Definition
Psychophysiologische
Insomnie war in der
ICSD-2 (2005) eine Diagnose aus der Diagnosegruppe der
Insomnien. Die „ICSD-3“ (2014) enthält diese Diagnose nicht mehr, entsprechende Störungen finden Eingang in die Diagnose Chronische Insomnien.
Die Hauptmerkmale der Psychophysiologischen
Insomnie nach
ICSD-2 sind erlernte, den Schlaf störende Assoziationen und Hyperarousal („Stress und Hyperarousal“), die zu einer „Insomnie“ führen. Das erhöhte physiologische
Arousal kann mit emotionalen Veränderungen verbunden sein, die nicht die Kriterien für eine andere psychische Erkrankung erfüllen. Das Arousal kann sich auch in rein kognitiver Hyperaktivität ausdrücken. Typischerweise kommt es zum subjektiven Phänomen des Gedankenkreisens bzw. dem Eindruck, gedanklich nicht abschalten zu können, während der Nacht.
Die erlernten Assoziationen sind charakterisiert durch eine übermäßige Beschäftigung mit der Unfähigkeit zu schlafen. Meistens entwickelt sich dabei ein Teufelskreis. Die Betroffenen bemühen sich angestrengt zu schlafen, was wiederum in erhöhtem
Arousal und weiterer Unfähigkeit einzuschlafen resultiert. Konditionierte Umweltreize, die sich meist auf den Schlaf selbst beziehen, können die
Insomnie weiter aufrechterhalten und entwickeln sich aus dem Zusammenhang zwischen Schlaflosigkeit in bestimmten Situationen und dabei ausgeführten Verhaltensweisen: Die übliche
Schlafumgebung verliert zunehmend den Stimulus-Charakter für das Verhalten Schlaf. Manche Patienten berichten, dass sie in einer anderen Schlafumgebung und unter anderen Umständen besser schlafen als Zuhause. Den Schlaf störende Assoziationen können während einer insomnischen Phase erworben werden, die auch durch Faktoren wie etwa „Affektive Störungen“, „Schmerz“, äußere Umstände oder „Nachtarbeit und Schichtarbeit“ ausgelöst sein kann (siehe auch „Extrinsische Insomnien“; „Lärmbedingte Schlafstörungen“). Die Psychophysiologische Insomnie persistiert über den Zeitraum der aktuellen Wirkung der genannten Faktoren hinaus. In anderen Fällen entwickelt sich die fast zwanghafte Beschäftigung mit dem Schlaf graduell und allmählich über Monate oder Jahre, während sich der Schlaf simultan verschlechtert.
Wie bei allen Insomnieformen entwickelt sich auch bei Patienten mit einer persistierenden Psychophysiologischen
Insomnie tagsüber ein eingeschränktes Wohlbefinden. Die Insomnie führt zu Stimmungsbeeinträchtigungen und Motivationsschwankungen. Herabgesetzte Aufmerksamkeit, eingeschränkte Vigilanz, Energielosigkeit und Konzentrationsstörungen treten auf. Trotz dieser Symptome zeigen Patienten mit Psychophysiologischer Insomnie in der Regel keine erhöhte Schläfrigkeit während des Tages und haben sogar Schwierigkeiten, bei entsprechenden Gelegenheiten tagsüber einzuschlafen.
Epidemiologie und Risikofaktoren
Es wird davon ausgegangen, dass etwa 1–2 % der Allgemeinbevölkerung von einer Psychophysiologischen
Insomnie betroffen sind. Etwa 12–15 % der Patienten, die an neurologisch-psychiatrischen schlafmedizinischen Zentren vorstellig werden, leiden an der Erkrankung. Die Psychophysiologische Insomnie ist sehr selten bei Kindern, kann aber schon bei jungen Erwachsenen auftreten.
Bei Patienten, die von Haus aus einen nur „leichten“ Schlaf aufweisen oder die gelegentliche Phasen schlechten Schlafs haben, besteht eine erhöhte Vulnerabilität, einmal an einer Psychophysiologischen
Insomnie zu erkranken. Als auslösende Umstände kommen Stress, Umweltfaktoren und signifikante Veränderungen der Lebensumstände infrage. Die ängstliche Überbeschäftigung mit den Themen Gesundheit, Wohlbefinden und Funktionieren während des Tages stellt einen prädisponierenden Faktor für die Erkrankung dar. Insbesondere die ausgeprägte Fokussierung auf das Thema Schlaf ist wahrscheinlich der wichtigste Faktor, der zur Aufrechterhaltung einer Psychophysiologischen Insomnie beiträgt.
Symptomatik
Die Betroffenen erfüllen die Insomniekriterien, d. h., es liegen Probleme mit dem Einschlafen oder dem Durchschlafen vor, obwohl ausreichend Zeit und Gelegenheit für ausreichenden Schlaf besteht („ICSD-3“). Ebenso besteht eine ausgeprägte Störung der Tagesbefindlichkeit. Zusätzliche Symptome sind Müdigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisschwierigkeiten, Einschränkungen im beruflichen oder privaten Bereich, Störungen der Stimmung bis hin zur Depressivität, Einschränkung von Motivation, Energie und Initiative, erhöhte Anfälligkeit für Unfälle bei der Arbeit und im Verkehr,
Kopfschmerzen, gastrointestinale Symptome und erhöhte kognitive Beschäftigung mit dem Thema Schlaf. Über Jahre hinweg nehmen die Symptome in vielen Fällen zu und das Krankheitsbild chronifiziert. Psychosoziale Belastungen wirken oft als Auslöser.
Diagnostik
Die Diagnostik der Psychophysiologischen
Insomnie beinhaltet die sorgfältige klinische Anamnese, „Schlaftagebücher“ und gegebenenfalls apparative Maßnahmen wie „Aktigraphie“ oder „Polysomnographie“ und ist damit weitgehend deckungsgleich mit dem Procedere wie unter „Insomnien“ dargestellt.
In der
Polysomnographie zeigt sich bei vielen Patienten eine erhöhte Einschlaflatenz und erhöhte Wachzeit während des Schlafs sowie eine reduzierte Schlafeffizienz. Manche Patienten zeigen eine veränderte Schlafarchitektur mit einer Zunahme des Leichtschlafstadiums 1 und einer Abnahme des Tief- und
REM-Schlafs (siehe auch Baglioni et al.
2014). Im Schlaflabor kann ein umgekehrter
First-night-Effekt auftreten, dergestalt dass die Patienten in der ersten Nacht in der ungewohnten Umgebung außerordentlich gut schlafen. Meist besteht eine Diskrepanz zwischen subjektiver Beurteilung und objektivem
Messergebnis. Sie ist allerdings nicht so ausgeprägt wie bei der „Paradoxe Insomnie“ (Fehlwahrnehmung des Schlafzustandes). Die Ergebnisse des Multiplen Schlaflatenztests (MSLT; „Multipler Schlaflatenztest und Multipler Wachbleibetest“) sind meistens unauffällig mit Latenzen von 10–15 Minuten bis zum Einschlafen.
Die Differentialdiagnostik der Psychophysiologischen
Insomnie liegt auf einem Kontinuum mit einer Anzahl anderer diagnostischer Kategorien. Es bestehen Parallelen, aber auch Unterschiede zu anderen Formen der
Insomnien nach
ICSD-2, wie etwa der „Idiopathische Insomnie“ oder der
Paradoxen Insomnie.
Die
Idiopathische Insomnie beginnt per Definition in der Kindheit und ist deshalb weitaus persistenter als die Psychophysiologische
Insomnie. Im Gegensatz zur
Paradoxen Insomnie sind bei der Psychophysiologischen Insomnie die subjektiven Einschätzungen des Schlafs nicht so extrem verzerrt, und die Diskrepanz zwischen objektiven Messungen und subjektiven Beschwerden ist nicht so ausgeprägt. Patienten mit einer Psychophysiologischen Insomnie haben stärker ausgeprägte schlafverhindernde Assoziationen und eine längere Dauer der Schlafstörung als Patienten mit einer akuten Insomnie.
Es gibt Überlappungen zwischen der Psychophysiologischen
Insomnie und der Insomnie bei inadäquater Schlafhygiene, da sich auch viele Patienten mit einer Psychophysiologischen Insomnie nicht exakt an diese Regeln halten. Meist zeigen Patienten mit inadäquater Schlafhygiene ein nicht so stark ausgeprägtes konditioniertes
Arousal im Hinblick auf den Stimulus Bett wie Patienten mit einer Psychophysiologischen Insomnie.
Bei Patienten mit Psychophysiologischer
Insomnie, bei denen Einschlafschwierigkeiten im Vordergrund stehen, ist es wichtig, differentialdiagnostisch das Syndrom der verzögerten Schlafphase abzugrenzen. Bei diesem Syndrom erfolgt das Einschlafen konsistent später als erwünscht, weil die zirkadiane Rhythmik der Betroffenen im Sinne einer Phasenverzögerung (delay) relativ zum gewünschten Schlafrhythmus ist. Patienten mit Psychophysiologischer Insomnie hingegen fühlen sich zur gewünschten Bettzeit müde, können aber meist aus Gründen eines Hyperarousal nicht einschlafen. Patienten mit einer verschobenen Schlafphase können in der Regel gut einschlafen, wenn sie entsprechend ihrer zirkadianen Phasenlage später zu Bett gehen und lange ausschlafen können.
Die Psychophysiologische
Insomnie kann komorbid mit anderen
schlafmedizinischen Erkrankungen auftreten. Diagnostische Probleme können dann auftreten, wenn ein Medikamenten- oder ein Substanzmissbrauch vorliegt, üblicherweise von „Hypnotika“ oder von Alkohol.