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Erschienen in: medizinische genetik 3/2018

Open Access 11.10.2018 | Trisomien | Schwerpunktthema: Intelligenzminderung

Strukturelle Chromosomenstörungen bei Intelligenzminderung

verfasst von: Dr. rer. nat. Hartmut Engels

Erschienen in: medizinische genetik | Ausgabe 3/2018

Zusammenfassung

Strukturelle und numerische Chromosomenstörungen gehören zu den häufigen Ursachen der Intelligenzminderung und psychomotorischen Entwicklungsstörung. Die große Heterogenität der Intelligenzminderung spiegelt sich auch in der Vielfalt möglicher Aberrationstypen und ursächlicher Chromosomenregionen wider. Die konventionelle lichtmikroskopische Zytogenetik kann hierbei u. a. strukturelle Aberrationen mit Größen über ca. 5–10 Megabasenpaaren (Mb) auch in Form kleinerer Mosaike nachweisen und diese im Genom lokalisieren. Durch Fluoreszenz-in situ-Hybridisierung können bei klinischem Verdacht gezielt auch deutlich kleinere Aberrationen, z. B. Mikrodeletionen, detektiert werden. Chromosomale Mikroarrays (CMA) detektieren dank ihrer besseren Auflösung, die bis deutlich unter 0,1 Mb reichen kann, genomweit submikroskopische Mikrodeletionen und Mikroduplikationen, machen jedoch bei Duplikationen keine Aussage zu deren genomischer Lokalisation und können meist niedriggradige Mosaike unter 20 % kaum nachweisen. Zytogenetik und CMA ergänzen sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten und weisen einschließlich der Trisomie 21 jeweils in ungefähr 15 % der Patienten mit Intelligenzminderung ursächliche Chromosomenaberrationen nach. Sie stellen damit neben aktuellen Sequenzierungstechniken ein wichtiges Element der humangenetischen Ursachenabklärung bei Intelligenzminderung dar. Typische chromosomale Aberrationstypen werden beispielhaft besprochen und in das heutige Gesamtbild eingeordnet.
Die Abklärung von Chromosomenstörungen bildet auch im Zeitalter des „next generation sequencing“ (NGS) die Basis der Ursachensuche bei Patienten mit Intelligenzminderung. Lichtmikroskopische Chromosomendiagnostik und chromosomale Mikroarrays (CMA) stellen dabei komplementäre Techniken zur Identifizierung pathogener Chromosomenstörungen dar, durch die in jeweils ungefähr 15 % der Betroffenen einschließlich solcher mit Down-Syndrom ursächliche Aberrationen nachgewiesen werden [10, 17]. Im Folgenden werden beispielhaft typische Aberrationstypen besprochen und in das heutige Gesamtbild eingeordnet.

Konventionelle Chromosomendiagnostik

Ältere Studien berichten von lichtmikroskopisch diagnostizierten Chromosomenstörungen in 4–34 % der untersuchten Patienten mit Intelligenzminderung [2]. Einen zeitgemäßeren Bezugspunkt bietet z. B. eine Studie, in der 2006 und damit vor der systematischen Einführung der CMA 600 Patienten mit Intelligenzminderung/Entwicklungsverzögerung zytogenetisch untersucht wurden [21]. Erwartungsgemäß machten Aneuploidien mit 11,3 % den Löwenanteil der erklärenden Diagnosen aus, darunter die Trisomie 21 mit 9,2 % als weiterhin häufigste Einzelursache. Die Detektion von Mosaiken der häufigen Trisomien, aber auch z. B. der Mosaik-Trisomie 8 in 0,7 % der Patienten, stellt hierbei eine wichtige Stärke der mikroskopischen Chromosomendiagnostik dar. Sie kann als Einzelzelluntersuchung auch Mosaike mit Anteilen der aberranten Zelllinie deutlich unter 20 % detektieren, welche CMA oder NGS-basierten Kopienzahlanalysen verborgen bleiben können. Mit der Mindestzahl von 10 Metaphasen, die laut S2-Leitllinie Humangenetische Diagnostik (GfH/BVDH) postnatal in Deutschland numerisch ausgewertet werden sollte [26], werden allerdings bei 95 %iger Konfidenz nur Mosaike von 26 % detektiert bzw. ausgeschlossen [11], sodass bei der Indikation Intelligenzminderung eine Erhöhung dieser Zahl ratsam erscheint. Bei gezieltem Verdacht und Auswertung von z. B. 50 Metaphasen oder Interphasen durch die Fluoreszenz-in situ-hybridisierung (FISH) werden bei gleicher Konfidenz 6 %ige Mosaike erkannt [11]. Demgegenüber detektieren die meisten CMA 20–30 %ige Mosaike struktureller Imbalancen [17], wobei die in Deutschland seltener diagnostisch verwendeten „single nucleotid polymorphism“ (SNP)-Arrays wesentlich geringere Mosaikanteile detektieren können (in Einzelfällen bis <5 % [17]).
Strukturelle Chromosomenstörungen, das eigentliche Thema dieser Übersicht, wurden in o. g. Studie in 3,7 % der Patienten gefunden, wobei es sich hauptsächlich um unbalancierte Störungen (3,2 %) handelte [21]. Dies entspricht ungefähr der Größenordnung, in der im Rahmen der humangenetischen Beratung mit der Indikation Intelligenzminderung mikroskopisch sichtbare Chromosomenaberrationen detektiert werden. Im Folgenden sollen für die häufigen unbalancierten Aberrationstypen typische Beispiele vorgestellt werden.

Terminale Deletionen und unbalancierte Translokationen

Bis zur Verbreitung von Fluoreszenz-in situ-Hybridisierung (FISH) und CMA gehörte neben dem Wolf-Hirschhorn-Syndrom (WHS) das Cri-du-chat-Syndrom (CdCS) zu den am häufigsten diagnostizierten Strukturaberrationen (1:15.000–50.000 Lebendgeborene [3]). Sowohl WHS als auch CdCS werden meist durch terminale und seltener durch interstitielle Deletionen oder unbalancierte Translokationen mit in der Regel nicht rekurrenten Bruchpunkten verursacht. Im Falle des WHS wurde jedoch eine kryptische, aufgrund von segmentalen Duplikationen rekurrente Translokation t(4;8)(p16;p23) beschrieben [8]. Insgesamt sind jedoch rekurrente Bruchpunkte bei reziproken Translokationen extrem selten. Eine wichtige Ausnahme bilden hier die häufigste, nicht Robertson’sche Translokation des Menschen t(11;22)(q23;q11.2) und die seltenere t(8;22)(q24.13;q11.2), bei welchen i. d. R. die einzige postnatal lebensfähige unbalancierte Form mit einem überzähligen Chromosom 22-Derivat durch 3:1 Segregation entsteht [24].
Bei unbalancierten Translokationen mit nicht rekurrenten Bruchpunkten liegen nahezu unendliche Kombinationsmöglichkeiten unterschiedlichster terminaler Deletionen/partieller Monosomien und Duplikationen/partieller Trisomien vor. Stellvertretend für dieses vielfältige Bild steht hier eine unbalancierte De-novo-Translokation zwischen den Chromosomen 4 und 12 (46,XY,der(12)t(4;12)(q34.3;p13.3), Abb. 1). Sie wurde bei einem vierjährigen Jungen mit u. a. deutlicher psychomotorischer Entwicklungsstörung, grenzwertiger Mikrozephalie und unspezifischen Dysmorphiezeichen detektiert. Nach Charakterisierung der Imbalancen durch CMA (Deletion 12p13.32-pter, ca. 5,0 Mb, Duplikation 4q34.3-qter, ca. 13,2 Mb) konnte eine spezifische Genotyp-Phänotyp-Korrelation zwischen der 12p-Deletion und u. a. Intelligenzminderung und Mikrozephalie erstellt werden (u. a. [6]).
Durch verbesserte Bänderungstechniken und die systematische Detektion subtelomerischer Chromosomenaberrationen durch FISH mit locusspezifischen Sonden bei Patienten mit Intelligenzminderung seit 1995 wurden zunehmend kleinere und z. T. kryptische terminale Chromosomenaberration detektiert [7]. Bereits zuvor konventionell-zytogenetisch beschriebene Syndrome wie das 1p36 Deletionssyndrom wurden u. a. durch FISH und später CMA genauer charakterisiert, kritische Regionen definiert und z. T. sogar verantwortliche haploinsuffiziente Einzelgene wie beispielsweise SHANK3 beim 22q13 Deletionssyndrom/Phelan-McDermid-Syndrom identifiziert [20]. Viele scheinbar terminale Deletionen stellten sich dabei als interstitielle Deletionen oder unbalancierte Translokationen heraus (z. B. 29 % bzw. 7 % beim 1p36 Deletionssyndrom, [1]). Zusätzlich zeigte sich die bisher ungeahnte Häufigkeit solcher Syndrome (z. B. 1p36 und 22q13 Deletionssyndrome mit jeweils 1:5000–10.000 Lebendgeburten [1, 13]).

Zusätzliche Chromosomenderivate

Zusätzliche Chromosomenderivate werden bei Patienten mit Intelligenzminderung häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt nachgewiesen und liegen in ungefähr der Hälfte der Fälle als Mosaik vor. Zusätzliche Isochromosomen sind hier von besonderer Wichtigkeit, z. B. das oft nur in Fibroblasten nachweisbare Isochromosom 12p (Pallister-Killian-Syndrom [12]) oder isodizentrische Chromosomen (z. B. idic(22) als häufigste Ursache des Cat-Eye-Syndroms [15]). Ein Beispiel für ein Isochromosom als Ursache syndromaler Entwicklungsverzögerung ist ein Isochromosom 18p (OMIM # 614290) bei einem zweimonatigen Mädchen mit u. a. Entwicklungsverzögerung, hypoplastischem Linksherzsyndrom, Mikrozephalie, fazialen Auffälligkeiten, hohem Gaumen, präaxialer Polydaktylie und „finger-like thumbs“. Das klinische Erscheinungsbild ist typisch für die Tetrasomie 18p [23]. Nach Sicherung der Diagnose durch „multiplex ligation-dependent probe amplification“ (MLPA) sowie FISH mit einem „whole chromosome paint“ 18 (Abb. 2a, b) war eine weitere Charakterisierung z. B. durch CMA nicht notwendig, da eine abweichende Struktur des Isochromosoms extrem selten ist [23].
Dagegen war bei dem zusätzlichen derivativen Chromosom 15, welches bei einem sechsjährigen Mädchen mit psychomotorischer Retardierung, Hypertelorismus, Gangunsicherheit und Koordinationsstörung diagnostiziert wurde, eine weitergehende Charakterisierung sinnvoll. Das beidseitig satellitentragende Markerchromosom zeigte sich nach Distamycin A‑DAPI- und CBG-Färbung als dizentrisches Chromosom 15-Derivat und wurde zunächst als isodizentrisches idic(15) klassifiziert. Zur Unterscheidung zwischen „kleinen“, klinisch bis auf eine mögliche Assoziation mit Subfertilität/Infertilität irrelevanten und „großen“, klinisch relevanten idic(15) wurde u. a. eine FISH mit einer Sonde für die Prader-Willi‑/Angelman-Syndrom kritische Region durchgeführt und zwei Signale im idic(15) gefunden (Abb. 2c). Da größere euchromatische idic(15) (Typ A) mit Bruchpunkten in den Bruchpunktregionen 4 oder 5 (BP4, BP5) mit schwererer Entwicklungsverzögerung und häufigerer Epilepsie assoziiert sein könnten als kleinere (Typ B) mit Bruchpunkten in BP3 [14], wurde das idic(15) durch Array-CGH charakterisiert (Abb. 2d). Der Nachweis einer proximalen partiellen Tetrasomie 15q11.1-q13.1 von ca. 8,6 Mb und einer distaleren Trisomie 15q13.1-q13.3 von ca. 3,8 Mb zeigte, dass das zusätzliche Chromosomenderivat dem größeren Typ A entsprach und außerdem unsymmetrisch und somit streng genommen kein isodizentrisches Chromosom war (47,XX,+dic(15;15)(q13.1q13.3)).

Chromosomale Mikroarrays

Die Auflösung der CMA von – je nach verwendetem Array – unter 50 Kilobasenpaaren (kb) der aktuell nach EBM geforderten Mindestauflösung ist um Größenordnungen besser als die der Bänderungstechniken. CMA detektieren bei ungefähr 15 % der Betroffenen mit lichtmikroskopisch unauffälligem Karyotyp ursächliche submikroskopische Kopienzahlvarianten (Mikrodeletionen und -duplikationen).

Terminale Mikrodeletionen und unbalancierte Translokationen

Neben der Detektion kryptischer Formen terminaler Deletionssyndrome wie dem bereits erwähnten 1p36 Deletionssyndrom sowie z. B. 9q34.3 Deletionssyndrom (OMIM # 610253) wurden durch CMA zunehmend unbalancierte Translokationen detektiert, die in der lichtmikroskopischen Diagnostik unentdeckt geblieben waren. Üblicherweise ist dies wie im ersten Beispiel einer unbalancierten kryptischen Translokation primär auf die geringe Größe der Imbalancen zurückzuführen. Nach unauffälliger zytogenetischer Diagnostik (Abb. 3a) bei einem zehnjährigen Mädchen mit psychomotorischer Retardierung und Kleinwuchs zeigte die CMA-Analyse eine ca. 3,6 Mb große Deletion 21q22.3-qter und eine ca. 5,0 Mb große Duplikation 2q37.3-qter (Abb. 3d, e), die durch FISH als unbalancierte Translokation zwischen den Chromosomen 2 und 21 (46,XX,der(21)t(2;21)(q37.3;q22.3)) identifiziert wurden (Abb. 3b, c).
In selteneren Fällen können wegen der zytogenetischen Ähnlichkeit der betroffenen Chromosomenbanden auch überraschend große Imbalancen vorliegen. So wurde bei einem Jungen mit u. a. Entwicklungsverzögerung, Kleinwuchs, Choanalatresie, Laryngomalazie und Dysmorphiezeichen zunächst ein unauffälliger Chromosomenbefund erhoben (Abb. 4a). Die CMA zeigte jedoch eine ca. 11,5 Mb große Deletion 10p14-pter und ca. 8,9 Mb große Duplikation 13q33.2-qter (Abb. 4d, e). FISH mit Subtelomersonden (Abb. 4b, c) identifizierte die unbalancierte Translokation 46,XY,der(10)t(10;13)(p14;q33.2) und auch die zugrunde liegende maternale, balancierte Translokation. Generell werden bei kindlichen unbalancierten Translokationen häufig elterliche balancierte Translokationen mit hohem Wiederholungsrisiko gefunden.

Interstitielle Mikrodeletions- und -duplikationssyndrome

Bereits vor der Einführung der CMA waren zahlreiche autosomale Mikrodeletions- und -duplikationssyndrome wie Prader-Willi‑/Angelman-Syndrom (OMIM # 176270, # 105830), Williams-Beuren-Syndrom (OMIM # 194050), Smith-Magenis-Syndrom (OMIM # 182290) und 22q11.2-Deletionssyndrom/DiGeorge-Syndrom (OMIM # 188400) beschrieben worden. Sie wurden als klinisch meist wiedererkennbar eingeschätzt und weisen häufig rekurrente Bruchpunkte aufgrund von segmentalen Duplikationen auf. Sie wurden nach klinischer Verdachtsdiagnose durch gezielte, meist FISH-basierte Diagnostik abgeklärt. In den 1990er-Jahren führte dies gemeinsam mit der routinemäßigen Anwendung der Sanger-Sequenzierung zu einem Anstieg der Aufklärungsrate bei Intelligenzminderung um 6–10 % [27]. Das Beispiel des 22q11.2-Deletionssyndroms zeigt, wie sich durch die Anwendung der CMA das beschriebene klinische Spektrum vieler scheinbar gut bekannter Deletions‑/Duplikationssyndrome erweiterte. In neueren Studien wurde durch CMA z. B. in großen Kollektiven mit u. a. Entwicklungsverzögerung in 0,9 % der Fälle Mikrodeletionen 22q11.2 auch bei Patienten mit untypischem klinischem Erscheinungsbild detektiert [16].
Die routinemäßige Anwendung von CMA führte durch die genomweite Detektion meist de novo entstandener Mikrodeletionen und -duplikationen auch zur Identifizierung zahlreicher neuer Intelligenzminderungssyndrome. Hierbei wurden neben weiteren Deletionssyndromen mit rekurrenten Bruchpunkten wie die Mikrodeletionen 15q13.3, 16p11.2, 17q21.31 etc. auch zunehmend Syndrome mit nicht rekurrenten genomischen Bruchpunkten wie z. B. die Deletionssyndrome 1q41q42, 2p15p16.1 und 15q24 identifiziert [25]. Für diese wurden durch Vergleich der unterschiedlichen Deletionen und Bestimmung der kleinsten gemeinsamen Genomabschnitte kritische Regionen ermittelt. In vielen dieser neu beschriebenen Syndrome konnten im Folgenden jeweils einzelne Gene identifiziert werden, deren Haploinsuffizienz das gesamte klinische Bild des Syndroms oder zumindest große Teile davon verursacht. Beispiele sind EHMT1 für das 9q34.3 Deletionssyndrom/Kleefstra-Syndrom 1, KANSL1 für das 17q21.31 Deletionssyndrom/Koolen-deVries-Syndrom, SIN3A für das 15q24 Deletionssyndrom und MEF2C für das 5q14.3q15 Mikrodeletionssyndrom. Bei Mikrodeletionen mit nicht rekurrenten Bruchpunkten kann hierbei die Bestimmung der kritischen Region zur Identifizierung solcher verantwortlicher haploinsuffizienter Gene sogar bei vollständiger Penetranz vertrackt sein. So wurde die Identifizierung des ursächlichen Gens MEF2C dadurch erschwert, dass bei einer der Mikrodeletionen 5q14.3q15 in der Erstbeschreibung keine kodierende Sequenz, sondern vermutlich nur regulatorische Elemente von MEF2C betroffen waren [5, 28].
Viele der neu beschriebenen Mikrodeletions- und -duplikationssyndrome zeigen im Unterschied zu den meisten altbekannten Syndromen eine reduzierte Penetranz, wobei die Penetranzschätzungen verschiedener Studien z. T. erheblich differieren. So ermittelten Cooper und Kollegen 2011 für das distale, GJA5 umfassende 1q21.1 Mikrodeletionssyndrom noch eine 96%ige Penetranz, während Rosenfeld und Kollegen 2013 nur 37 % fanden [4, 22]. Gemeinsam mit der häufig ausgeprägten variablen Expressivität und allgemeinen klinischen Variabilität dieser Syndrome erschwert dies das Erstellen zuverlässiger Genotyp-Phänotyp-Korrelationen und damit auch die Situation in der genetischen Beratung. Hinzu kommt, dass viele dieser Syndrome nicht als reine Intelligenzminderungssyndrome zu sehen sind, sondern deutliche Überlappungen mit z. B. Autismus-Spektrum-Störung, epileptischen Enzephalopathien oder psychiatrischen Erkrankungen, insbesondere Schizophrenie, aufweisen.
Kopienzahlanalysen aus NGS-Daten, insbesondere aus Whole Genome Sequencing, erbrachten z. T. bereits äußerst vielversprechende Ergebnisse [9]. Bei der im diagnostischen Kontext jedoch noch deutlich relevanteren Exomsequenzierung schwankt die Spezifität allerdings noch stark je nach angewandtem Detektionsalgorithmus und die Schätzungen zu den falsch-positiv und falsch-negativ Raten differieren deutlich [19], sodass sich eine routinemäßige diagnostische Anwendung als Ersatz für die CMA noch nicht durchgesetzt hat.
Auch wenn chromosomale Imbalancen heutzutage z. B. durch CMA mit deutlich größerer Auflösung als durch lichtmikroskopische Chromosomendiagnostik detektiert werden, hat Letztere auch wichtige Vorzüge. Im Unterschied zur CMA können auch balancierte Inversionen und Translokationen sowie rein heterochromatische Markerchromosomen gefunden werden. Neben der bereits erwähnten zuverlässigeren Detektion auch niedriggradiger Mosaike können durch konventionell-zytogenetische Methoden und FISH im Unterschied zur CMA duplizierte Segmente auch im Genom lokalisiert werden. So können auch intrachromosomale Duplikationen oder Tetrasomien von zusätzlichen derivativen Chromosomen unterschieden werden. Weiterhin können ungefähr 2 % der scheinbar de novo entstandenen Mikrodeletionen und -duplikationen durch Elternuntersuchungen mittels FISH als Resultat von parental vererbten Insertionen mit hohem Wiederholungsrisiko identifiziert werden [18].
So stellt die Kombination von chromosomalen Mikroarrays und lichtmikroskopischer Zytogenetik mit ihren komplementären diagnostischen Vorzügen neben den unterschiedlichen NGS-Anwendungen weiterhin ein wichtiges Element der Ursachenabklärung nicht nur bei der hier thematisierten Intelligenzminderung, sondern auch bei anderen genetischen Fragestellungen dar.

Fazit für die Praxis

  • Lichtmikroskopische Zytogenetik und chromosomale Mikroarrays (CMA) sind komplementäre Techniken zur Detektion von Chromosomenstörungen und weisen jeweils in ungefähr 15 % der Patienten mit Intelligenzminderung einschließlich Down-Syndrom ursächliche Aberrationen nach.
  • Im Unterschied zur CMA können Zytogenetik und FISH u. a. bei unbalancierten Translokationen/Insertionen duplizierte Chromosomenregionen im Genom lokalisieren und damit eventuelle Wiederholungsrisiken bei Eltern mit balancierten Aberrationen erkennen. Zusätzlich können niedriggradigere Mosaike nachgewiesen werden.
  • Dagegen weisen CMA durch ihre weitaus bessere Auflösung genomweit auch submikroskopische Mikrodeletionen und Mikroduplikationen nach.
  • Viele Mikrodeletions- und -duplikationssyndrome weisen eine reduzierte Penetranz und große klinische Variabilität auf und sind u. a. auch in der Ätiologie anderer Entwicklungs- und Autismus-Spektrum-Störungen oder psychiatrischer Erkrankungen wichtig.

Danksagung

Herzlichen Dank an C. Ergang, C. Prell, S. Stankovic, N. Ortega, B. Sc., Dr. rer. nat. E. Engels, Dr. rer. nat. J. Becker und H. Hundertmark, M. Sc. für das Bildmaterial und Dr. med. K. Cremer, PD Dr. med. F. Degenhardt und Dr. med. M. Kreiß für die Informationen zu ihren Patientinnen und Patienten.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

H. Engels gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethik-Kommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Es handelt sich um diagnostische Untersuchungen nach dem Gendiagnostikgesetz I GenDG, für die keine Zustimmung der zuständigen Ethik-Kommission benötigt wird.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.

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Metadaten
Titel
Strukturelle Chromosomenstörungen bei Intelligenzminderung
verfasst von
Dr. rer. nat. Hartmut Engels
Publikationsdatum
11.10.2018
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
medizinische genetik / Ausgabe 3/2018
Print ISSN: 0936-5931
Elektronische ISSN: 1863-5490
DOI
https://doi.org/10.1007/s11825-018-0200-8

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