Viel O2 auf der Intensivstation könnte mehr schaden als nutzen

Erhalten Patienten Sauerstoff auf der Intensivstation, sollten Ärzte die Blutgaswerte im Blick haben: Ist der pO2-Wert zu hoch, steigt offenbar auch das Sterberisiko. Auch wenn es mancher Arzt kaum glauben kann, Sauerstoff ist ein sehr aggressives und giftiges Gas. Vor zweieinhalb Milliarden Jahren wäre das Leben auf der Erde fast am Sauerstoff zugrunde gegangen, den es per Photosynthese selbst erzeugt hat. Diese Krise ließ sich bekanntlich mit Erfindung der Sauerstoffatmung lösen, doch die Sauerstoffatmer bewegen sich dabei stets auf einem schmalen Grat: Das reaktionsfreudige Element würde am liebsten sämtliche unserer Moleküle in Stücke hacken, und davon muss es mit sehr aufwändigen Mechanismen abgehalten werden. Herz- und Lungenschäden durch Sauerstoffüberschuss Zu viel O2 kann das fragile Gleichgewicht jedoch aus der Balance bringen. Daher ist die Frage berechtigt, ob bei Patienten auf der Intensivstation, denen eine Hypoxie droht, ohne präzise Blutgaskontrolle Sauerstoff verabreicht werden soll. Denn kommt es zur Hyperoxie, ist diese vielleicht noch schädlicher als ein leichter Sauerstoffmangel. So kann ein Sauerstoffüberschuss auf vielfältige Weise die Lunge schädigen und auch zu systemischen Reaktionen wie einer Vasokonstriktion führen, schreiben Intensivmediziner um Dr. Massimo Girardis von der Universität in Modena. Ferner legen einige Studien nahe, dass bei nicht hypoxischen Intensivpatienten die Sauerstofftherapie mehr schadet als nützt. In der PROXI-Studie* war die Sterberate bei Patienten mit hohem inspiratorischem Sauerstoffanteil (FiO2) deutlich gesteigert, und in der Untersuchung AVOID* hatten Patienten mit ST-Hebungsinfarkt sechs Monate später deutlich gravierendere Herzschäden, wenn sie mit Sauerstoff beatmet worden waren, obwohl keine Hypoxie vorlag. In ihrer randomisiert-kontrollierten Studie „Oxygen-ICU“ wollten die Ärzte um Girardis prüfen, ob sich die Art des Sauerstoffmanagements tatsächlich signifikant auf die Sterberate auswirkt. Sie wählten Intensivpatienten, bei denen sich die Ärzte für eine Sauerstoffbehandlung entschieden hatten und die so schwer krank waren, dass ein Aufenthalt von mindestens drei Tagen auf der Intensivstation absehbar war. Diese teilten sie in zwei gleich große Gruppen: Die eine bekam die leitliniengemäße Therapie (Kontrollgruppe) mit einem FiO2-Wert von 0,4 – also einem doppelt so hohen Sauerstoffanteil wie in der gewöhnlichen Atemluft. Hierbei durfte der Sauerstoffpartialdruck im Blut (pO2) bis 150 mmHg steigen, physiologisch normal sind etwa 70 bis 100 mmHg. Die Sauerstoffsättigung (sO2) konnte zwischen 97 und 100% liegen, üblich sind 94 bis 97%. Bei Werten unter 95% wurde der Sauerstoffhahn noch stärker aufgedreht und damit der FiO2-Wert erhöht. Bei den übrigen Patienten kontrollierten die Ärzte pO2 und sO2 sehr strikt (Protokollgruppe). Der Sauerstoffhahn wurde nur soweit aufgedreht, dass der pO2-Wert 100 mmHg nicht überschritt und im physiologischen Bereich blieb. Die Sauerstoffsättigung sollte ebenfalls nur zwischen 94 und maximal 98% liegen. Es wurde dafür der geringstmögliche FiO2-Wert eingestellt; die Blutgaswerte bestimmten die Ärzte täglich. Sterberate fast halbiert Geplant war die Teilnahme von rund 660 Patienten, die Aufnahme in die Studie verlief jedoch sehr schleppend, und zu allem Überfluss beschädigte ein Erdbeben im Jahr 2012 Teile der Klinik, sodass die Studie vorzeitig abgebrochen wurde. Immerhin hatten die Ärzte um Girardis bis dahin 480 Patienten behandelt und konnten auf aussagekräftige Resultate hoffen. Diese fanden sie dann auch bei der Sterberate: Mit der konventionellen Behandlung waren 44 Patienten (20,2%), mit der strikten Sauerstoffkontrolle nur 25 (11,6%) auf der Intensivstation gestorben. Relativ betrachtet war die Sterberate mit der Sauerstoffkontrolle immerhin um 43% und damit signifikant reduziert, absolut um 8,6%. Unterschiede gab es auch bei den pO2-Werten: In der Kontrollgruppe lagen sie im Schnitt bei 102, in der Protokollgruppe bei 87 mmHg. Auf den gesamten Klinikaufenthalt bezogen ergab sich eine Sterberate von 24% (Protokollgruppe) und 34% (Kontrollgruppe). Schock, Leberversagen und eine Bakteriämie traten mit der konventionellen Sauerstoffzufuhr zwei- bis dreifach häufiger auf, auch hier waren die Unterschiede trotz der geringen Patientenzahlen statistisch signifikant. Allerdings beziehen sich die Ergebnisse auf eine modifizierte Intention-to-treat-Analyse: Es wurden nur die 434 Patienten berücksichtigt, die auch tatsächlich mindestens drei Tage auf der Intensivstation blieben. Genau dies wird von Dr. Niall Ferguson von der Universität in Toronto in einem Editorial kritisiert: Sollte die angepasste Sauerstoffgabe dazu führen, dass die Patienten vermehrt in den ersten drei Tagen sterben, würde dies das Ergebnis verzerren. Zudem waren die Patienten in der Gruppe mit angepasster O2-Therapie etwas jünger und weniger schwer krank als diejenigen in der Kontrollgruppe, was sich ebenfalls zugunsten der adjustierten Behandlung ausgewirkt haben könnte. Schließlich sei die Zahl der Verstorbenen trotz der signifikanten Unterschiede viel zu klein, um zuverlässige Aussagen zu erlauben. Letztlich sieht aber auch Ferguson keinen Nachteil darin, bei Intensivpatienten auf möglichst physiologische Blutgaswerte zu achten und Hyperoxien genau wie Hypoxien zu vermeiden. *Akronyme PROXI: Perioperative Oxygen Fraction – Effect on Surgical Site Infection and Pulmonary Complications After Abdominal Surgery AVOID: Air Versus Oxygen in Myocardial Infarction

Springer Medizin

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