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Erschienen in: Ethik in der Medizin 3/2009

01.09.2009 | Originalarbeit

Die Kraft der Konkretion oder: Die Rolle deskriptiver Annahmen für die Anwendung und Kontextsensitivität ethischer Theorie

verfasst von: Dr. Julia Dietrich

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 3/2009

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Zusammenfassung

Der Artikel greift die Überlegung auf, dass sich die Bioethik auch deshalb der empirischen Forschung zuwenden solle, um ihre Anwendbarkeit und Kontextsensitivität zu erhöhen. Am Beispiel der Norm, dass Schmerzen zu lindern seien, und mit Hilfe eines allgemeinen Modells ethischer Urteilsbildung werden verschiedene Bedeutungen der Anwendung und der Kontextsensitivität unterschieden und es wird untersucht, welche Rolle deskriptive Annahmen hierbei jeweils spielen können. Es wird die These vertreten, dass Kontextsensitivität in den meisten ihrer Bedeutungen von fundamentalethischen Grundannahmen unabhängig ist und dass deskriptive Annahmen einen Prozess der Spezifikation ethischer Urteilsbildung auslösen, der in dieser Form nicht von der ethischen Begründung von Normen und Werten aus initiiert und antizipiert werden kann, jedoch zu seinem (zumindest vorübergehenden) handlungsorientierenden Abschluss auf diese zurückverwiesen ist.
Fußnoten
1
Bei den Zitaten in diesem Satz handelt es sich um Übersetzungen aus dem Englischen durch die Autorin.
 
2
Stephen Toulmins Buch „The Uses of Argument“ erschien zuerst 1958. Ich zitiere deutsch nach der Übersetzung von Ulrich Berk [19]. Toulmin hat sein Modell zwar nicht als spezifisch ethisches Argumentationsmodell entwickelt, doch verweist er selbst explizit auf mögliche Anwendungen in so unterschiedlichen Bereichen wie denen „der Ethik, der Mathematik oder der Psychologie“ ([19], S. 94) und eine Übertragung auf ethische Argumentationen ist unschwer möglich. Toulmin kritisierte zwar ursprünglich den praktischen Syllogismus als zu ungenau [19], hat aber später eingeräumt, dass sich sein Modell auf ihn beziehen lässt und dass er sich vor allem gegen eine rein deduktive Interpretation ethischer Argumentation abgrenzen wollte [20].
 
3
Toulmin bezieht modale Operatoren und Ausnahmebedingungen auf das Urteil, während ich sie an die Begründung der Schlussregel, d.h., der präskriptiven Prämisse binde. Die Pointe ist in jedem Fall, dass Einschlägigkeit, Art und Verbindlichkeit von der Spezifität einer Norm oder eines Urteils zu unterscheiden sind.
 
4
Vgl. hierzu Kettners Charakterisierung, dass sich die Angewandte Ethik auf das Einzelne oder zumindest auf das Besondere und die Allgemeine Ethik auf das Allgemeine beziehe ([12], S. 389). Steigleder hebt den Realismus der Fragen Angewandter Ethik hervor: „Die ‚Konkretheit’ angewandter Ethik liegt in der Bezugnahme auf faktische Handlungszusammenhänge bzw. realistische (wenn auch vielleicht noch nicht realisierbare) Handlungsmöglichkeiten“ ([17], S. 242). Ich füge den Merkmalen des „Besonderen“ und des Realismus noch die Merkmale der Zuschreibung und der Kontextualisierung hinzu. Darauf, dass der Begriff der Angewandten Ethik wegen seiner misslichen Konnotationen immer wieder zu Recht hinterfragt wird, kann ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen.
 
5
Krones Ansatz ist uneindeutig, da der Begriff „Kontextsensitive Ethik“ einerseits „keine eigene Ethikrichtung“ beschreiben, andererseits aber eine „Herangehensweise an ethische Konflikte“ kennzeichnen soll, „die auf einer pragmatischen Logik und Ethik aufbaut“ ([13], S. 337).
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Die Kraft der Konkretion oder: Die Rolle deskriptiver Annahmen für die Anwendung und Kontextsensitivität ethischer Theorie
verfasst von
Dr. Julia Dietrich
Publikationsdatum
01.09.2009
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 3/2009
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-009-0022-y

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