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Die Anästhesiologie
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Publiziert am: 30.11.2017

Anästhesie macht Geschichte

Verfasst von: Sabine Diwo
Einen Überblick über die Geschichte der Anästhesiologie seit der Antike gibt dieses Kapitel.
Anhaltspunkte für die Intention Schmerzen zu lindern finden sich in der europäischen Geschichte schon viele Jahrhunderte vor Christi Geburt. Bereits Hippokrates (um 460–370 v. Chr.) suchte Mittel und Wege, um sich dem schrecklichen Übel „Schmerz“ nicht widerstandslos zu beugen. In der Antike kannten und nutzten Griechen wie auch Römer u. a. die Opioidwirkung der Mohnblume. Unterschiedlichste Substanzen und Maßnahmen dienten seither der Schmerzlinderung.
Ab dem Mittelalter begannen in Europa die Menschen Krankheiten heilen zu wollen, indem sie „chirurgisch“ tätig wurden. Oft genug wäre ohne diese Tätigkeit eines Barbiers bzw. Baders oder später eines „schneidenden“ Arztes das Leben des Patienten rasch beendet gewesen. Steinleiden und Amputationen sind frühe Beispiele hierfür. In der Hoffnung auf Heilung akzeptierten die Kranken dabei auch größere Schmerzen. Dieser dann häufig sehr starke nozizeptive Reiz ließ sich allerdings selbst unter Zuhilfenahme gängiger Mittel wie Beißkeil, alkoholischer Getränke oder beruhigender Kräuter nur schwer überstehen. Nicht selten erwiesen sich Kollaps und Ohnmachtsanfall als gnädige Erlösung. In einigen Gegenden waren kompetente Kräuterkundige und Giftmischer daher sehr gefragt und angesehen. Theodoric von Lucca (ital. Arzt und Bischof, verstorben 1298) entwickelte zum Zwecke chirurgischer Schmerzminderung Schwämme, die mit Opium und „Mandragora“ getränkt waren. Bis ins späte Mittelalter galten pflanzliche Alkaloide, Alkohol und – wenn verfügbar – das Kauen von Coca-Blättern als die einzige Möglichkeit, Schmerzen während eines schneidenden Eingriffs zu dämpfen. Charles Darwin schreibt in seiner Biographie von Eingriffen bei 2 Kindern, die so unendlich schrecklich waren, dass er sich abwenden musste. Amputationen wurden möglichst noch „im Wundschock“ vorgenommen, weil sie so weniger schmerzhaft durchzuführen waren.
Die Entwicklung der Äthernarkose Mitte des 19. Jahrhunderts hat dem Fortschritt in der Chirurgie die Pforten weit geöffnet: Operationen konnten nun schmerzlos und damit in weit größerem Umfang erfolgen. Im Zusammenspiel mit dem neu gewonnenen Bewusstsein für Antisepsis stieg die Anzahl der Heilerfolge durch chirurgische Eingriffe steil an, was nicht nur sozioökonomische sondern auch kulturelle Auswirkungen zeigte. So wurden Schmerzen bei einer Operation zunehmend nicht mehr als schicksalhaft und Gott gewollt ertragen, sondern als Feind angesehen gegen den es Mittel und Möglichkeiten gab.
Anfangs waren Chirurgen selbst oder ihre Helfer noch für die Narkose zuständig. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts konnte sich die „Anästhesie“ als eigenständige Disziplin etablieren. Die ersten Ärzte dieser neuen Fachrichtung stammten folgerichtig aus den Reihen der Chirurgen. Im Jahre 1953 wurde sowohl der Facharzt für Anästhesie eingeführt als auch die Deutsche Gesellschaft für Anästhesie DGAI gegründet.
Parallel zur Entwicklung der pharmakologischen Errungenschaften verlief auch die der technischen wie Intubation, Beatmung und Monitoring. Fortschritte in der industriellen Fertigung ermöglichten die Herstellung feinster Kanülen und Katheter, mit denen neue Verfahren ermöglicht wurden. Sensoren und digitale Schnittstellen optimieren im 21. Jahrhundert die Steuerung durch Vernetzung von Geräten und Datenverarbeitung bzw. die Datenspeicherung.
Heutzutage zählen anästhesiologische Kliniken zu den mitarbeiterstärksten Abteilungen in universitären Krankenhäusern. Ihrer Forschung und Entwicklungsarbeit ist es zu verdanken, dass immer mehr betagte und schwerkranke Patienten operiert werden können. Das Risiko an einer Narkose zu versterben ist heute kaum größer als das eines Flugzeugabsturzes.
Eine detaillierte Tabelle historischer Eckdaten zur Anästhesie findet sich in Tab. 1
Tab. 1
Historische Eckdaten zur Anästhesie
Jahr
Personen
Substanzen
Methode/Apparatur/Anatomie
Antike bis spätes Mittelalter
Griechen und Römer
Opium
Pflanzl. Alkaloide, Alkohol
Aus Mohnblumen
Kauen von Coca-Blättern, lokale Kompression oder Kühlung
1298
Theodoric of Lucca und Mandragora
Opium
„Einschläfernde Schwämme“
16. Jht.
Paracelsus
 
Inflator zur Beatmung bei Wiederbelebung
1543
Andreas Vesalius (belg. Anatom)
 
1628
William Harvey
 
Entdeckt den Blutkreislauf
1772
Joseph Priestly
Lachgas
Synthese
1788
Charles Kite
 
Entwicklung flexibler Trachealtuben
1791
James Curry
 
Entwicklung flexibler Trachealtuben
1825
Charles Waterton
Curare
Herstellungsbeschreibung Tierversuche mit Relaxation und Beatmung
1831
Justus von Liebig
Chloroform
Entdeckung
1842
Crawford W. Long
Äther
Erste aber unveröffentlichte Anwendung bei einer Tumorentfernung
1843
Horace (Boston) Wells
Lachgas
Erster und erfolgloser Versuch einer Lachgasanästhesie zur Zahnextraktion
1846
William T.G. Morton
Äther
16. Oktober – Erste erfolgreiche Äthernarkose
1846
Oliver Wendell Holmes
 
„anaesthesia“ als Begriff für den hervorgerufenen bewusstlosen Zustand
1847
James Y. Simpson
Chloroform
Beginn der „schmerzfreien Geburt“
1847
Joh. Ferdinand Heyfelder
Äther
Erste Äthernarkose in Deutschland
1848
 
Chloroform
Erster dokumentierter Todesfall
1853
John Snow
Chloroform
Geburtshilfliche Anästhesie der Queen Victoria
1860
Albert Niemann
Cocain
Reindarstellung des Hauptalkaloides der Coca-Pflanze
1862
Felix Hoppe-Seyler
 
Isolieren von Hämoglobin
1869
Friedrich Trendelenburg
 
Erster geblockter Trachealtubus
1872
P. Cyprien Oré
Erste intravenöse Narkosetechnik
1875
  
Druckgas-Technologie:Transport u. Anwendung von O2, Narkosegasmischung und Sauerstoffgabe
1884
Carl Koller
Cocain
Zur Lokalanästhesie der Cornea
1888
W. S. Halsted Maximilian Oberst
 
Erste Leitungsanästhesie
1890
Curt Schimmelbusch Friedrich von Esmarch
Äther
Masken zur Ätherapplikation
1891
Heinrich Quincke
 
Erste Lumbalpunktion (zu diagnost. Zwecken)
1896
Scipione Riva-Rocci
 
Blutdruckmessgerät mittels Kompression und Manometer
1898
August Bier
Cocain
Spinalanästhesie mit Cocain 0,5%
1908
 
Novocain
Erste i.v.-Regionalanästhesie
1902
Otto Roth
Johann Heinrich Dräger
Chloroform
Erstes in Deutschland patentiertes Narkosegerät (Roth-Dräger)
1903
Emil Fischer Joseph von Mering
Veronal
Erstes Barbitursäure-Derivat (Vorläufer von Evipan etc.)
1905
Alfred Einhorn
Procain
Synthese
1905
Wilhelm Braun
Procain
Zur Spinalanästhesie
1911
Franz Kuhn
 
Einführung der „peroralen Intubation“; Entwicklung unterschiedlicher Techniken und Tuben
1911
Georg Hirschel Dietrich Kuhlenkampff
 
Perkutane Punktion des Plexus axillaris, Supraclavikulärer Zugang zum Plexus axillaris
1920
Arthur Guedel
Äther
Narkosestadieneinteilung
1925
Paul Sudeck /Helmut Schmidt
O 2 /N 2 O
Modell A, Lachgas-Narkosegerät mit Kreisteil (Dräger)
1932
Hellmut Weese
Evipan
Einführung in die Anästhesie
1933
 
Hexobarbital
Einführung in die Anästhesie
1935
 
Thiopental
Einführung in die Anästhesie
1938
 
Meperidin
Erstes synthetisches Opioid
1942
Griffith
Johnson
Tubocurare
Erste Anwendung zur Appendektomie unter Cyclopropan-Narkose
1944
Edward Tuohy
 
Erste kontinuierliche Katheterspinalanästhesie mittels Tuohy-Kanüle
1948
Raymond P. Alquist
 
Adrenorezeptoren-Einteilung
1951
  
Engström Universal-Ventilator, Gasfluss bis 360 l/min: max Pinsp 70cmH2O
1951
S. C. Cullen /E. G. Gross
Xenon
Erste Beschreibung der Wirkung beim Menschen
1952
Francis F. Foldes
 
Erste Beschreibung der Low-flow-Anästhesie
1953
Facharzt für Anästhesie
 
Aufnahme in die Ärztliche Berufsordnung
1953
Gründung der DGAI (10. April)
 
Dt. Ges. für Anästhesie und Intensivmedizin
1956
B.H. Johnstone
Halothan
Erste klinische Anwendung
1957
W. Kalow/K. Genest
 
Dibucain-Test
1959
Joris De Castro/Paul Mundeleer
 
Klassische Neuroleptanästhesie
1960
M.A. Denborough/R.R.H. Lowell
 
Maligne Hyperthermie als eigenständiges Krankheitsbild
1960
J.F. Artusio
Methoxyfluran
Halogenierter Äther, erste klinische Anwendung
1961
Gründung des BDA
 
Berufsverband dt. Anästhesisten
1961
 
Fentanyl
Klinische Einführung
1963
 
Bupivacain
Klinische Einführung
1965
E. F. Domino /G. Corssen
Erste Publikation klinischer Erfahrungen
1970
Swan/Ganz
 
Invasive kardiale Druckmessung, Pulmonalis-Katheter
1971–72
S. G.Olsson S. Ingelstedt
 
Optimierte Kontrolle (und Steuerung) der Beatmung; Servo Ventilator 900 (Siemens)
1973
Candace B. Pert Solomon H. Snyder
Opioidrezeptoren identifiziert
1974
R. W. Virtue/H. J. Lowe
 
Erste Beschreibung der Minimal-flow-Anästhesie
1978
P. La Grange
Ultraschall zur Nervenblockade
1979
H. R. Snyder (Synthese 1967) Gaisford Harrison (Anwendung)
Dantrolen
1981
 
Midazolam
Beginn klinischer Erfahrungen
1983
 
Midazolam
Klinische Einführung: Sedierung u. Anxiolyse präoperativ
1983
Archie Brain
 
Larynxmaske
1985
 
Propofol
Klinische Erfahrungen
1984–88
Wolfgang Friesdorf
 
Erster integrierter ergonomisch gestalteter Narkosearbeitsplatz (Narkosegerät Cicero, Fa. Dräger)
1990
 
Sevofluran
Erstzulassung in Japan (1995 in Deutschland)
1991
 
Desfluran
Erstzulassung in den USA
1993
Warren G. Sanborn
 
„microprocessor based mechanical Ventilation“ (Puritan-Bennett)
1996
 
Remifentanil
Klinische Einführung in Deutschland
2000
Horst Stoeckel
 
Bonn: Eröffnung des Anästhesie-Museums
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