Arbeitsteilung und Kooperation
Die Anerkennung der Anästhesiologie als Fachgebiet in der ärztlichen Weiterbildungsordnung war das Eine, die Anerkennung als selbständiges, gleichberechtigtes Fachgebiet durch die operativen Fächer ein Anderes. Für das operative Querschnittfach Anästhesie sind Organisation und Kooperation Schicksalsfragen. Wegen ihrer hohen haftungsrechtlichen Relevanz wurden diese Schicksalsfragen schließlich anhand der Zuordnungskriterien entschieden, die vor allem für die zivilrechtliche Haftung gelten können.
Die Entwicklung der Medizin und die Differenzierung des Leistungsangebots erfordern eine fortschreitende Spezialisierung der Ärzte und der nichtärztlichen Mitarbeiter, auf die sie die Durchführung einzelner Leistungen delegieren.
Spezialisierung bedeutet Arbeitsteilung, bei der zu unterscheiden ist zwischen der
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horizontalen Arbeitsteilung, deren Grundsätze für die interdisziplinäre Aufgabenteilung zwischen den Vertretern verschiedener Fachgebiete gelten, und der
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vertikalen Arbeitsteilung, die sich auf die Aufgabenverteilung zwischen Ärzten und ihren ärztlichen sowie nichtärztlichen Mitarbeitern innerhalb einer Fachabteilung oder einer ärztlichen Praxis bezieht.
Die Arbeitsteilung ermöglicht eine rationelle, medizinisch optimale Versorgung der Patienten. Sie dient der Patientensicherheit, hat jedoch selbst wieder spezifische Risiken, die im Wesentlichen auf Informations- und Koordinationsdefiziten beruhen. Am gefährlichsten sind die unerkannten negativen Kompetenzkonflikte, bei denen die an der Behandlung beteiligten Fachvertreter (hier also Operateur und Anästhesist) jeweils davon ausgehen, der Andere sei für eine bestimmte zur Sicherung des Behandlungserfolges notwendige Maßnahme zuständig, etwa für die präoperative Gabe oder das Absetzen von Medikamenten (z. B. beim Diabetiker) oder für die Überwachung eines liegenden Katheters.
Fehler bei der horizontalen und vertikalen Arbeitsteilung sind Organisationsfehler, die haftungsrechtlich als Behandlungsfehler gewertet werden.
Grundsätze der horizontalen Arbeitsteilung und Aufgabenzuweisung
Auf der Grundlage des von Weißauer 1962 erstatteten Gutachtens
1 und der hier entwickelten Grundsätze konnten schließlich die Probleme der horizontalen Arbeitsteilung
durch interdisziplinäre Vereinbarungen der anästhesiologischen Verbände (Wissenschaftliche Gesellschaft, Berufsverband) mit den Verbänden der operativen Fächer im Sinne der vollen fachlichen Gleichberechtigung
des Anästhesisten und der Absage an eine Prädominanz des Operateurs einvernehmlich gelöst werden.
2 Die Konsequenz: Der Anästhesist trägt bei der Zusammenarbeit mit den Vertretern anderer Fachgebiete die volle ärztliche und rechtliche Verantwortung für die Aufgaben seines Fachgebiets. Er nimmt diese Aufgaben selbständig und eigenverantwortlich wahr.
Bei der Kooperation von Operateur und Anästhesist gelten der Vertrauensgrundsatz und das Prinzip der strikten Aufgabenteilung. Es gibt keine fachlichen Weisungsrechte und wechselseitigen Überwachungspflichten. Ergänzt werden diese Grundsätze durch weitgehende wechselseitige Informations- und Koordinationspflichten, durch die Lösung von Kompetenzkonflikten nach der Prädominanz der sachlichen Erfordernisse und die Anerkennung der Kompetenz-Kompetenz des Operateurs für den Stichentscheid, falls eine Einigung über die Rangfolge der fachlichen Erfordernisse nicht zu erreichen ist.
Diese Grundsätze erlauben den Beteiligten die volle Konzentration auf ihre fachspezifischen Aufgaben. Auf der Basis des Vertrauensgrundsatzes dürfen Operateur und Anästhesist sich wechselseitig darauf verlassen, dass die Leistungen des an der gemeinsamen Behandlung beteiligten Kollegen mit der erforderlichen Sorgfalt erbracht werden, solange sich keine Zweifel an der Qualifikation oder der Zuverlässigkeit des Partners aufdrängen. Auf offenkundige Mängel und auf Fehler, die der Partner bemerkt, muss er den dafür fachlich verantwortlichen Kollegen hinweisen.
Kompetenzkonflikte
Die Gefahr positiver und negativer Kompetenzkonflikte erfordert eine präzise interdisziplinäre Aufgabenabgrenzung.
Informations- und Koordinationspflichten
Die Erfüllung der gemeinsamen Aufgabe verpflichtet Operateur und Anästhesist zur wechselseitigen Information
über alle für den Aufgabenbereich des Partners wesentlichen Umstände, zur systematischen Abgrenzung und Koordination der beiderseitigen Aufgabenbereiche sowie zur Rücksichtnahme auf die fachlichen Erfordernisse im Bereich des Partners.
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Konfliktsituationen
Über die Indikation zur Operation, den Zeitpunkt des Eingriffs und über die Art des operativen Vorgehens einschließlich der Lagerung des Patienten auf dem Operationstisch entscheidet der Operateur. Auf Bedenken gegen die Operation, den Operationszeitpunkt oder die Lagerung aus der Sicht seines Fachgebiets – etwa wegen des schlechten Allgemeinzustands des Patienten, wegen einer erhöhten Aspirationsgefahr oder wegen des Risikos des Nervenschadens bei der vorgesehenen Lagerung – muss der Anästhesist den Operateur hinweisen. Der Operateur hat diese Bedenken als kontraindizierende Faktoren gegen die Gründe abzuwägen, die aus operativer Sicht für die Beibehaltung des ursprünglichen Operationsplans sprechen.
Stichentscheid
Können sich Operateur und Anästhesist nicht über die Abwägung der konkurrierenden fachlichen Erfordernisse einigen, so trifft der Operateur den Stichentscheid, ob der Eingriff oder z. B. die vorgesehene Lagerung auf dem Operationstisch trotz der Bedenken des Anästhesisten hic et nunc indiziert ist. Er trägt für diese Abwägung die volle ärztliche und rechtliche Verantwortung. Der Anästhesist darf sich im Rahmen des Vertrauensgrundsatzes darauf verlassen, dass der Operateur die Abwägung mit der gebotenen Sorgfalt vorgenommen hat. Je schwerer die risikoerhöhenden Umstände wiegen, auf die der Anästhesist den Operateur hingewiesen hat, desto stärker steht dann aber der Anästhesist in der Pflicht, alles zu tun, um diese Risiken innerhalb seines fachlichen Aufgabenbereichs zu beherrschen.
Interdisziplinäre Vereinbarungen für spezielle Situationen
Ergänzende Kooperationsvereinbarungen
gibt es mit mehreren Fachgebieten für die Aufgabenteilung bei der
Lagerung des Patienten auf dem Operationstisch, bei der
Bluttransfusion, für das
Stand-by des Anästhesisten, für die Aufgabenteilung und Zusammenarbeit in der
Intensivmedizin und für die Organisation der
postoperativen Schmerztherapie.
Eine Zusammenstellung der Abkommen, die in den Grundzügen übereinstimmen, findet sich unter „Entschließungen, Empfehlungen, Vereinbarungen, Leitlinien“.
6 Gemeinsam ist allen Vereinbarungen, dass sie nur
subsidiär gelten. Dies bedeutet, dass es Anästhesist und Operateur offen steht, abweichende lokale Absprachen über die Aufgabenverteilung zu treffen.
Vertikale Arbeitsteilung
Im Gegensatz zur horizontalen Arbeitsteilung, die auf dem Prinzip der wechselseitigen fachlichen Weisungsfreiheit und Unabhängigkeit beruht, gilt für die vertikale Arbeitsteilung das hierarchische Prinzip der fachlichen Über- und Unterordnung. Auf ihm beruht insbesondere die Organisation der Fachabteilungen. Der leitende Arzt der Fachabteilung/Klinik ist für die ordnungsgemäße Versorgung aller Patienten in seinem Aufgabenbereich verantwortlich.
Essenzielles Charakteristikum der Stellung des leitenden Abteilungs-/Klinikarztes ist sein fachliches Weisungsrecht und die damit korrespondierende Weisungspflicht gegenüber den ärztlichen und nichtärztlichen Mitarbeitern, die in seinem Aufgabenbereich tätig sind. Es gibt, wie die Rechtsprechung wiederholt betont hat, keinen Bereich innerhalb der Fachabteilung, um den sich der leitende Arzt gar nicht zu kümmern bräuchte. Die Grundpflege gehört zwar zum originären Aufgabenbereich der Krankenschwestern und Krankenpfleger. Aber auch Pflegefehler können den Behandlungserfolg gefährden.
Der Vertrauensgrundsatz gilt, freilich mit wesentlichen Einschränkungen, auch im Verhältnis zwischen dem leitenden Arzt und den nachgeordneten Ärzten sowie dem Pflegepersonal.
Arbeitsteilung Ärzte
Bei der Zusammenarbeit mit einem langjährig bewährten Oberarzt ist eine konkrete, nachprüfende Kontrolle des leitenden Arztes nicht notwendig; die stichprobenartige Überprüfung genügt. Der leitende Arzt darf dem Oberarzt auch leitende Funktionen innerhalb der Fachabteilung übertragen, z. B. die Anweisung und Überwachung von Ärzten in Weiterbildung bei fachspezifischen Leistungen.
Bei Fachärzten muss der leitende Arzt sich von ihrer Qualifikation und Zuverlässigkeit überzeugen; eine planmäßige, nachprüfende Dienstaufsicht ist dann nicht mehr erforderlich. Ärzten in Weiterbildung darf der leitende Arzt stufenweise, entsprechend ihrem wachsenden Kenntnis- und Erfahrungsstand, Aufgaben zur selbstständigen und eigenverantwortlichen Erledigung übertragen.
Delegation ärztlicher Leistungen auf nichtärztliche Mitarbeiter
Pflege- und Assistenzpersonal dürfen spezifische ärztliche Aufgaben nicht übertragen werden. Dem Arzt vorbehalten sind Diagnose und therapeutische Entscheidung.
Zulässig ist dagegen die Delegation
– allerdings nicht die Substitution –
der Durchführung ärztlicher Leistungen, wenn und soweit sie erfahrene nichtärztliche Mitarbeiter genauso gut und sicher erbringen können wie ein Arzt. Dies gilt, je nach Aus- und Weiterbildungsstand, z. B. für
Blutentnahmen, intramuskuläre und intravenöse Injektionen sowie für Infusionen und begrenzt auch für das Nachspritzen in liegende Katheter bei der Leitungsanästhesie. Die Durchführung dieser Maßnahmen ist jedoch dann Sache des Arztes, wenn sich z. B. aus dem Allgemeinzustand des Patienten oder der Art und Wirkung des Medikaments spezifische Risiken ergeben.
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Die Anordnungsverantwortung (z. B. Art und Dosierung des Medikaments, Art der Applikation, Entscheidung über die Delegation auf nichtärztliche Mitarbeiter) trägt der Arzt, die Durchführungsverantwortung der nichtärztliche Mitarbeiter. Beide haften für Fehlleistungen in ihren spezifischen Aufgabenbereichen, der Arzt unter dem Gesichtspunkt des Organisationsverschuldens auch für die Auswahl, Anweisung und Aufsicht über die nichtärztlichen Mitarbeiter bei der Durchführung ärztlicher Leistungen.
Parallelnarkose
Übertragen werden darf erfahrenem Krankenpflegepersonal unter strikter Beachtung der nachfolgend zitierten Mindestanforderungen die intra- und postoperative Überwachung des Patienten in bestimmten Phasen und unter ärztlicher Kontrolle, nicht dagegen die Durchführung des Betäubungsverfahrens.
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Das Gleiche gilt für die Zusammenarbeit mit Ärzten, die für die selbständige und eigenverantwortliche Durchführung der Narkosen noch nicht ausreichend qualifiziert sind. Die Entschließung des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten
9 führt folgende Mindestanforderungen auf:
1.
Eine Delegierung von Überwachungsaufgaben ist nur in unkomplizierten Fällen vertretbar. Der Begriff „unkompliziert“ beinhaltet in diesem Zusammenhang das Fehlen besonderer Risikofaktoren im Hinblick auf den Patienten, den operativen Eingriff oder das Anästhesieverfahren.
2.
Die mit Überwachungsfunktionen betraute Anästhesiepflegekraft muss über die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen verfügen und darüber hinaus über die besonderen medizinischen Umstände des Einzelfalls ausreichend unterrichtet sein.
3.
Die Anästhesiepflegekraft darf nicht zugleich mit anderen Aufgaben betraut werden, etwa mit der Vorbereitung einer folgenden Anästhesie, sie muss sich vielmehr mit ihrer vollen Aufmerksamkeit und ohne Unterbrechung der Überwachung von Patient und Gerät widmen können.
4.
Es ist klarzustellen, dass die Anästhesiepflegekraft im Rahmen ihrer Überwachungsfunktion keinerlei Handlungs- und Entscheidungskompetenz besitzt, abweichend von konkret festgelegten Regeln die Einstellung des Respirators oder die Zufuhr von Narkosegasen bzw. -dämpfen zu verändern; von sich aus intravenöse Narkosemittel,
Muskelrelaxanzien, Kreislaufmittel u. a. zu geben, ohne hierzu eine ärztliche Entscheidung im Einzelfall herbeigeführt zu haben. Die Anästhesiepflegekraft ist ebenso wenig berechtigt, ohne ausdrückliche ärztliche Anordnung eine
Bluttransfusion durchzuführen oder Blutersatzmittel zu verabfolgen.
5.
Die enge Weisungsabhängigkeit der Anästhesiepflegekraft setzt voraus, dass der für das Anästhesieverfahren verantwortliche Anästhesist sich in unmittelbarer Nähe des Geschehens aufhält und stets verfügbar bleibt, um unverzüglich die Leitung der Narkose übernehmen zu können.
6.
Während der Einleitung und Ausleitung des Anästhesieverfahrens muss der Anästhesist unmittelbar zugegen sein.
Die vom Fachgebiet zur Parallelnarkose entwickelten Anforderungen gelten, wie die eben zitierte Entschließung des Berufsverbandes ausdrücklich feststellt, auch für die Regionalanästhesieverfahren
… sofern das Verfahren und/oder der spezielle Eingriff erfahrungsgemäß mit einer Beeinträchtigung der vitalen Funktionen einhergehen kann. Dies wird man für die rückenmarksnahen
Regionalanästhesien zu bejahen haben, aber z. B. auch für Eingriffe, die in der Regel eine Volumensubstitution erforderlich machen. Die Rechtsprechung hat die Frage, ob Parallelnarkosen überhaupt zulässig sind, noch nicht abschließend entschieden. In der Begründung der Parallelnarkose-Urteile lässt der Bundesgerichtshof Zweifel an der Zulässigkeit von Parallelnarkosen erkennen und stellt auf eine Mindestvoraussetzung ab, die auch aus fachlicher Sicht anzuerkennen ist:
Für die ohnehin bedenkliche Parallelnarkose ist grundsätzlich Blick- oder wenigstens Rufkontakt zu dem Fachanästhesisten zu fordern, wenn Aufsicht an beiden Operationstischen gewährleistet sein soll.
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In organisatorischer Hinsicht ist zu beachten: Da die Parallelverfahren nur aufgrund individueller Prüfung und in den Grenzen der oben aufgeführten Voraussetzungen durch den dafür verantwortlichen Anästhesisten zulässig sind, dürfen sie weder routinemäßig angeordnet noch der Berechnung des Personalbedarfs der Anästhesieabteilungen zugrunde gelegt werden.