Erschienen in:
13.11.2020 | Pflege | Originalien
Polypharmazie als Risiko: eine rechtsmedizinische Untersuchung verstorbener Altenheimbewohner
verfasst von:
PD Dr. S. Gleich, G. Skopp, H. Fels, C. Wiedfeld, F. Mußhoff, M. Graw, B. Schäffer
Erschienen in:
Rechtsmedizin
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Ausgabe 2/2021
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Zusammenfassung
Hintergrund
Pflegebedürftige Menschen werden in Deutschland zu 25 % in Pflegeeinrichtungen versorgt; sie sind überwiegend multimorbid und demenziell erkrankt. Multimorbidität ist Hauptursache einer Polypharmazie. Mit der Zahl verordneter Arzneistoffe steigt die Interaktionswahrscheinlichkeit stark an. Bei Hochbetagten kann es außerdem über den verlangsamten Abbau zur Wirkstoffkumulation mit erhöhten Risiken für unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE) kommen.
Methode
Eingeschlossen wurden in Alten‑/Pflegeheimen verstorbene Bewohner, bei denen kein Verdacht auf eine Medikamentenüberdosierung bestand und die in den Jahren 2013–2015 im Institut für Rechtsmedizin der Universität München obduziert wurden. Chemisch-toxikologische Untersuchungen auf Arznei- und Suchtstoffe erfolgten in einem akkreditierten forensisch-toxikologischen Labor bei Übersichtsanalysen mithilfe der Flüssigkeitschromatographie in Kombination mit hochauflösender Massenspektrometrie, bei Blutproben mithilfe der Flüssigkeitschromatographie-Tandem-Massenspektrometrie. Anhand der mediQ©-Datenbank und den Fachinformationen der Arzneimittelhersteller wurde geprüft, ob Kontraindikationen (KI) für kombinierte Verordnungen bestanden. Abschließend erfolgte ein Abgleich mit vorliegenden aktuellen Medikationsplänen. Die erhobenen Daten wurde deskriptiv mit dem Statistikprogramm SPSS (IBM, Version 23) ausgewertet.
Ergebnisse
In 52 % der Fälle lag eine Polypharmazie vor. Am häufigsten wurden kardiovaskulär wirksame Arzneistoffe und Nichtopioidanalgetika nachgewiesen, gefolgt von Antipsychotika, Antidepressiva, Opioidanalgetika und Hypnotika/Sedativa. Pro Fall wurden durchschnittlich 2 zentral wirksame Arzneistoffe identifiziert. In 81 % der Fälle ergaben sich potenzielle Interaktionen bei diesen Substanzpaaren. Häufigste relevante Interaktion war eine QTc-Zeit-Verlängerung. Für 70 % der Arzneistoffpaare mit hochrelevanten Interaktionsrisiken waren bestehende absolute KI zur gleichzeitigen Abgabe nicht berücksichtigt worden.
Schlussfolgerung
Bei über 80 % des Kollektivs ergaben sich Risiken für Arzneimittelinteraktionen. In hohem Prozentsatz fanden sich Arzneistoffpaare, deren Kombination kontraindiziert war. Als häufigste Wirkstoffklassen wurden Antipsychotika und Antidepressiva mit potenziell riskanten UAE nachgewiesen. Citalopram war bei den absoluten KI zur Kombination mit anderen Wirkstoffen am häufigsten vertreten, niedrigpotente Neuroleptika am häufigsten bei den relativen KI. Rechtlich ist kritisch zu bewerten, dass nicht ärztlich verordnete Arzneistoffe bei kontraindizierten Kombinationen nachgewiesen wurden. Dies kann straf- und zivilrechtliche Folgen für die Verantwortlichen haben.