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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 11.06.2022

Reizbildungs- und Reizleitungsstörungen – Begutachtung

Verfasst von: Ali Erdogan
In der letzten Dekade hat die Diagnostik und Therapie der Herzrhythmusstörungen (invasive kardiale Elektrophysiologie) enorme klinische Fortschritte gemacht. Neben der Einführung von implantierbaren Kardiovertern (Defibrillatoren, Implantable Cardioverter Defibrillator, ICD) konnten durch die Erneuerungen in der kurativen Therapie der Arrhythmien die Möglichkeiten für den behandelnden Arzt enorm ausgeweitet werden.

Einleitung

In der Arbeitsmuskulatur der Vorhöfe und Kammern, die unter physiologischen Bedingungen nicht die Fähigkeit zur spontanen Erregungsbildung besitzt, entstehen Aktionspotenziale durch Zuleitung von bereits erregten Stellen. Dagegen erfolgt die Depolarisation in Herzmuskelzellen mit der Befähigung zur autorhythmischen Erregungsbildung spontan. Ausgehend vom maximalen diastolischen Potenzial kommt es zu einer kontinuierlichen Depolarisation, die nach Erreichen des Schwellenpotenzials eine neue Erregung auslöst. Diese langsame diastolische Depolarisation ist das Charakteristikum der Schrittmacherzellen, wobei die Zellen mit der größten Steilheit der Depolarisation entsprechend der höchsten Schrittmacherfrequenz den Rhythmus vorgeben (aktueller Schrittmacher) und die übrigen Fasern des spezifischen Systems wie gewöhnliche Arbeitsmuskulatur per Fortleitung erregt werden (potenzielle Schrittmacher). Bei Ausfall des aktuellen Schrittmachers übernimmt der potenzielle Schrittmacher mit der höchsten Eigenfrequenz die Erregungsbildung.
Zentren der Erregungsbildung sind der an der Einmündungsstelle der oberen Hohlvene in den rechten Vorhof gelegene Sinusknoten (primäres Erregungszentrum), der in der unteren Vorhofscheidewand gelegene und daher noch zur Vorhofebene gehörende AV-Knoten (sekundäres Erregungszentrum) sowie die Purkinje-Fasern in der Ventrikelmuskulatur bzw. in den Endfasern des Erregungsleitungssystems (tertiäre Erregungszentren) (Abb. 1). Das atriale Leitungssystem besteht aus 3 Hauptbahnen (vorderes, mittleres und posteriores Internodalbündel) vom Sinusknoten zum AV-Knoten sowie einem größeren Bündel vom rechten zum linken Vorhof (Bachmann-Bündel). Das atrioventrikuläre System läuft vom AV-Knoten zum His-Bündel, das intraventrikuläre System vom His-Bündel über den rechten und linken Tawara-Schenkel in die Muskulatur der beiden Herzkammern, der linke nach Aufteilung in das linksanteriore und linksposteriore Bündel (linksanteriorer und linksposteriorer Faszikel).
Die anatomisch vorgegebenen und durch spezifische Leitungseigenschaften gekennzeichneten Bahnen leiten die aus dem Sinusknoten kommende Erregungswelle mit unterschiedlicher Geschwindigkeit weiter, was für eine geordnete Erregungsausbreitung innerhalb des Herzmuskels und eine optimale Synchronisation von Vorhof- und Kammertätigkeit von außerordentlicher Bedeutung ist.
Das Purkinje-Netzwerk stellt mit 4 m/s die schnellste Erregungsleitungsstrecke dar, der AV-Knoten mit 0,2– 0,4 m/s die langsamste. Vorhof- und Kammermuskulatur erreichen Leitungsgeschwindigkeiten von etwa 0,8–1,0 m/s. Die Leitungsverzögerung im AV-Knoten stellt sicher, dass die Vorhofsystole beendet ist, bevor die Kontraktion der Kammern beginnt. Weiterhin hat der AV-Knoten eine Filterfunktion, wodurch verhindert wird, dass beim Auftreten tachykarder Vorhofrhythmusstörungen die Herzkammern in zu schneller Abfolge erregt werden. Diese Filterfunktion verhindert Kammerflimmern als Folge von Vorhofflimmern.

Gutachterliche Bewertung und forensische Aspekte von Herzrhythmusstörungen

In der letzten Dekade hat die Diagnostik und Therapie der Herzrhythmusstörungen (invasive kardiale Elektrophysiologie) enorme klinische Fortschritte gemacht. Neben der Einführung von implantierbaren Kardiovertern (Defibrillatoren, Implantable Cardioverter Defibrillator, ICD) konnten durch die Erneuerungen in der kurativen Therapie der Arrhythmien die Möglichkeiten für den behandelnden Arzt enorm ausgeweitet werden.

Bradykarde Herzrhythmusstörungen

Bradykarde Herzrhythmusstörungen können heute durch Schrittmacherimplantation kurativ behandelt werden; nach Schrittmacherimplantation wird die körperliche Leistungsfähigkeit im Wesentlichen durch die Grunderkrankung des Patienten determiniert. Diese Aussage hat aber nur dann Gültigkeit, wenn eine Steigerung der Herzfrequenz unter Belastung (durch Katecholaminfreisetzung) möglich ist bzw. ein Zwei-Kammer-Schrittmacher über die Vorhofelektrode einen physiologischen Frequenzanstieg vermittelt.
Liegt hingegen eine Frequenzinkompetenz des Sinusknotens vor oder wurde nur ein starrfrequenter Ein-Kammer-Schrittmacher implantiert (dies sollte heute die Ausnahme sein!), kann unter körperlicher Belastung keine adäquate Zunahme des Herzzeitvolumens erreicht werden. In dieser Situation muss vom Gutachter eine Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit bei leichten körperlichen Tätigkeiten angenommen werden.
Bei Schrittmacherpatienten sind allerdings auch mögliche Störungen des Aggregates durch Arbeiten mit elektrischen Bohrmaschinen, ebenso durch Arbeiten in der Nähe von Hochspannungsbetriebsanlagen und Transformatoren zu berücksichtigen.

Paroxysmale Vorhofarrhythmien

Das plötzliche Auftreten
  • eines paroxysmalen Vorhofflimmerns/-flatterns (Beeinträchtigung der Belastbarkeit im Wesentlichen durch das Ausmaß des Kammerfrequenzanstiegs mit resultierender Verkürzung der Diastole) oder
  • paroxysmaler AV-nodaler Reentry-Tachykardien (AVNRT) bzw. AV-junktionaler Reentrytachykardien (Präexzitationssyndrome: antegrad leitendes oder verborgenes WPW-Syndrom)
kann trotz kurzer Dauer der Episoden von z. B. Sekunden bis wenigen Minuten das Leistungsvermögen am Arbeitsplatz im Sinne einer Eigen- sowie auch Fremdgefährdung deutlich einschränken bzw. sogar aufheben. Auch die mit diesen Rhythmusstörungen sehr oft einhergehende subjektive Beschwerdesymptomatik (Unsicherheit, Schwindel, Unruhe, Angst, Benommenheit) kann die hämodynamischen Auswirkungen der Vorhofarrhythmien noch verstärken. Aus diesem Grunde sollten vor der abschließenden sozialmedizinischen Begutachtung heute unbedingt die neuen kurativen Therapiemaßnahmen wie invasive elektrophysiologische Untersuchung mit AV-Knoten-Modulation (Ablation des langsamen Pathways) bzw. Ablation eines akzessorischen Bündels (bei WPW-Syndrom) und perkutane selektive Pulmonalvenenisolierung (bei therapierefraktärem paroxysmalen Vorhofflimmern) berücksichtigt werden.
Bei Patienten mit paroxysmalem oder persistierendem Vorhofflimmern kann schon allein durch die elektrische Kardioversion eine 25- bis 30 %ige Zunahme des Herzzeitvolumens unter Belastung und damit auch eine deutlich verbesserte Leistungsfähigkeit des Patienten erreicht werden. Dies bringt für den Patienten eine gänzlich andere versicherungsrechtliche und sozialmedizinische Beurteilung mit sich als beim Status der absoluten Arrhythmie bei Vorhofflimmern. Wenn bei einem Patienten keine relevante systolische und/oder diastolische Funktionsstörung vorliegt, kann auch bei Fortbestehen des Vorhofflimmerns unter der Bedingung einer Frequenzkontrolle (Kammerfrequenz um 65–80/min) in einer Belastungssituation doch noch eine ausreichende Steigerung des Herzzeitvolumens möglich sein; bei diesen Patienten kann eine Berufsfähigkeit mit leichter bis mittelschwerer körperlicher Arbeit gutachterlich angenommen werden.
Bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten mit paroxysmalen supraventrikulären Reentrytachykardien (AV-nodalen bzw. AV-junktionalen Reentrytachykardien) oder atrialen fokalen Tachykardien gelingt es heute, durch Radiofrequenz- oder Kryokatheterablation das Wiederauftreten paroxysmaler Tachykardien komplett zu verhindern. Bei diesen Patienten ist nach einer Rekonvaleszenz- und Beobachtungsphase von 3–4 Wochen eine normale Berufs- und Erwerbsfähigkeit gegeben. Gelingt es aber bei paroxysmalen supraventrikulären Tachykardien nicht, mittels der Ablationsverfahren (oder auch mithilfe chirurgischer Cox-Maze-Verfahren bei Patienten mit Mitralvitien) einen stabilen, regelmäßigen Sinusrhythmus herbeizuführen, ist das Leistungsvermögen für Berufe mit Absturzgefahr (Eigengefährdung) oder Fremdgefährdung (Taxifahrer, Busfahrer, Piloten etc.) aufgehoben.

Ventrikuläre Rhythmusstörungen

Liegen ventrikuläre Rhythmusstörungen vor, hängen deren prognostische Bedeutung und die körperliche Belastbarkeit des Patienten im Wesentlichen von der Grunderkrankung und dem Ausmaß der Einschränkung der links- bzw. rechtsventrikulären Funktion ab. Bei Fehlen einer kardialen Grunderkrankung und bei ungestörter linksventrikulärer Funktion ist die Prognose gut, und das Leistungsvermögen kann als nicht eingeschränkt beurteilt werden.
Die von Herzgesunden häufig geschilderten Extrasystolen, die sehr oft unter Einwirkung von emotionalem Stress oder unter Nikotin-, Kaffee- bzw. Alkoholgenuss auftreten, besitzen keine hämodynamische Bedeutung; hier ist die Leistungsfähigkeit nicht eingeschränkt. Andererseits liegt bei Patienten mit dokumentierten ventrikulären Tachykardien oder bei Zustand nach kardiopulmonaler Reanimation bei Herz-Kreislauf-Stillstand ein erhöhtes Risiko vor.

MdE und GdS/GdB bei Erwachsenen mit Rhythmusstörungen

Ausschlaggebend für die Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bzw. des Grades der Schädigungfolge/Grades der Behinderung (GdS/GdB) ist die Leistungsbeeinträchtigung des Herzens (Myokardfunktion).
  • Anfallsweise auftretende, hämodynamisch relevante Arrhythmien (z. B. paroxysmale supraventrikuläre Tachykardien) sind je nach Häufigkeit, Dauer und subjektiver Beeinträchtigung bei fehlender andauernder Funktionsminderung des Herzmuskels mit einem GdS/GdB von 10–30 bzw. MdE von 10–30 % zu bewerten. Bei bestehender, andauernder Leistungsbeeinträchtigung des Herzens sind sie zusätzlich, entsprechend der Reduktion der hämodynamischen Parameter zu bewerten.
  • Nach Implantation eines Herzschrittmachers ist ein GdS/GdB von 10 bzw. eine MdE von 10 %, nach Implantation eines Kardioverters (Defibrillators, ICD) eine MdE von mindestens 50 % bzw. ein GdS/GdB von wenigstens 50 anzunehmen.

Fahrtauglichkeit und juristische Implikationen

Leidet ein Patient unter Herzrhythmusstörungen, die anfallsweise zu wiederholter Unterbrechung der Blutversorgung des Gehirns führen und damit die Ursache von rezidivierenden Synkopen werden können, ist er nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen gerecht zu werden. Nach erfolgreicher (kurativer) Behandlung einer Rhythmusstörung kann man aber davon ausgehen, dass nach der Einhaltung einer bestimmten Rekonvaleszenz- und Beobachtungsphase von ca. 12 Wochen die Fahrtüchtigkeit wieder vorhanden ist. Diese zeitliche „Empfehlung“ ist allerdings wissenschaftlich bisher gering fundiert.
Die meisten ventrikulären Rhythmusstörungen werden – insbesondere wenn sie anhaltend und/oder vital gefährdend sind – heute nach den Richtlinien direkt mit einem ICD versorgt. Eine Ausnahme bildet lediglich die kurative Katheterablation von stabilen ventrikulären Tachykardien aus dem rechtsventrikulären Ausflusstrakt. Nach Implantation eines ICD kann angenommen werden, dass der Betroffene bedingt wieder in der Lage ist, privat Auto zu fahren, wenn innerhalb von 3 Monaten keine gefährlichen Arrhythmien beobachtet oder detektiert werden.
Bei den supraventrikulären Rhythmusstörungen ist die Lage deutlich komplizierter. Prinzipiell gilt bei asymptomatischen Patienten keinerlei Einschränkung. Wenn aber der Patient unter anfallsweise wiederholter Unterbrechung der Blutversorgung des Gehirns leidet, die damit Ursache von Präsynkopen oder Synkopen werden kann, so ist er nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen gerecht zu werden. Grundlage der Beurteilung sollte in jedem Fall eine eingehende internistisch-kardiologische Untersuchung einschließlich eines 24-Stunden-Langzeit-EKG und eventuell zusätzlicher Spezialuntersuchungen sein.
Aufgrund dieser juristischen Implikationen ist die leitliniengerechte Therapie von Patienten mit Herzrhythmusstörungen, insbesondere solcher, die lebensbedrohlich sind oder mit Synkopen bzw. Präsynkopen im weitesten Sinne einhergehen, mit gebotener Sorgfalt indiziert. Eine solche Therapie kann Sicherheit im Umgang mit dem Patienten bringen und vor Fehlern und Verletzung der Sorgfaltspflicht bewahren.
Ob ein Diagnose- oder Therapiefehler als grobe Fahrlässigkeit im Sinne § 26 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) vorliegt, entscheidet sich im Einzelfall und hängt nicht zuletzt von den Folgen des Therapiefehlers und der ärztlichen Qualifikation ab. Hierbei ergibt sich unter Umständen eine Entbindung des Haftpflichtversicherers von der Leistungspflicht!
Bei der Therapie von Herzrhythmusstörungen sollte im Zweifel der Rat eines Facharztes sehr früh hinzugezogen werden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten:
  • Fahrtauglichkeit besteht nicht, wenn die Rhythmusstörung anfallsweise zu wiederholter Unterbrechung der Sauerstoffversorgung des Gehirns und zu Bewusstseinstrübung oder Bewusstlosigkeit führen kann (Seidl et al. 2005). Hierüber ist der Patient (schriftlich) aufzuklären.
  • Der Arzt hat die Schweigepflicht zu wahren. Sollte der Patient trotz Fahruntauglichkeit weiterhin ein Kfz führen, so ist der Arzt nicht verpflichtet, dies den Behörden anzuzeigen, da er sonst gegen die Schweigepflicht und § 203 Strafgesetzbuch (StGB) verstößt. Dieser Verstoß wird unter Umständen nur dann nicht geahndet, wenn der Arzt mit dem Patienten (dokumentiert) nach einer Lösung sucht und dieser beharrlich uneinsichtig ist. Des Weiteren ist dem Patienten anzukündigen, dass der Arzt seine Schweigepflicht zu brechen gedenkt (Krüger 2000).
Literatur
Krüger A (2000) Vor dem Bruch der Schweigepflicht stehen Gespräche mit dem Betroffenen. Deutsche Ärztezeitung v. 21. 08. 2000
Seidl K, Schuchert A, Tebbenjohanns J, Hartung W (2005) Kommentar zu den Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von Synkopen – der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie 2001 und dem Update 2004. Z Kardiol 94:592–612CrossRef