Einleitung
Essstörungen sind vor allem in westlichen Industrieländern verbreitete psychische Erkrankungen, die besonders (aber nicht ausschließlich) junge Erwachsene betreffen [
1]. Die gängigste Form ist dabei die sogenannte Magersucht (Anorexia nervosa), gefolgt von Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) und der Binge-Eating-Störung (wiederkehrende Essanfälle). Auch wenn es unterschiedliche Zahlen zur Prävalenz der Erkrankungen gibt, so deutet besonders die vergleichsweise hohe Mortalitätsrate insbesondere von Magersucht (laut einer Metaanalyse von 1998 die höchste unter allen psychischen Erkrankungen, vgl. [
2]) auf die Notwendigkeit hin, sich gesellschaftlich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Allerdings gelten psychische Erkrankungen nach wie vor als Thema, über das nicht gerne öffentlich gesprochen wird; Betroffene fühlen sich stigmatisiert und fürchten um ihr gesellschaftliches Ansehen und als Grund hierfür wird oft die negative und stereotype Darstellung solcher Krankheiten in den Medien genannt [
3,
4]. Erstaunlicherweise gibt es aber wenig empirische Befunde, wie und in welchem Umfang Essstörungen oder andere psychische Erkrankungen in den Medien dargestellt werden. Die Medien wurden bisher fast ausschließlich als möglicher Auslöser von Essstörungen in den Blick genommen: Die überwiegend experimentell ausgerichtete Forschung untersuchte dabei, wie sich idealisierte Körperdarstellungen in den Medien auf das Körperbild junger Rezipientinnen auswirken. Obwohl die Befundlage heterogen ist, überwiegen Studien, die negative Effekte zeigen (für einen Überblick siehe [
5]).
Dabei ist die Rolle von Medien im Rahmen von psychischen Erkrankungen im Allgemeinen und bei Essstörungen im Speziellen deutlich komplexer. Zunächst können Medien tatsächlich, als ein Faktor in einem komplexen Geflecht von genetischen, sozialen und familiären Bedingungen, Mitauslöser für ein gestörtes Essverhalten sein. Hier ist also ihre Rolle in der Entstehungsphase der Erkrankung von Bedeutung. Darüber hinaus spielen sie im Verlauf und im Bewältigungsprozess eine Rolle – und zwar sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht: Vor allem Inhalte, die unrealistische Schönheitsideale transportieren, können sich negativ auf den Bewältigungsprozess auswirken – daneben können aber zum Beispiel digitale Angebote, Onlinecommunitys und Aufklärungsformate den Krankheitsverlauf auch positiv beeinflussen. Zuletzt haben gerade massenmediale Inhalte und vor allem auch Unterhaltungsformate einen Einfluss darauf, welches Bild sich die Gesellschaft von der Krankheit selbst und Personen mit Essstörungen macht. Alle 3 Bereiche erscheinen uns in einem Beitrag über den Zusammenhang zwischen Medien und Essstörungen als zentral, sodass wir auf diese Punkte im Folgenden näher eingehen möchten.
Sowohl in den Tiefeninterviews mit Betroffenen [
3] als auch in den Therapeut*innen-Interviews
3 kristallisierte sich heraus, dass Personen mit gestörtem Essverhalten Medien auch häufig nutzen, um sich über die eigene Krankheit zu informieren bzw. Berichte darüber besonders aufmerksam verfolgen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Rolle Essstörungen als Krankheitsbild eigentlich in den Medien spielen. Hier lohnt sich, neben dem Blick auf Gesundheitsinformationen im Internet, schon allein aufgrund der Reichweite die Betrachtung massenmedialer Inhalte. Hier gibt es für den deutschsprachigen Raum nur wenige und vor allem keine aktuellen Befunde; Baumann et al. [
4] konnten in ihrer Inhaltsanalyse der Presselandschaft von 2000 zeigen, dass sich das Thema Essstörung in unterhaltenden Formaten wie Boulevard- und Frauenzeitschriften, aber auch durchaus oft in Qualitätszeitungen wiederfindet. Dabei wird Anorexie deutlich häufiger thematisiert als andere Formen (obwohl die Zahl der an Bulimie erkrankten Menschen für gewöhnlich deutlich höher liegt, [
1]).
Zusätzlich wäre interessant, wie das Thema in anderen Mediengattungen dargestellt und verhandelt wird, etwa in unterhaltenden Formaten wie aktuellen Streamingserien oder Filmen, die von der entsprechenden Zielgruppe stark rezipiert werden. Gerade hier wäre auch das Potenzial für
Entertainment-Education, also die Verknüpfung von Unterhaltung und bildenden Inhalten, besonders hoch [
23,
24].
Neben dem rein quantitativen Umfang ist von Interesse, welches Bild in den Medien von Essstörungen allgemein und speziellen Unterformen (z. B. Magersucht oder Bulimie) gezeichnet wird. Auch wenn für diesen speziellen Bereich kaum Untersuchungen vorliegen, kann aufgrund verwandter Forschung im Bereich Gesundheitskommunikation vermutet werden, dass hier vor allem dramatische und emotionale Einzelfälle Eingang in die Berichterstattung finden [
25]. Das liegt zum einen daran, dass Boulevardzeitungen/-zeitschriften vorrangig prominente oder besonders drastische Fälle aufgreifen und diese dramatisierend ausführen [
4]; zum anderen zeigen aber auch Befunde der Fallbeispielforschung [
26], dass Journalist*innen bei der Schilderung von sozialen Phänomenen/Problemen/Erkrankungen generell gerne auf Einzelfälle zurückgreifen und hierbei besonders dramatische oder emotionale Geschichten bevorzugen [
27‐
29]. Auch Baumann und Kollegen [
4] konnten in ihrer Inhaltsanalyse zeigen, dass Betroffene selbst einen Großteil der dargestellten Akteur*innen in der Berichterstattung ausmachen.
Hier stellt sich die Frage, wie solche Darstellungen dann wiederum auf von Essstörungen betroffene Personen wirken. Aufbauend auf dem „Modell reziproker Effekte für soziale Gruppen“ [
30,
31] und unter Erweiterung durch das Phänomen der Wahrnehmungsverzerrung bei der Medienrezeption [
32] sowie Überlegungen zu sozialen Vergleichsprozessen [
13,
33] möchten wir hier einige empirisch noch zu verifizierende Vermutungen ableiten. Das Modell reziproker Effekte beschäftigt sich mit der Wirkung von Berichterstattung auf die dort dargestellten Personen selbst. Zunächst wurde das Modell in Bezug auf Einzelpersonen entwickelt [
28], später aber auch auf soziale Gruppen wie etwa Migrant*innen oder Rechtsextreme übertragen [
30]. Basierend auf den Annahmen des Modells sowie ausgehend von den oben dargestellten Befunden ist davon auszugehen, dass Betroffene die Berichterstattung intensiver als andere verfolgen. Die bisherige Forschung lässt vermuten, dass erkrankte Personen dabei die mediale Darstellung negativ verzerrt wahrnehmen, und zwar umso stärker, je mehr sie sich mit der Gruppe der Erkrankten insgesamt identifizieren (Hostile-Media-Phänomen; [
34]). Gleichzeitig stellen die Betroffenen Vermutungen an, wie die Darstellung der Krankheit in den Medien auf andere wirkt – je negativer die Darstellung wahrgenommen wird, desto stärkere Effekte werden in der Regel auf andere Rezipient*innen unterstellt [
35,
36]. Darauf basierend führen sie das Verhalten ihres Umfelds ihnen gegenüber auf die mediale Darstellung zurück und richten wiederum ihr eigenes Verhalten an dem wahrgenommenen Einfluss aus [
37].
In der bisherigen Forschung zur wahrgenommenen Medienwirkung auf Dritte wurde vorwiegend die soziale Nähe zu anderen als Einflussvariable untersucht; bei der Untersuchung von psychischen Erkrankungen erscheint eine weitere Unterscheidung notwendig, und zwar zwischen „Eingeweihten“ (also Personen, die von der Erkrankung wissen) und „Nichteingeweihten“. Wird die Darstellung der Erkrankung in den Medien als sehr negativ wahrgenommen, könnte das die Redebereitschaft den Eingeweihten gegenüber erhöhen (um sich zu rechtfertigen), gleichzeitig aber die Bereitschaft senken, sich weiteren Personen zu offenbaren.
Eine Schwäche des Modells zu reziproken Medieneffekten ist, dass es durch den Fokus auf soziale Gruppen Effekte auf das Selbstbild des Individuums weitestgehend ausblendet, diese aber gerade bei psychischen Erkrankungen wie einem essgestörten Verhalten von enormer Bedeutung sind. Wood und Kolleg*innen [
38] konnten schon früh zeigen, dass in den Medien porträtierte, an der gleichen Krankheit leidende Personen wichtige Vergleichsstandards für Betroffene darstellen (unter anderem weil direkter Kontakt mit anderen Erkrankten oft fehlt). Deshalb erscheint es sinnvoll, das Modell um den Forschungsstand zu sozialen Vergleichsprozessen im Rahmen der Mediennutzung zu erweitern [
13]. Demnach gleichen erkrankte Personen die mediale Darstellung der Krankheit mit ihrer eigenen Situation ab und bewerten, ob es ihnen selbst besser, schlechter oder ähnlich geht. Dies kann – je nachdem, ob es zu Assimilations- oder Kontrasteffekten kommt – positive oder negative Folgen haben. Kontrasteffekte kommen zustande, wenn die Lage einer Vergleichsperson nicht erreichbar erscheint [
39]: Aufwärtsvergleiche mit anderen Erkrankten, denen es besser geht, können dann etwa Frustration oder Deprimiertheit auslösen, wohingegen Abwärtsvergleiche mit schlechter gestellten Personen zur Erleichterung über die eigene Situation führen.
4 Letzteres hat zwar dann einen unmittelbaren positiven Effekt auf das Selbstbild, könnte allerdings dazu führen, die Krankheit nicht hinreichend ernst zu nehmen (im Sinne von „so schlecht wie dem/der geht’s mir ja nicht!“, [
13]). Darüber hinaus können Aufwärtsvergleiche mit anderen Betroffenen aber auch motivierend wirken, etwa wenn gezeigt wird, wie die Essstörung erfolgreich überwunden werden kann.
Folgt man diesen Überlegungen, scheint es wichtig, bei der medialen Darstellung von Einzelfällen vor allem auf Erfolgsgeschichten zu achten und positive Vorbilder zu präsentieren. Auf der Ebene der Selbstwahrnehmung kann man so motivierende Aufwärtsvergleiche auslösen, die Erkrankten Hoffnung machen und sie motivieren, gegen die Krankheit anzugehen. Gleichzeitig wird ein positives Bild von Personen mit Essstörungen und ihrem Umgang mit der Krankheit gezeichnet, das sowohl direkte als auch indirekte Wirkung auf die Wahrnehmung des Krankheitsbildes in der Gesellschaft haben kann und Betroffene eher motiviert, offen mit ihrer Problematik umzugehen.
Was auf jeden Fall vermieden werden sollte, ist die Präsentation potenzieller Trigger, um Nachahmung zu verhindern – also über spezielle Magertrends in sozialen Netzwerken zu berichten oder Beispiele für gefährliche Maßnahmen zu nennen, die in Pro-Ana-Foren ausgetauscht werden. Die Problematik solcher Darstellungen wurde bereits verstärkt im Kontext von Depressionen und Suizid thematisiert (und entsprechend auch in journalistischen Ethikrichtlinien verankert), kommt aber bei anderen Formen von psychischen Erkrankungen selten zur Sprache.
Fazit und Diskussion
Medien spielen im Rahmen einer Essstörung eine wichtige Rolle – aus Sicht von Betroffenen, der Therapeut*innen und nicht zuletzt wahrscheinlich auch in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Sie sind potenzielle Mitauslöser für essgestörtes Verhalten, was bereits viele Forschungsergebnisse zeigen. Aber vor allem haben sie auch Einfluss in der Verlaufs- und Bewältigungsphase der Erkrankung, was allerdings in der Forschung bisher nicht stark genug in den Fokus gestellt wurde. Wie unter anderem die Befunde von Baumann [
3] zeigen, werden Medien, neben einer eher passiven Konfrontation, vor allem während des Krankheitsverlaufs auch gezielt genutzt, und zwar sowohl, um die Symptomatik aufrechtzuerhalten (destruktives Medienhandeln), als auch, um die Krankheit zu bewältigen (konstruktives Medienhandeln). Beide Strategien müssen in Bezug auf Ursachen und Folgen noch intensiver erforscht werden, um Betroffene im Krankheitsverlauf zu unterstützen.
Gerade destruktive mediale Trends wie Pro-Ana, aber auch weniger drastische Formen wie ein stark auf Schönheit bzw. Schlanksein ausgerichteter Instagram-Feed oder Casting- und Datingformate im Fernsehen können in Bezug auf ihr Gefährdungspotenzial beschrieben und im Rahmen der Therapie bzw. auch im Kontext von Präventions- bzw. Interventionsprogrammen thematisiert werden. Der Fokus sollte allerdings nicht allein auf der Frage liegen, wie Betroffene mit potenziell problematischen Inhalten umgehen bzw. wie sie diese vermeiden können, sondern welche medialen Inhalte auch gesundheitsfördernd wirken können. Insofern sollte hier sowohl in der Forschung als auch im gesellschaftlichen Diskurs ein Umdenken erfolgen: Neben den problematischen Seiten der Medien sollte auch deren potenzielle positive Rolle betrachtet werden. Die Forschung sollte beleuchten, wie konstruktives Medienhandeln im Rahmen einer Essstörung aussehen und den Erkrankten nahegebracht werden kann. In der therapeutischen Praxis wird dies bereits verstärkt thematisiert
5, Grundlagenforschung dazu fehlt aber noch weitestgehend.
Darüber hinaus scheint es aus einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive wichtig, sich auch mit der Darstellung von Essstörungen in den Medien stärker zu befassen, und zwar sowohl in informierenden als auch in unterhaltenden Formaten. Zum einen kann dies Aufschluss darüber geben, welches (Zerr‑)Bild von der Krankheit in unserer Gesellschaft herrscht. Zum anderen sind erkrankte Personen auch Rezipient*innen solcher Inhalte und wie bisherige Befunde nahelegen, verfolgt gerade diese Gruppe solche Berichte bzw. Darstellungen besonders intensiv.
Wenige Erkenntnisse liegen zur Rolle von Onlineangeboten und sozialen Netzwerken für den Verlauf einer Essstörung vor, hier besteht noch Forschungsbedarf. Wie die Befunde von Lochbihler
6 nahelegen, können solche Angebote sowohl einen positiven als auch negativen Einfluss auf den Krankheitsverlauf nehmen. Die Möglichkeiten sind hier vor allem durch den aktiven Part der Nutzer*innen umfangreich. Gerade soziale Netzwerke können aufgrund der idealisierten Darstellungen von Schönheit eine verstärkende Rolle im Kontext einer Essstörung spielen. Hier ist die Entwicklung von Medienkompetenztrainings für Schulen bzw. von Interventionsprogrammen wichtig, um potenziell negativen Effekten entgegenzuwirken [
40]. Gleichzeitig können sich Erkrankte hier austauschen bzw. durch das Teilen der Erkrankung einen aktiven Umgang damit lernen.
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