Die distalen Formen der
spinalen Muskelatrophien haben etwa einen 10 %igen Anteil an der Gesamtzahl der
spinalen Muskelatrophien. Es treten sporadische Formen, autosomal-dominant und autosomal-rezessiv vererbte Formen auf. Alle diese Erkrankungen haben in der Regel einen gutartigen Verlauf, obgleich ihre nosologische Zuordnung nicht unumstritten und im Fluss ist. Prinzipiell müssen unterschieden werden
Spinale Muskelatrophien mit spezifischem Verteilungsmuster
Progressive Bulbärparalyse
Die progressive Bulbärparalyse des Kindesalters (Fazio-Londe-Syndrom) ist eine sehr seltene Erkrankung, die im Alter von 2–4 Jahren auftritt. Der Verlauf ist progredient, betroffen sind die kaudalen Hirnnerven, und im Mittelpunkt des Syndroms stehen Schwächen und Paresen der Kau- und mimischen Muskulatur, Dysarthrie und Dysphagie. Auch eine Ptose ist beschrieben worden, und die Kerngebiete des N. oculomotorius und des N. abducens scheinen auch befallen zu sein. Allerdings lassen die geringen Fallzahlen einige Fragen offen; so begann die Erkrankung bei der erstbeschriebenen Patientin im Alter von 18 Jahren, es ist unbekannt, wie häufig der angenommene autosomal-dominante Erbgang wirklich auftritt und inwieweit sporadische Bulbärparalysen des Kindesalters dieser Krankheitsgruppe hinzugerechnet worden sind. Verwandt scheint das ebenso seltene Vialetto-van-Laere-Syndrom zu sein, das einerseits klinische Ähnlichkeiten aufweist, sich andererseits durch seinen deutlich längeren Verlauf und durch eine Beteiligung des Hörnervs und des Labyrinths unterscheidet. Die beschriebenen Patienten mit Fazio-Londe-Syndrom starben innerhalb von 1–2 Jahren an der Erkrankung, während das Vialetto-van-Laere-Syndrom chronisch über Jahrzehnte verläuft.
Skapuloperoneale und verwandte Formen
Die seltene skapuloperoneale Form der spinalen Muskelatrophie wird autosomal-dominant vererbt, beginnt zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr mit einer Zehen- und Fußheberschwäche, um sich dann auf die Schultergürtelmuskulatur auszubreiten. Selten sind auch andere Muskelgruppen, insbesondere die proximale Muskulatur der unteren Extremitäten, im Verlauf betroffen. Die Muskeleigenreflexe sind schwach oder nicht auslösbar, und die Lebenserwartung ist nicht reduziert. Faszikulationen werden beobachtet. In der Literatur wird über schwierig zu interpretierende elektromyografische Befunde berichtet, die nicht immer eine Zuordnung zu einer neurogenen oder myogenen Läsion zulassen. Ob die fazioskapulohumeralen Formen der SMA eine eigenständige Entität darstellen oder dem skapuloperonealen Typ zuzuordnen sind, müssen Untersuchungen der Zukunft zeigen.
Der Typ Vulpian-Bernhard gehört heute in die Nähe der aggressiveren Formen der Motoneuronerkrankungen. Es handelt sich um eine Subform der ALS (Ludolph et al.
2015) und wird nach Henry Gowers auch als „flail arm syndrome“ bezeichnet (Hübers et al.
2016). Nach einem Beginn mit einem Schwerpunkt des Krankheitsprozesses im Bereich der Schultern ist praktisch immer eine Generalisierungstendenz zu beobachten allerdings ist die Lebenserwartung bei vielen Patienten mit etwa 10 Jahren besser als bei der ALS (siehe auch Kap. „Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)“. Sie wird häufig mit der sehr seltenen
multifokalen motorischen Neuropathie (MMN) verwechselt und zu Unrecht mit
Immunglobulinen behandelt (Hübers et al.
2016).
Distale segmentale Form (Typ Hirayama)
Der Typ Hirayama
der
spinalen Muskelatrophien (auch: benigne monomelische Amyotrophie
) tritt v. a. bei jungen Männern sporadisch im Alter von 15–30 Jahren auf und ist durch eine
asymmetrische Atrophie und Schwäche der kleinen Handmuskulatur charakterisiert (Hirayama
1991). Die meisten Patienten sind in Asien, insbesondere Ceylon und Japan gesehen worden, selten ist über familiäres Auftreten berichtet worden. In der Regel ist die Erkrankung zunächst über 2–3 Jahre langsam progredient, um dann zum Stillstand zu kommen. Die Patienten berichten über eine
Kälteempfindlichkeit; Sensibilitätsstörungen oder Reflexanomalien treten nicht auf. Die Diagnose erfordert eine längerfristige Beobachtung des Patienten. Inwieweit diese distale Form der SMA von der im deutschen Sprachraum häufig diagnostizierten
Duchenne-Aran-Erkrankung abgegrenzt werden kann, müssen zukünftige molekulare Untersuchungen zeigen. Eine gesonderte Einteilung ist derzeit berechtigt, da der Erstbeschreiber eine lokale Kompression des unteren Zervikalmarks als spezifische Pathogenese diskutiert; der Autor hat allerdings eine solche Kompression nie beobachten können.
Spinobulbäre Form der spinalen Muskelatrophie (Kennedy-Syndrom)
Das Kennedy-Syndrom gehört wie die Huntington-Krankheit oder die myotone Dystrophie zu den Trinukleotiderkrankungen. Ursache der Erkrankung ist ein verlängertes CAG-Trinukleotidrepeat auf dem X-Chromosom im Androgenrezeptor. Allerdings ist der kausale Zusammenhang zur selektiven Vulnerabilität von Motoneuronen unklar, da eine Ausschaltung des Androgenrezeptors nicht zu einer Vorderhornerkrankung, sondern zur testikulären Feminisierung führt. Daher muss der Mechanismus, der mit der Funktionsänderung des Genprodukts einhergeht, derzeit noch offen bleiben.
Aufgrund des X-chromosomalen Erbgangs sind Männer von der Erkrankung befallen. Der Beginn der Erkrankung ist Schwankungen unterworfen, in der Regel beginnt sie um das 20. Lebensjahr mit einer
Gynäkomastie,
belastungsabhängigen Muskelkrämpfen,
Faszikulationen und einem
Haltetremor. Ein bis zwei Dekaden später bemerkt der Patient dann die ersten Paresen, die bevorzugt die proximalen Extremitäten und die bulbäre Muskulatur betreffen. Die Entwicklung der Paresen verläuft dann
langsam über Dekaden progredient, eine Dysarthrie oder Dysphagie kann hinzukommen. Die Lebenserwartung ist in der Regel nicht herabgesetzt. Die Mehrzahl der Patienten hat eine
Gynäkomastie; ein
Diabetes mellitus und eine
Hodenatrophie sind nicht selten, und eine reduzierte Fertilität kann beobachtet werden. Neurophysiologische Untersuchungen können im
EMG sowohl
neurogene als auch
myogene Veränderungen zeigen; die
sensiblen Nervenaktionspotenziale fehlen. Die
Kreatinkinase ist deutlich erhöht. Wie bei anderen Trinukleotiderkrankungen scheint es eine Korrelation zwischen Ausmaß der Trinukleotidverlängerung sowie Schwere und Beginn der klinischen Symptomatik zu geben (Rosenbohm et al.
2018). Es handelt sich um eine systemische Erkrankung, die nicht nur die Vorderhornzellen, sondern auch den Muskel, den Lipidstoffwechsel, den Hormonhaushalt und sogar das Herz („Brugada-Syndrom“) betrifft (Rosenbohm et al.
2018).
Arthrogryposis multiplex congenital
Erwähnenswert erscheint die
kongenitale Form der Arthrogryposis multiplex, die durch Kontrakturen und Zeichen der Vorderhornerkrankung wie Hypotonie und Areflexie gekennzeichnet ist und in der Regel
innerhalb von 3 Monaten letal verläuft. Das Gen für eine X-chromosomal vererbte Form dieser spinalen Muskelatrophie liegt auf
Chromosom Xp11.3–q11.2.
Postpoliosyndrom
Nachdem in den 1950er-Jahren ein Impfstoff entwickelt und eingesetzt wurde, sind Neuerkrankungen von
Poliomyelitis in den westlichen Industrienationen in kürzester Zeit verschwunden. Allerdings ist es noch nicht gelungen, die globale Eliminierung dieses Krankheitsbilds zu erreichen (Ludolph
2009). Die akute Poliomyelitis
verläuft biphasisch: Nach einer ersten Phase mit
Fieber,
Kopfschmerzen und gastrointestinaler Symptomatik entwickeln sich einige Tage später aufgrund des Untergangs spinaler und bulbärer Motoneurone in wechselndem Ausmaß Paresen. In der Folgezeit wird dann eine leichte Besserung der Symptomatik, die auf Regenerationsvorgänge durch Aussprossen verbliebener motorischer Axone zurückgeführt wird, beobachtet. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten verbleibt das Krankheitsbild dann über Jahrzehnte in einem stationären Defektzustand. Anfang der 1970er-Jahre wurde erstmals berichtet, dass eine Anzahl von Poliomyelitispatienten im höherem Alter – Jahrzehnte nach der Erstsymptomatik – eine Verschlechterung ihrer Symptomatik beobachteten.
Heute müssen zwei Syndrome streng unterschieden werden (Munsat
1991; Halstead und Grimby
1995):
2.
die progressive Muskelatrophie nach Polioinfektion („postpolio progressive muscular atrophy“).
Die erstgenannte Erkrankung ist häufig und scheint etwa 60–70 % aller Patienten zu befallen, die an
Residuen einer akuten Kinderlähmung (
Poliomyelitis) leiden. Die zweite Komplikation hingegen ist sehr selten und besteht klinisch aus einer langsamen, schmerzlosen Verschlechterung vorbestehender – meist schwerer – Paresen Jahrzehnte nach der Erstsymptomatik. Es wird kontrovers diskutiert, ob die Ursache der Erkrankung aus einem Alterungsprozess eines durch die Erkrankung maximal belasteten Pools von Motoneuronen besteht. Ein – nicht ausreichendes – Argument für das Bestehen dieser Erkrankung ist der Nachweis typischer (nicht niedrigamplitudiger) Fibrillationspotenziale im befallenen Muskel.
Die Symptomatik des weitaus häufigeren
Postpoliosyndroms ist unspezifischer. Die Patienten klagen über – auch wenig lokalisierbare – Schmerzen, Schwächegefühl und Erschöpfbarkeit („Fatigue“).
Es scheint so, dass diese Gruppe von Symptomen etwa 70 % derjenigen Patienten befällt, die eine Polioinfektion überlebt haben. Um diese vergleichsweise unspezifische Symptomatik diagnostisch zu bewerten, sind einige systematische Schritte notwendig:
1.
Es muss versucht werden, zu belegen, dass der Patient tatsächlich an einer
Poliomyelitis erkrankt war. Dies heißt, dass der Patient an einer fieberhaften Erkrankung mit Nackensteife oder einem lumbalen Schmerzsyndrom gelitten haben muss, die – wenn der Liquor untersucht wurde – mit einer milden Zellzahl- und Eiweißerhöhung im Liquor einhergegangen ist. Für die Diskussion der Diagnose eines
Postpoliosyndroms ist es essenziell, dass im Rahmen einer solchen Erkrankung auch tatsächlich Paresen aufgetreten sind. Ist dies nicht der Fall gewesen (wie bei etwa 50–75 % aller Poliopatienten), kann die Diagnose Postpoliosyndrom nicht gestellt werden.
2.
Sind die genannten Beschwerden mit der Vorgeschichte einer paralytischen Poliomyelitis assoziiert, dann müssen häufig komplizierte differenzialdiagnostische Überlegungen angestellt werden. Diese beziehen sich v. a. auf drei Gruppen von Erkrankungen, die beim individuellen Patienten einen mehr oder weniger deutlichen Bezug zur Grunderkrankung aufweisen können:
-
Nervenkompressionssyndrome, die in allen Bereichen des peripheren Nervensystems auftreten können. Dabei muss sowohl an „traditionelle“ Engpasssyndrome wie das
Sulcus-ulnaris-Syndrom, aber auch an mehr krankheitsspezifische Komplikationen wie eine
Kompression des N. peroneus im Kniebereich beim Einsatz orthopädischer
Hilfsmittel gedacht werden. Sekundäre
Skoliosen können zu
Wurzelreizsyndromen mit ihren typischen Ausfallsmustern führen.
-
Das sog. „Fatigue-Syndrom
“. Bei Patienten, die in der Folge einer Polio an einer unspezifischen vermehrten Erschöpfbarkeit leiden, muss besonders an die folgenden Ursachen gedacht werden: Einerseits kann eine Depression, andererseits auch ein Schlafapnoesyndrom die Symptomatik verursachen. Bei Letzterem sind als zusätzliche Symptome
Schlafstörungen,
Schnarchen, morgendlicher Kopfschmerz und Abgeschlagenheit am Tage bis hin zu vermehrtem Tagesschlaf zu erfragen. Der nächtliche Gebrauch von
Hypnotika kann die Symptomatik aus der Latenz heben.
-
Insbesondere wenn eine lokalisierte Schmerzsymptomatik besteht, muss auch an das Vorliegen orthopädischer Komplikationen gedacht werden. So führt die jahrzehntelange Instabilisierung des Kniegelenks durch Paresen benachbarter Muskelgruppen im Alter nicht selten zu einer vorzeitigen Gonarthrose mit der entsprechenden Schmerzsymptomatik; ähnliche Probleme können auch im Bereich anderer Gelenke, auch an der Wirbelsäule, auftreten. Für fast alle genannten Komplikationen, die im Rahmen eines Postpoliosyndroms auftreten können, ist ein Gewichtszuwachs im Rahmen der Immobilisierung ein zusätzlicher Risikofaktor.
Zusammengefasst ist das Auftreten von Spätschäden nach gesicherter paralytischer Polio keine Seltenheit; die häufig unspezifisch anmutenden Beschwerden sind jedoch nicht primär als schicksalhaft hinzunehmen, sondern bedürfen vielmehr einer sorgfältigen differenzialdiagnostischen Abklärung mit einem multidisziplinären Ansatz (Windebank et al.
1996).