Diabetes mellitus Typ 1 ist die häufigste endokrinologische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren. Eine Heilungsperspektive bezüglich der Autoimmunreaktion gegen die insulinbildenden Betazellen ist weiterhin nicht in Sicht. Dennoch konnte durch technische Innovationsschübe bei Glukosesensoren, Insulinpumpen und Steuerungsalgorithmen innerhalb der letzten Jahre die Stoffwechselkontrolle optimiert werden. Diese Entwicklungen führen zusammen mit individuellen Diabetesschulungen und psychosozialer Unterstützung zu einer deutlichen Verbesserung der Versorgung.
In diesem Übersichtsartikel wird die aktuelle Versorgungssituation von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes sowie ihren Eltern dargestellt. In Deutschland ist die multidisziplinäre, spezialisierte Versorgung durch Teams aus Kinder- und Jugenddiabetolog*innen, Diabetesberater*innen, Sozialarbeiter*innen und Kinder- und Jugendpsychotherapeut*innen seit vielen Jahren etabliert und führt zu einer im internationalen Vergleich sehr guten Versorgungsqualität. Fokussiert werden die Diabetesschulung mit dem Schwerpunkt, das Selbstmanagement optimal zu unterstützen, die psychosoziale Begleitung und Intervention sowie die Inklusion in Schulen und Kindertagesstätten. Wir gehen außerdem auf neue soziale Entwicklungen der Diabetes-Online-Community ein. Ein aktuelles Beispiel ist die patientenbetriebene Bewegung „Do-It-Yourself Artificial Pancreas System“ (DIY-APS), die als Open-Source-Projekt mittlerweile Innovationsgeber auch für Medizinproduktehersteller ist. Zum Schluss beleuchten wir die damit verbundenen Chancen, aber auch die Verschiebung der klassischen Arzt-Patienten-Rollen.
Hintergrund
Typ-1-Diabetes (T1D) ist eine der häufigsten, chronischen Erkrankungen und kann bereits sehr junge Kinder betreffen. Es handelt sich hierbei um die häufigste Diabetesform, die ca. 96 % der Kinder und Jugendlichen mit Diabetesmanifestation betrifft. Nach aktuellen Schätzungen leben in Deutschland ca. 18.500 Kinder und Jugendliche im Alter von 0–14 Jahren mit T1D und in der Altersgruppe von 0–19 Jahren etwa 32.500 [1]. Die Erkrankungshäufigkeit (Prävalenz) liegt bei 0,148 % und betrifft damit etwa jedes 700. Kind unter 15 Jahren in Deutschland [2]. Die Stoffwechseleinstellung hat sich in den letzten 2 Jahrzehnten (1995–2016) sowohl bezüglich der Werte für das glycierte Hämoglobin (HbA1c), die im Mittel von 8,3 % auf 7,8 % gesunken sind, als auch bezüglich der Rate schwerer Hypoglykämien mit Krampfanfall oder Bewusstlosigkeit von 2,0 % auf knapp 1,0 % verbessert [3]. Neben diesen absoluten Zahlen bestand 1995 noch ein direkter Zusammenhang zwischen niedrigen HbA1c-Werten und einem hohen Hypoglykämierisiko. Dies lässt sich in aktuellen Analysen der DPV(Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation)-Datenbank und damit für Deutschland so nicht mehr nachweisen und gilt als größte Errungenschaft in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit T1D [3, 4].
Seit 2015 sehen wir eine deutliche Zunahme der Insulinpumpenbehandlung auf derzeit 53 % aller betroffenen Kinder und Jugendlichen (2017), im Vorschulalter unter 6 Jahren sind es sogar 92 %. In dieser Altersgruppe gilt eine Insulinpumpenbehandlung bereits als Standardtherapie [5]. Einen ähnlichen Trend sehen wir bei der Anwendung kontinuierlicher Glukosesensoren, die 2017 bereits bei 38 % der Jugendlichen mit T1D und 56 % der Vorschulkinder mit T1D eingesetzt wurden. Hier hatte sich jüngst eine so rasante Entwicklung gezeigt, dass mittlerweile die Mehrzahl aller Kinder und Jugendlichen mit T1D mit Glukosesensoren versorgt ist [5]. Damit sehen wir im Zusammenspiel zwischen Diabetesschulung, psychosozialer Unterstützung und technischen Innovationen langfristig eine deutliche Verbesserung der medizinischen Versorgung und damit auch ein relativ geringes Risiko bei allen Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes bezüglich schwerer Hypoglykämien und langfristiger Folgeerkrankungen des Diabetes [3].
Anzeige
International zeigt sich ein deutlicher Transatlantic Gap mit etwa 1 % höheren HbA1c-Werten konsistent über alle Altersgruppen zwischen dem deutsch-österreichischen DPV-Register und dem US-amerikanischen T1Exchange-Register. Diese deutlich schlechtere Stoffwechselkontrolle besteht trotz eines vergleichbaren Anteils an Kindern und Jugendlichen, die neue Techniken in Form von Glukosesensoren und Insulinpumpen benutzten [6]. Dies unterstreicht die Bedeutung der umfassenden, interdisziplinären Versorgung, die eine rasche Einführung neuer technischer Innovationen begleiten muss und seit vielen Jahren flächendeckend in Skandinavien und Deutschland vorhanden ist.
Medizinischer Bedarf
Kinder und Jugendliche mit T1D sind meist bereits bei Diagnose von einem schweren Insulinmangel betroffen. Bestehen die typischen Symptome Polyurie, Polydipsie und inadäquater Gewichtsverlust bei einem Gelegenheitsblutzucker von über 200 mg/dl, kann sofort die Diagnose Diabetes mellitus gestellt werden. Bei mindestens 15 % der Kinder liegt bei Diagnosestellung bereits eine schwere Stoffwechselentgleisung mit Ketoazidose vor, die kurzzeitig intensivmedizinisch und mit intravenöser Insulingabe behandelt werden muss [7].
Die neu diagnostizierten Kinder und Jugendlichen benötigen sofort eine individuell angepasste Insulintherapie. Die Therapie des T1D erfordert eine strukturierte Umsetzung der etablierten Insulintherapie aus kurz wirksamem Insulin zu allen Mahlzeiten und mit individueller Korrektur bei Hyperglykämien. Zusätzlich erfolgt die Gabe von Basalinsulin bei Spritzen- oder Pen-Therapie, im Rahmen einer sogenannten intensivierten konventionellen Insulintherapie (ICT). Bei einer Insulinpumpentherapie werden beide Insulinkomponenten, der Basalbedarf ohne Mahlzeiten mit einer Basalrate sowie der Mahlzeiten- und Korrekturbedarf mit kurzzeitigen Insulinboli, über eine Insulinpumpe (CSII) abgegeben. Erste Insulinpumpen integrieren bereits kontinuierliche Glukosesensordaten und bilden sogenannte automatisierte Insulinabgabesysteme (AID), die mittels Algorithmen bei abfallendem oder absolut niedrigem Sensorglukosewert die Insulinzufuhr drosseln und somit einen gewissen Unterzuckerungsschutz bieten. Die Hybrid-Closed-Loop-Systeme sind die aktuellste Entwicklung kommerzieller Systeme und geben zusätzlich auch bei erhöhten Glukosewerten aktiv eine höhere Insulinbasalrate ab. Auch diese neuesten Hybrid-Closed-Loop-Systeme reagieren nur auf Glukoseschwankungen und sind weiterhin auf eine möglichst exakte Eingabe der gegessenen Kohlenhydratmengen in Gramm oder Broteinheiten angewiesen.
Zu wesentlichen Fertigkeiten, die mit einer modernen Insulintherapieform erworben werden müssen, gehören neben der Umsetzung der Injektionen auch Katheterwechsel, die Interpretation der Glukosewerte, die Insulinberechnung, die kohlenhydratbilanzierte Ernährung, Hypo- und Hyperglykämiemanagement sowie die Anpassung der Therapie an besondere Lebenssituationen, wie körperliche Aktivität, Leistungssport oder Krankheit [8]. Diese Anpassungsvorgänge sollten im gesamten Tagesablauf erfolgen. Klinische Studien zeigen zunehmend einen klaren Behandlungserfolg der Semi-Closed-Loop-Systeme mit deutlicher und gleichzeitiger Reduktion der hyperglykämischen Glukosewerte und der Unterzuckerungswahrscheinlichkeit [9]. Auch wenn immer mehr Kinder mit Insulinpumpen und sensorgekoppelten Systemen behandelt werden, benötigen gerade diese Semi-Closed-Loop-Algorithmen eine exakte Kohlenhydrateingabe aller Mahlzeiten und darin besteht bei allem Nutzen auch ein besonderes Belastungs- und Überforderungspotenzial.
Anzeige
Multiprofessionelle Betreuung
In der Langzeitbetreuung stehen die Kinder und Jugendlichen mit Diabetes und ihre Familien im Mittelpunkt und ein multiprofessionelles Diabetesteam wird entsprechend der individuellen Bedürfnisse ausgerichtet. Bezüglich der Versorgung sind die Kinder und Jugendlichen also eingebettet in ein komplexes Netzwerk aus medizinischen Professionellen, ihrem eigenen sozialen Netzwerk sowie weiteren heterogenen Akteuren (Abb. 1). Fehlt beispielsweise ein starkes, soziales Netzwerk aus Freunden und Familie, kann sozialer Hilfebedarf entstehen, der entsprechende Beantragungen mit Unterstützung der Sozialarbeit begründet. Online-Communitys und -Influencer gewinnen derzeit an Einfluss, ihre Rolle und ihr Potenzial sind derzeit noch nicht abschätzbar.
×
Internationale und nationale Leitlinien empfehlen eine Langzeitbehandlung durch ein spezialisiertes, pädiatrisches Diabetesteam. Dieses soll gleichermaßen kompetent in der somatischen und psychologischen Diagnostik und Therapie sein sowie spezifische, pädagogische und soziale Beratung anbieten können [7, 10]. Die akute und die kontinuierliche Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes sollte unter 16 Jahren grundsätzlich an besonders qualifizierten kinder- und jugenddiabetologischen Zentren erfolgen, bis 21 Jahre dann fakultativ. Die Zertifizierung erfolgt seit vielen Jahren durch die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und schließt alle therapeutisch erforderlichen Berufsgruppen mit den entsprechenden kinder- und jugenddiabetologischen Qualifikationen ein, die ebenfalls durch spezielle Weiterbildungscurricula der DDG erworben werden können [7].
Die ärztliche Betreuung erfolgt durch Kinderärzt*innen mit spezialisierten diabetologischen Fachkenntnissen, wie sie von Diabetolog*innen (DDG) oder mit der Bezeichnung „Kinderendokrinologie und -Diabetologie“ gemäß der jeweils geltenden Weiterbildungsordnung der Landesärztekammern erworben werden. Grundlegender Bestandteil jeder Diabetestherapie sind Diabetesschulungen, die hauptsächlich von pädagogisch und diabetologisch speziell qualifizierten Krankenpfleger*innen oder Diätassistent*innen durchgeführt werden. Unbestritten ist auch die feste Einbindung von Psychotherapeut*innen und Sozialarbeiter*innen mit besonderer Erfahrung in der kontinuierlichen Betreuung von Familien, Kindern und Jugendlichen mit Diabetes. Neben diesem kinder- und jugenddiabetologischen Kernteam sind noch weitere ärztliche Partner in enge Kooperationen eingebunden, im Schwerpunkt Augenärzt*innen (Retinopathiescreening) und pädiatrische Gastroenterolog*innen (Zöliakiescreening).
In der akuten- und intensivmedizinischen Versorgung muss medizinisches Personal sicher im Umgang mit schweren Ketoazidosen in allen Altersgruppen sein. Kontinuierliche interne und externe Weiterbildungen, auch für niedergelassene Kinder- und Jugendärzt*innen, sind eine wichtige Voraussetzung für Erhalt und Verbesserung der Behandlungsqualität. Regelmäßige Fall- und Teambesprechungen geben Gelegenheit für interprofessionelle Super- und Intervision und sind für alle Teammitglieder, gerade auch bei Kinderschutzfällen mit dem Verdacht auf medizinische Vernachlässigung, ein extrem wichtiges Element der professionellen Teamarbeit.
Bewältigung der Diagnose und der neuen Situation
Wenn Diabetes mellitus Typ 1 bei einem Kind diagnostiziert wird, klären Diabetologen*innen die Eltern über eine unheilbare und damit lebenslange Erkrankung ihres Kindes auf. Die Diagnose einer chronischen Krankheit ist ein einschneidendes, sogenanntes kritisches Lebensereignis, das von allen Familienmitgliedern große emotionale und praktische Anpassungsleistungen (Coping) erfordert. Die Konfrontation mit einer chronischen, lebensbeeinflussenden Diagnose kann nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen mit Diabetes, sondern gerade bei ihren Eltern eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auslösen. Immerhin sind 7–17 % der Mütter im ersten Jahr nach Manifestation von einer PTBS betroffen [11] und Risikofaktoren sind bereits durchlebte depressive Episoden, Angststörungen oder einschneidende, besonders belastende Lebensereignisse. Bezeichnenderweise ist diese PTBS-Rate der Mütter nach Diagnoseeröffnung der Diabeteserkrankung vergleichbar mit einer onkologischen Erkrankung; akute Stressparameter (Cortisolausschüttung) sind bei Müttern, die bei ihrem Kind mit einer Diabetesdiagnose konfrontiert waren, deutlich erhöht, obwohl die Erkrankung medizinisch als gut behandelbar und nicht lebensbedrohlich gilt [12].
Die wenigsten Kinder und Jugendlichen sowie ihre Familien haben eine konkrete Vorstellung davon, welche Folgen mit der Erkrankung für alle weiteren Lebensbereiche des Kindes und der Familie verbunden sind. Nach der psychisch belastenden Diagnose müssen Erziehungsberechtigte innerhalb kurzer Zeit die notwendigen Therapiemaßnahmen täglich und eigenverantwortlich durchführen oder verantwortlich beaufsichtigen sowie die Insulinbehandlung in alle bestehenden sozialen Netzwerke der Kinder- und Erwachsenenwelt integrieren. Sie stehen auch vor der scheinbar unlösbaren Aufgabe, eine bestmögliche medizinische Versorgung gleichzeitig zu einer normalen psychischen Entwicklung einer zunehmenden Verselbstständigung sowie eines stabilen Selbstbilds altersentsprechend zu gewährleisten. Dies bedeutet ein tägliches Abwägen aller einzelnen Aspekte und belastet die tägliche Erziehungsarbeit. Nur wenige Familien haben Vorerfahrung mit einer Diabeteserkrankung eines Angehörigen. Für sie ist die Umsetzung einer Insulintherapie im alltäglichen Leben zunächst nicht vorstellbar und entsprechend hoch sind die Verunsicherung und Angst vor gesundheitlichen Folgen, nicht zuletzt auch vor einem selbstverschuldeten Versagen. Akute Belastungssituationen der Familien oder vorbestehende psychische Störungen, wie beispielsweise ADHS/ADS des Kindes, können die Umsetzung der Diabetestherapie im Alltag ungemein erschweren und müssen von Anfang an erfasst und berücksichtigt werden. Jugendliche mit Diabetes haben zudem ein erhöhtes Risiko, Angststörungen, Essstörungen oder depressive Episoden zu entwickeln [10], weshalb diese Familien gerade in den ersten Jahren nach Diagnosestellung auf die Beratung und Behandlung durch ein erfahrenes, multiprofessionelles Diabetesteam angewiesen sind [12].
Diabetesschulung und Anleitung zum Selbstmanagement
Eine altersangepasste und qualitätskontrollierte Schulung der Kinder, Jugendlichen und beider Eltern oder anderer primärer Betreuer bildet die Grundlage jeder Diabetestherapie [13‐15]. Bereits vor über 30 Jahren fand ein Paradigmenwechsel dahin gehend statt, dass Menschen mit Diabetes bzw. ihre Eltern die Erkrankung primär selbst behandeln und nicht deren Ärzte. Wesentliche Voraussetzungen waren (i) die weitgehende, körperliche und geistige Gesundheit der Betroffenen, (ii) die Verfügbarkeit ambulanter Blutzuckermessungen ([16]; und mittlerweile auch des kontinuierlichen Glukosemonitorings) sowie (iii) die Schulung und Trainierbarkeit aller erforderlichen Kompetenzen, um im Alltag Insulin, Ernährung und Verhalten anpassen zu können sowie Notfallsituationen weitestgehend selbstständig zu managen [17, 18]. Systematische Reviews zur Diabetesschulung in der Pädiatrie zeigen durchweg positive Effekte auf die Qualität der Stoffwechseleinstellung, das Therapieverhalten, die Selbstmanagementfähigkeiten, die psychosoziale Integration und die Lebensqualität der geschulten Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Eltern. Die Effekte sind am größten, wenn die Eltern einbezogen werden und diese Schulungsmaßnahmen im Rahmen der kontinuierlichen Langzeitbetreuung erfolgen [19‐22]. Weitere zentrale Prädiktoren einer erfolgreichen Diabetestherapie und -schulung sind die von allen Teammitgliedern konsistent vertretenen Therapieziele, eine gemeinsame Behandlungsphilosophie und eine enge Abstimmung zwischen allen Teammitgliedern [23, 24].
Konkret soll eine moderne Diabetesschulung bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes bestmöglich das Selbstmanagement des Diabetes mellitus fördern. Die Therapieverantwortung soll altersentsprechend zwischen Kindern und Jugendlichen sowie den Eltern und im erweiterten Betreuerkreis auch mit Erziehern und Lehrern geteilt werden und entsprechend muss jedem Beteiligten das diabetesspezifische Wissen vermittelt werden, angepasst an seine Aufnahmefähigkeit und Lernfähigkeit [25‐27].
Anzeige
Gerade nach Manifestation (Diagnosestellung) müssen die Grundlagen für die lebenslange Umsetzung einer Diabetestherapie gelegt werden, die gegenwärtig aufgrund der technischen Fortschritte immer komplexer zu werden scheint. Dies, bei aller Systematik und Zielorientierung, immer auch mit individueller Anpassung an die mentale, kognitive und psychische Aufnahmefähigkeit der Teilnehmenden. Sowohl den Erziehungsberechtigten als auch den Kindern und Jugendlichen muss die Möglichkeit gegeben werden, die Schulungsinhalte durch passende Lehr- und Lernmethoden ausgerichtet an den persönlichen Ressourcen und altersspezifischen Gegebenheiten zu erhalten [15, 25]. Dies bedingt initial fast immer ein Format der familiären Einzelschulung. Neue mobile Schulungsinitiativen adressieren mittlerweile auch direkt den Bedarf einzelner Elternteile, beispielsweise berufstätiger Väter, die oft nur zu einem geringeren Anteil in die Initialschulungen einbezogen werden können [28]. Strukturierte und evaluierte deutschsprachige Schulungsmaterialien und Curricula liegen für Vorschulkinder, Grundschulkinder, Jugendliche und Eltern von Kindern mit Diabetes vor (Tab. 1 und [15, 29]).
Tab. 1
Auswahl aktueller Schulungsprogramme für Kinder, Jugendliche, Eltern und pädagogische Fachkräfte
Titel
Autoren
Zielgruppe
Weitere Informationen
Referenzen
Diabetes bei Kindern: ein Behandlungs- und Schulungsprogramma
Lange, K., Remus, K., Bläsig, S., Lösch-Binder, M., Neu, A., von Schütz, W.
aZertifiziert durch die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG)
Insbesondere nach Diagnosestellung sind die körperlichen Voraussetzungen der Kinder mit und ohne Ketoazidose und die psychischen Befindlichkeiten der Eltern besonders zu berücksichtigen. Trotz dieser Umstände werden im stationären Setting Eltern, Kinder und Jugendliche vom ersten Tag an strukturiert an die Übernahme aller Therapieinterventionen herangeführt, um das Selbstmanagement optimal zu fördern. Gemeinsames Messen, Spritzen und das Berechnen der Kohlenhydrate, der Umgang mit hohen und niedrigen Glukosewerten stellen dabei den praktischen Teil der Basisschulung dar. Der theoretische Teil der Basisschulung beschäftigt sich mit allen Aspekten der Diabetestherapie und der Vorbereitung auf die Umsetzung der Diabetestherapie in den Alltag. Insbesondere die Vorbereitungen der Therapieumsetzung in Schule und Kita sowie die Informationsübermittlung an alle betreuenden Personen stellen alle Beteiligten vor große Herausforderungen.
Die Basisschulung umfasst mindestens 20 Schulungseinheiten á 45 min für Eltern und Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr. Für Kinder im Alter von 6–12 Jahren sind mindestens 10 Schulungseinheiten á 45 min vorgesehen.
Es existieren zwei altersangepasste und durch die DDG zertifizierte Schulungsprogramme bzw. Schulungsbücher für Kinder im Alter von 6–12 Jahren und für Eltern bzw. Erziehungsberechtigte (Tab. 1). Aus didaktischer Sicht ist allerdings ein fixiertes Schulungscurriculum nicht sinnvoll. Methodik und Zeitplanung sollten eher an das altersgemäße Verständnis der Erkrankung angepasst werden sowie an die individuell notwendige Therapie und deren Umsetzung in allen Lebensbereichen, damit die psychische, physische und soziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen optimal gefördert wird. Die wichtigsten Ressourcen sind dabei das Wissen und die Handlungskompetenzen der nahen Bezugspersonen sowie deren Sicherheit im Umgang mit der Erkrankung. In den Diabetesschulungen werden auch sprachliche, intellektuelle, soziale und religiöse Zugangsbarrieren der zu schulenden Menschen berücksichtigt und in der Zusammenschau wird ein individueller Lern- und Trainingsprozess durchlaufen. Außerdem stehen Broschüren und Filme für Lehrkräfte und Erzieher in Kindereinrichtungen zur Verfügung. Ein strukturiertes Schulungsprogramm zum Einsatz einer kontinuierlichen Glukosemessung (CGM, Tab. 1) ist mittlerweile auch für Kinder- und Jugendliche verfügbar und wird gegenwärtig evaluiert [30].
Anzeige
Weiterführende Diabetesschulungen für Eltern, Kinder, Jugendliche und andere Betreuungspersonen sollten im Rahmen der Langezeitbetreuung alle 2 Jahre angeboten werden. Allerdings immer auch kurzfristig im Rahmen einer problemspezifischen Schulung bei der Umstellung des Therapiemanagements. Oft spielt im weiteren Behandlungsverlauf die wissensvermittelnde Schulung eine untergeordnete Rolle und der nichtdirektive Beratungsanteil nimmt zu. Mit zunehmendem Alter der Kinder und Jugendlichen gewinnt die gegenseitige Unterstützung der Betroffenen (Peer-to-Peer-Support) zunehmend an Bedeutung und stellt auch einen alternativen Zugang in Gesellschaftsgruppen dar, die untereinander stark vernetzt sind, aber auch sprachliche und kulturelle Zugangsbarrieren zum medizinischen System aufweisen [31].
Inklusion für Kinder und Jugendliche mit Diabetes umsetzten
Mit der Diagnoseeröffnung muss die Familie nicht nur Herausforderungen bezüglich des Therapiemanagements meistern. Aufgrund der Versorgungssituation von Kindern mit T1D in Bildungseinrichtungen sind die Familien weiteren Herausforderungen ausgesetzt, die eigentlich vermeidbar wären. Obwohl in Deutschland bereits am 26.03.2009 die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten ist, kann die Diagnose noch immer einen negativen Einfluss auf die Bildungsbiografie des Kindes, auf die berufliche Tätigkeit der Sorgeberechtigten sowie die familiäre Belastung insgesamt nehmen [32]. So war beispielsweise bei einer bundesweiten Elternbefragung im Jahr 2019 das Ergebnis, dass ein Großteil der Eltern ihre Berufstätigkeit teilweise reduzieren oder ganz aufgeben musste, um das Kind im Kindergarten oder in der Schule so unterstützen zu können, dass es an Bildung gleichberechtigt partizipieren konnte – inklusive der Teilnahme an Klassenfahrten, Wandertagen etc. Des Weiteren gaben 8,1 % der Eltern, deren Kinder die Grundschule besuchten, an, dass diese eine Förderschule besuchten. Auch wenn Kinder Träger individueller Rechtsansprüche sind und unterschiedliche Unterstützungsmöglichkeiten, wie bspw. die der Schulassistenz, vorhanden sind, führen unterschiedliche Beantragungswege und zuweilen unklare Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Kostenträgern bei den Eltern zu Irritationen [33].
Wenn Gesundheit als mehrdimensionales Konstrukt verstanden wird, müssen neben den politischen Entscheidungsträgern auch die Akteure des Gesundheitsbereichs darüber diskutieren, welchen Beitrag sie leisten können, um die Teilhabe chronisch kranker Kinder am gesellschaftlichen Leben zu verbessern. Dafür braucht es neben der finanziellen Ausgestaltung nicht zuletzt auch die Bereitschaft, sich für die Rechte der Kinder einzusetzen und den Familien beratend zur Seite zu stehen.
Zukunftsperspektiven
In der Diabetologie und damit auch in der Kinder- und Jugenddiabetologie haben die jüngsten technischen Innovationen, insbesondere die Glukosesensoren (CGM), aber auch die sensorgekoppelten Insulinpumpen sowie zunehmend die automatisierten Insulinabgabesysteme (AID), dazu geführt, dass immens viele Gesundheitsdaten anfallen. Deren intelligente Nutzung muss nun im Sinne einer bestmöglichen Gesundheitsversorgung der Menschen mit Diabetes eingeleitet werden. Beispiele kommen bislang vorrangig aus der Diabetes-Online-Community. Unter dem Motto „#WeAreNotWaiting“ („wir warten nicht“) haben engagierte Menschen mit Diabetes und ihre Familien gemeinsam technische Lösungen für ihre ungelösten Probleme entwickelt. Anleitungen und Quellcode für diese Systeme sind über das Internet frei verfügbar (Quellen: nightscout.info, openaps.org, androidaps.org, loopdocs.org; [34‐37]).
Anzeige
Unsere eigenen Studien zeigen, dass die patientenbetriebenen Open-Source-Entwicklungen bereits die Innovationsfront erobert haben. Eine gemeinsame webbasierte Erhebung zu den ersten publizierten Outcome-Daten der DIY-AID zeigt die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Systeme, aber darüber hinaus auch die starke Bindung der Anwender und erste exzellente Outcomes mit HbA1c-Werten an der Normwertgrenze [38, 39]. Die Non-for-Profit-Organisation Tidepool (Tidepool, Palo Alto, Ca, USA) entwickelt gegenwärtig einen auf der DIY-AID-App „Loop“ basierenden, herstellerunabhängigen Softwarealgorithmus, der als erstes Medizinprodukt mit echter Interoperabilität, d. h. offen für verschiedene Sensor- und Insulinpumpenhersteller, eine US-Zulassung bei der Food and Drug Administration (FDA) erwerben wird [40‐42]. Über Initiativen von Menschen mit Diabetes wie Tidepool oder der „OpenAPS Data Commons“ können Nutzer von DIY-AID-Systemen mittlerweile ihre Daten anonymisiert spenden und so Forscher als auch Firmen unterstützen, ihre Innovationen schneller und nutzerorientiert zu entwickeln [34‐37].
Die „T1D Exchange Initiative“ wendet sich an die klinischen Diabeteszentren und an die Menschen mit T1D gleichermaßen. Jeder Mensch mit T1D kann innerhalb der USA klinische Daten in ein medizinisches Register eingeben, Blut- und Genproben in einer Biobank hinterlegen und direkt und internetbasiert an Erhebungen teilnehmen. Diese Initiativen beschleunigen die anderweitig oft schwierige Erhebung insbesondere qualitativer oder psychoemotionaler Daten von Patienten, die über klinische Parameter, die im Rahmen der Regelversorgung an Diabeteszentren erhoben werden, hinausgehen [43]. Diese direkte Beteiligung der Menschen mit T1D ist durchaus auch als Erweiterung europäischer Patientenregister denkbar.
Typ-1-Diabetes ist durch die zunehmende Behandlung mit Glukosesensoren, Insulinpumpen und damit verbundenen Analyse- und Steuerungsalgorithmen mittlerweile eine sehr stark datengetriebene Erkrankung und hat sich für neue kommerzielle und open-source-entwickelte E‑Health-Ansätze in eine Poleposition katapultiert. Interoperable, d. h. für alle Systeme offene, und patientenzentrierte Onlineplattformen bieten neue Chancen für telemedizinische Behandlungsformen und ermöglichen eine kontinuierliche Unterstützung von Familien mit Kindern mit Diabetes über Onlinesprechstunden [44, 45].
Diese zunehmend aktive Rolle ist Teil einer Veränderung hin zu einer patientenzentrierten Versorgung mit gleichberechtigter Teilhabe, sodass aus „Diabetespatienten“ „Menschen mit Diabetes“ werden. Damit endet eine paternalistische Ära und neben einer medizinischen Betreuung auf Augenhöhe spielt auch die Peer-to-Peer-Unterstützung, häufig über Diabetes-Online-Communitys, eine immer größere Rolle. Diese „Demokratisierung der Medizin“ [46] ist primär sehr positiv und bietet direkten Zugang zu diabetesspezifischen Gesundheitsinformationen, sozialen Fragen und Erfahrungsaustausch bezüglich vieler Alltagsfragen, letztendlich sogar zusätzliches Entlastungspotenzial für limitierte Ressourcen der medizinischen Versorger und damit auch gesundheitsökonomisches Potenzial.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
K. Raile und K. Braune sind Konsortiumsmitglieder des vom EU-Horizon-2020-Forschungsprogramm (RISE) geförderten Projektes „OPEN“ (Grant Agreement No.: 823902); K. Braune wird vom Berlin-Institute of Health (BIH) im Rahmen des Junior Clinician Scientist Programm und einer Sonderförderung „Digitale Medizin“ unterstützt. K. Raile ist Advisory Board Member bei Lilly Diabetes Care und Abbott Diabetes Care und erhielt Vortragshonorare von Abbott Diabetes Care, Novo Nordisk und Springer Healthcare IME. K. Braune erhielt Beraterhonorare als Advisory Board Member von Medtronic Diabetes und von Roche Diabetes Care sowie Vortragshonorare von Dexcom, Medtronic Diabetes und der Bertelsmann Stiftung. K. Boss und M. Heinrich-Rohr geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.