Regionalanästhesie – warum und für wen?
The regional versus general anaesthesia debate is an age-old debate that has brought about few clear answers. [
1]
Wachsende Kenntnis über die Pathophysiologie der
Nozizeption und der Schmerzverarbeitung, das Verständnis für Reaktionen des Körpers auf Operation und Trauma, erweiterte Möglichkeiten durch neue Medikamente und Kathetertechniken sowie ökonomische Aspekte führten im ausgehenden 20. Jahrhundert zu einer Renaissance der regionalen Blockaden. Die Abschwächung der auf das iatrogene Trauma folgenden Stressreaktion insbesondere bei Einsatz rückenmarknaher („neuraxialer“) Regionalanästhesietechniken sollte durch Verringerung potenziell negativer physiologischer Alterationen [
2‐
5] positive Auswirkungen auf Letalität und Morbidität haben. Diese Hypothese schien zum Jahrtausendwechsel auch mit Evidenz belegt zu sein – eine lange angekündigte
Metaanalyse [
6] postulierte ein deutlich reduziertes Risiko für postoperative vaskuläre (tiefe
Venenthrombose,
Lungenembolie,
Myokardinfarkt), blutungsassoziierte (Transfusionsbedarf), infektiöse (
Pneumonie) oder sonstige Komplikationen (
respiratorische Insuffizienz,
Nierenversagen), resultierend in einer verringerten Letalität beim perioperativen Einsatz der Periduralanästhesie. Diese Arbeit wurde und wird aus verschiedenen Gründen sehr kontrovers bewertet, auch deshalb, weil die zugrundegelegten Untersuchungen u. U. erstellt wurden, die nicht mehr den aktuellen Stand des perioperativen Managements widerspiegeln. Es kann spekuliert werden, dass durch Weiterentwicklungen im apparativen und medikamentösen (z. B. Thromboseprophylaxe) Armamentarium von
Allgemeinanästhesie, Chirurgie und
Intensivmedizin Vorteile der Regionalanästhesie an Bedeutung verloren haben [
7].
In den letzten Jahren scheinen gerade die rückenmarknahen Regionalverfahren an Bedeutung zu verlieren – Ausfluss v. a. der nach wie vor fehlenden Evidenz positiver Effekte auf die postoperative Letalität in weiten Teilen der Patientenpopulation und der Neubewertung verfahrensimmanenter Risiken (v. a. Blutungskomplikationen bei zunehmendem Einsatz gerinnungsmodulierender Substanzen). So bestand eine Zeit lang Konsens, dass für ältere Patienten die operative Versorgung einer Oberschenkelfraktur in Spinal- oder Periduralanästhesie unter Vermeidung einer
Allgemeinanästhesie vorteilhaft sei – eine Aussage, die heute nicht mehr unwidersprochen ist [
8,
9]. Die prospektive multizentrische REGAIN-Studie (Regional vs General Anesthesia for Promoting Independence after Hip Fracture) will bis 2019 die Patientenrekrutierung abgeschlossen haben und hoffentlich zur Klärung dieser Frage beitragen. Es gibt Belege, dass die thorakoperidurale Regionalanalgesie die postoperative Morbidität (prolongierte postoperative Beatmungsdauer, kardiale, gastrointestinale und renale Komplikationen) nach abdominellem Aortenersatz verringern kann – die Verringerung
postoperativer Komplikationen erhöht in dieser Hochrisikogruppe möglicherweise die 5 Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit [
10,
11,
12].
Eine retrospektive Auswertung von rund 68.000 Medicare-Patienten mit überwiegend komplexen Eingriffen [
13] zeigte unter Nutzung der periduralen Analgesie (PDA) eine verringerte Letalität im unmittelbaren postoperativen Verlauf. Eine retrospektive Kohortenstudie [
14], in die fast 260.000 kanadische Patienten mit ebenfalls komplexeren operativen Eingriffen im Zeitraum 1994–2004 eingeschlossen wurden, konnte für die PDA-Gruppe ebenfalls eine geringe Verbesserung der 30-Tage-Letalität herausarbeiten („number needed to treat“ [NNT] = 477). Bei Hochrisikopatienten kann die Vermeidung einer
Allgemeinanästhesie das Risiko pulmonaler Komplikationen senken [
15]. Bei Patienten mit einem mittlerem bis hohen kardialen Risiko könnte eine neuraxiale Anästhesie im Vergleich zu einer Allgemeinanästhesie mit einer niedrigeren 30-Tage-Letalität assoziiert sein [
16].
Eine prospektive dänische Kohortenstudie an fast 30.000 Patienten mit einem aus chirurgischer Sicht wenig riskanten Eingriff (elektive inguinale Herniotomie) verglich Allgemein-, Regional- und Lokalanästhesie. Patienten älter als 65 Jahre hatten nach einer Lokalanästhesie die wenigsten urologischen Probleme. Die insgesamt sehr seltenen zeitnahen postoperativen kardialen Komplikationen traten ausschließlich in der Regionalanästhesiegruppe auf; die Autoren spekulieren, dass hämodynamische Effekte im Rahmen der Sympathikolyse hier deletäre Folgen gehabt haben könnten. Die Allgemeinanästhesiegruppe wies kein schlechteres Ergebnis auf; bei Patienten jünger als 65 Jahre war überhaupt kein Unterschied zwischen den drei Gruppen nachweisbar. Die Autoren folgern, dass allenfalls die Lokalanästhesie bei älteren Patienten vorteilhaft sei und hinterfragen die häufig zu findende Bevorzugung der neuraxialen Regionalanästhesie in dieser Population kritisch [
17].
Patienten mit einem bekannt oder potenziell schwierigen Atemweg können bei einem für die Regionalanästhesie geeigneten Eingriff davon profitieren, dass eine Intubation umgangen werden kann. Das ist auch der wesentliche Grund dafür, dass die neuraxiale Anästhesie
derzeit für die Sectio caesaria als Verfahren der ersten Wahl gilt, obwohl formal eine Cochrane-Analyse diesen Vorteil nicht belegen konnte [
18].
Unstrittig ist dagegen die hohe Qualität der postoperativen (Katheter-)Regionalanalgesie – auch im Vergleich zur intravenösen „patient controlled analgesia“ (PCA
[
10,
19,
20]). Besonders augenfällig ist dies in der Thoraxchirurgie
[
21‐
23]. Eine Cochrane-Analyse belegt für mit einer Periduralanalgesie versorgte Patienten nach abdomineller Aortenchirurgie eine im Vergleich zur Opioidanalgesie geringere Morbidität im unmittelbar postoperativen Verlauf – ohne Einfluss auf die Letalität [
10]. Ob die Regionalanästhesie dagegen tatsächlich in der Lage ist, die Wahrscheinlichkeit postoperativer chronischer Schmerzsyndrome zu verringern, ist weiterhin nicht geklärt [
24]. Zudem können bisher weniger bekannte Alternativen wie intravenös appliziertes
Lidocain bei bestimmten Indikationen der Regionalanästhesie ebenbürtig sein [
25] und können bei Verzicht auf ein rückenmarknahes Regionalverfahren in Betracht gezogen werden. Die Rehabilitation nach orthopädischen
Eingriffen kann durch eine suffiziente – bevorzugt periphere – Katheterregionalanalgesie erleichtert werden [
26,
27]. In der Geburtshilfe gilt die peridurale Analgesie zur Erleichterung einer vaginalen Entbindung mangels überlegener Alternativen nach wie vor als
Goldstandard.
Da eine Regionaltechnik viele Vorteile in Abhängigkeit vom operativen Eingriff erst dann entfaltet, wenn sie über Tage fortgesetzt wird, ist ein Akutschmerzdienst rund um die Uhr unabdingbare Voraussetzung für ein entsprechendes Analgesiekonzept.
Möglicherweise wird bei der Diskussion pro oder kontra Regionalanästhesie auch die Bedeutung singulärer Maßnahmen (Wahl des Anästhesieverfahrens
) auf ein multifaktorielles Geschehen („Outcome“ nach einem operativen Eingriff) überschätzt. Darauf weist eine Untersuchung hin, bei der eine perioperative Optimierung im Sinne eines „Fast-track“-Konzepts (u. a. schonender chirurgischer Zugangsweg, rasche enterale Ernährung, rasche Entfernung von Drainagen) sich als vorteilhaft gegenüber einer „herkömmlichen“ Therapie erwies – wobei die Patienten beider Gruppen mit einem Periduralkatheter analgetisch versorgt waren [
28]. Ebenso scheinen Patienten nach einer Regionalanästhesie nicht weniger häufig mit einer kognitiven Dysfunktion aufzufallen als nach einer
Allgemeinanästhesie [
29]. Es dürfte auch sinnlos sein, zur Reduktion postoperativer Infektionen eine verbesserte Gewebedurchblutung allein durch ein Regionalverfahren erreichen zu wollen [
30], wenn nicht generell auf Wärmeerhalt geachtet wird und das Infektionsrisiko durch perioperative
Hypothermie wieder ansteigt. Letztlich muss auf die Optimierung aller perioperativen Faktoren geachtet werden.
Die Ernüchterung angesichts dieser Situation findet in etlichen Kommentaren und Editorials ihren Niederschlag:
Despite the number and sophistication of such studies, they have not created anything close to a consensus on optimal anesthetic management techniques because, in large part, of the difficulty of collecting a large enough number of rare events in the context of a constantly changing health care environment. [
31]
In den letzten Jahren gerät die Frage, ob die Wahl des intraoperativen Anästhesie – sowie des postoperativen Analgesieverfahrens bei Karzinompatienten Einfluss auf das rezidivfreie Überleben hat, zunehmend in den Fokus des Interesses [
32]: In bisher einzelnen retrospektiven Analysen [
33,
34‐
37] wiesen Karzinompatienten (Prostata- bzw.
Mammakarzinom) im Beobachtungszeitraum eine geringere Rezidivrate auf, wenn die Regionalanalgesie Teil des perioperativen Managements bei der Tumorchirurgie war – auch hier kann bis zum Vorliegen prospektiver Untersuchungen nur spekuliert werden, ob tatsächlich die Dämpfung der postoperativen Stressreaktion z. B. über eine geringere Immunmodulation oder auch der verringerte Einsatz von
Opioiden zu dem beobachteten Effekt führte. Gegen diese Hypothese spricht, dass in einer Kohortenstudie mit mehr als 42.000 Teilnehmern die 5-Jahres-Überlebensrate nach kolorektaler Tumorchirurgie in der Gruppe derjenigen Patienten, die eine Periduralanalgesie erhalten hatten, höher war, nicht aber die Rezidivfreiheit [
38].
Bei der Auswahl des für den einzelnen Patienten in der individuellen Situation optimalen Anästhesieverfahrens
müssen zudem die potenziellen Komplikationen und Nebenwirkungen bedacht werden, die sich bei einem Kombinationsverfahren zwangsläufig erhöhen. Insbesondere die neuraxialen Verfahren
können über die Sympathikolyse hämodynamische Alterationen erzeugen, deren mikrovaskulären Auswirkungen auf die Zellperfusion
uneinheitlich und schwer zu bewerten sind. Unstrittig sind kardial vorbelastete Patienten durch Abfälle des koronaren Perfusionsdrucks z. B. bei einer
Spinalanästhesie, aber auch einer (v. a. lumbalen) Periduralanästhesie vital gefährdet. Das Risiko einer rückenmarknahen
Infektion nach Verwendung eines Periduralkatheters im nichtgeburtshilflichen Patientenkollektiv wird heute im einstelligen Promillebereich und damit wesentlich höher als früher angegeben [
39,
40], wobei die Gefahr eines bleibenden neurologischen Defizits bei adäquater und zeitnaher Reaktion deutlich niedriger liegt [
41].
Rückenmarknahe
Hämatome sind bei intakter Gerinnung ein ebenfalls seltenes Ereignis, wobei wiederum das Risiko nach einem geburtshilflichen Periduralkatheter geringer zu sein scheint als das gleiche Verfahren bei anderen Patientenkollektiven [
42,
43]. Insgesamt ist nach derzeitigem Stand bei 0,7–1,8/100.000
rückenmarknahen Regionalanästhesien mit einer Paraplegie oder einem Todesfall zu rechnen [
44]. Die potentiell desaströsen Folgen eines rückenmarknahen Hämatoms oder eines Subduralhämatoms unterstreichen die Notwendigkeit einer strukturierten Nachsorge einschließlich der Möglichkeit und Bereitschaft zur zeitnahen Intervention. Insbesondere in der Geburtshilfe könnte die Rate intrakranieller Subduralhämatome höher sein als bisher angenommen [
45,
46], so dass bei nicht-lagerungsabhängigen
Kopfschmerzen oder fokalneurologischen Symptomen eine rasche Abklärung erfolgen muss. In jüngerer Zeit wird die Durchführung gerade der neuraxialen Regionalverfahren allerdings dadurch zunehmend erschwert, dass immer mehr Patienten gerinnungsaktive Substanzen einnehmen, deren Absetzen – z. B. beim Koronarstent – zu einer nicht zu rechtfertigenden Gefährdung führen würde. Schließlich ist auch die vom individuellen Geschick und Trainingsgrad abhängige Wahrscheinlichkeit des „Versagens“ einer Regionaltechnik in die Überlegungen einzubeziehen [
47].
Die derzeitige Unsicherheit gerade bezüglich der neuraxialen Regionalanalgesie spiegeln die folgenden beiden Expertenmeinungen wider:
„[…] Epidural analgesia after surgery […] can therefore no longer be described as the
gold standard in postoperative analgesia. The continued use of epidural techniques in your institution should be based on a careful evaluation of its risks and benefits drawn from local
audit data, rather than on a tradition that is increasingly being viewed as outdated.“ [
48]
„In our opinion, epidural analgesia remains a valid option for postoperative analgesia, and all authors regularly use it for patients undergoing major surgery after careful individual risk assessment. However, given the arguments discussed above, epidural analgesia can no longer be considered the standard of care for a general surgical population.“ [
49]
Der aktuelle Stand der Diskussion um den Einfluss der Regionalanästhesie auf Letalität und Morbidität dürfte sein: Patienten ohne relevantes kardiales oder pulmonales Risiko haben wahrscheinlich keinen nachweisbaren Vorteil, wenn sie mit einer Regionalanästhesie (auch in Kombination mit einer
Allgemeinanästhesie) anstatt einer gut geführten Allgemeinanästhesie versorgt werden. Die theoretischen Vorteile der Periduralanalgesie hinsichtlich postoperativer Morbidität und Letalität werden allenfalls bei Hochrisikopatienten mit einem Eingriff mittleren bis hohen Risikos (große Abdominal- oder Thoraxeingriffe, offene Gefäßchirurgie) klinisch relevant. Der wissenschaftliche Nachweis gelang bisher nicht und ist auch zukünftig nicht zu erwarten, weil zu viele Einflussfaktoren vor dem Hintergrund seltener Ereignisse den statistischen Nachweis verhindern. Die Diskussion um einen möglichen Einfluss auf die Rezidivrate bei Tumorerkrankungen ist offen. Periphere Nervenblockaden sind in geeigneten Fällen den neuraxialen Verfahren wegen der geringeren Risiken vorzuziehen [
50], stellen aber höhere Anforderungen an Aus- und Weiterbildung. Die Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Anästhesieverfahren muss eine Einzelfallentscheidung auch unter Berücksichtigung der lokalen Versorgungsstrukturen sein [
51].