Anfallartige Ereignisse bei Patienten gehören zu den häufigsten Gründen für die Konsultation von Notärzten oder die Vorstellung in Kliniknotaufnahmen oder sonstigen Notfallambulanzen. Oft ist dann in der Untersuchungssituation der Anfall bereits abgeklungen, sodass der Arzt für eine erste Einschätzung des Ereignisses auf die Schilderung des Patienten angewiesen ist oder im glücklichen Falle auch auf eine Fremdanamnese zurückgreifen kann.
Bei vielen Attackenformen ermöglichen die anamnestischen Angaben dem Notarzt bereits eine Verdachtsdiagnose oder zumindest eine Zuordnung zu einer bestimmten klinischen Disziplin. So verweist etwa bei Anfällen, bei denen das Symptom „Schmerz“ im Vordergrund steht, die Angabe der Schmerzlokalisation bzw. des Schmerzcharakters (z. B. stechende Schmerzen im linken Brustraum bei akutem Koronarsyndrom) oft schon auf die Ursache. Weitere zügig verfügbare medizinische Informationen (körperlicher Befund, Notfalllabor,
EKG, Vitalparameter) können dann die Diagnose sichern und zur raschen Therapieeinleitung und Zuweisung zur zuständigen Fachdisziplin führen.
Häufig aber fällt es dem Notarzt schwer, aus der Anamnese eine Krankheitsentität zu erkennen, insbesondere wenn die Angaben diffus und unpräzise sind oder wenn zu bestimmten Merkmalen der Attacke (z. B. Dauer einer Ohnmacht) keine Informationen vorliegen. Dies betrifft z. B. Schwindelanfälle, die vom Patienten oft schwer verbalisierbar sind und deren anamnestische Abklärung durch gezielte Fragen bereits eine besondere Expertise des Diagnostikers erfordert. Vor allem solche Anfallssymptome, die sich als Veränderungen neurologischer oder psychischer Funktionen manifestieren, können oft vom Notarzt nicht adäquat eingeschätzt werden oder führen zu einer der beiden großen „Schubladen“ von Verdachtsdiagnosen „TIA“ (transitorisch ischämische Attacke) oder „Krampfanfall“. Immerhin wird der Patient mit diesen Verdachtsdiagnosen, auch wenn diese später nicht bestätigt werden, an den Neurologen übergeben.
Auch wenn nicht jeder Anfall mit neurologischer Symptomatik auch neurologische Ursachen hat (man denke etwa an die
Hypoglykämie, die nahezu jedes fokal-neurologische Defizit hervorrufen kann), ist doch der Neurologe in der Regel derjenige ärztliche Kollege im Notaufnahmeteam, der die breitesten differenzialdiagnostischen Kenntnisse in Bezug auf
Schwindel, Ohnmachtsanfälle, attackenartige Seh- oder Sensibilitätsstörungen oder paroxysmale psychische Veränderungen mitbringt. Der Neurologe als traditionell interdisziplinär orientierter Arzt sollte sich insbesondere auch mit solchen Differenzialdiagnosen auskennen, die schon grenzüberschreitend im Gebiet von Nachbardisziplinen liegen (z. B. der
Morbus Menière als Schwindelursache in der HNO-Heilkunde oder die Panikattacke als Ursache von thorakalen Beklemmungen in der Psychiatrie). Der Neurologe ist damit dazu prädestiniert, bei unklaren Anfällen frühzeitig in die Abklärung involviert zu werden oder diese selber federführend zu übernehmen.
Der Fokus des vorliegenden Kapitels soll dementsprechend in der
Differenzialdiagnose unterschiedlicher Anfallsleiden liegen und nicht in der umfassenden Abhandlung dieser Krankheitsbilder, die zum Teil ja in anderen Kapiteln dieses Buches erfolgt. Ausgeklammert werden hier solche Attackenformen, mit denen der Neurologe selten konfrontiert wird (etwa das akute Koronarsyndrom) oder Schmerzanfälle (z. B.
Kopfschmerzen), die unter differenzialdiagnostischem Blickwinkel schon andernorts in diesem Buch abgehandelt werden.
Grundlagen
Für den Diagnostiker ist es nicht immer möglich, aus der Eigen- oder Fremdanamnese alle erforderlichen Informationen für die Rekonstruktion der Semiologie zu bekommen. Insbesondere, wenn für das Ereignis eine
Amnesie besteht, wird man kaum etwas über die „Innenansicht“ des Anfalls erfahren. Das 7-Punkte-Schema in der obigen Übersicht leidet auch darunter, dass manche Angaben von Patienten hier nur mühsam untergebracht werden können. So ist auch bei gezielter Exploration von angegebenem „Schwindel“ manchmal schwer zu entscheiden, ob hier eine kurze Bewusstseinstrübung, eine Gleichgewichtsstörung (Wahrnehmung) oder ein Kontrollverlust der Steh- und Gehfähigkeit (Motorik) vorgelegen hat.
Zur Anfallsemiologie gehört auch die Beschreibung des zeitlichen Ablaufs und der zeitlichen Abfolge der einzelnen in Erscheinung tretenden Symptome.
Bei der Phasenabgrenzung geht es einerseits darum, zu erfassen, ob bereits vor dem eigentlichen Anfall typische Veränderungen eingetreten sind, die ggf. auf die Anfallsursache hindeuten (präiktale Phase, z. B. Präsynkope oder sensorische Aura vor einem epileptischen Anfall). Andererseits sollen Auffälligkeiten oder Symptome, die sich nach dem Anfall einstellen, beschrieben werden (postiktale Phase, z. B. verzögerte Reorientierung nach einem generalisierten Krampfanfall). Betont werden muss, dass eine solche Phaseneinteilung nur beschreibenden Charakter hat und nicht impliziert, dass das pathophysiologische Korrelat des Anfalls nicht auch phasenübergreifend aktiv ist. So ist die sensorische Aura vor einem generalisierten Krampfanfall im Sinne einer fokalen Einleitung natürlich bereits Teil des epileptischen Geschehens.
Die Beschreibung der
Dauer des Ereignisses sollte nicht nur auf den eigentlichen Anfall, sondern auch auf die prä- und postiktale Phase abheben. Bei der Angabe der
Anfallsfrequenz kann es ggf. wichtig sein, auch zu vermerken, ob diese zu bestimmten Zeiten gehäuft im Sinne von Clustern auftreten. Von besonderer Bedeutung für die artdiagnostische Einordnung von Anfällen ist schließlich der
situative Kontext ihres Auftretens (aus dem
Schlaf heraus? Konfliktsituation?) oder ob gar
Provokationsfaktoren (z. B.
Schlafentzug, Blutsehen) auszumachen sind.
Anfallsfolgen können Verletzungen etwa durch einen Sturz oder einen Zungenbiss sein oder auch prolongierte neurologische Defizite wie die Todd’sche Parese.
Synkopen
Bei
Synkopen handelt es sich um kurzzeitige Ohnmachten (Sekunden bis wenige Minuten), die durch eine globale Drosselung der Hirndurchblutung verursacht werden. Letztere stellt pathogenetisch den gemeinsamen Nenner aller Synkopenformen
dar. In ätiologischer Hinsicht bilden die Synkopen jedoch eine sehr heterogene Krankheitsgruppe, wobei eine erste Orientierung die Zuordnung zu einer der beiden großen Subgruppen, der neurogenen und der
kardialen Synkopen, bietet. Die oben genannte Definition impliziert, dass die Begriffe „kurze Ohnmacht“ und „Synkope“ nicht synonym gebraucht werden sollten. So sind
epileptische Anfälle kein primär zerebrovaskuläres Phänomen und fallen damit nicht unter den Oberbegriff „Synkope“.
Bei den neurogenen
Synkopen gilt es zwei grundlegend verschiedene Mechanismen zu differenzieren. Bei den relativ häufigen vasovagalen Synkopen (Anteil unter den Synkopen: 60–70 %; synonym: Reflexsynkopen
, „neurally mediated syncopes“) wird von speziellen medullären Zentren aktiv eine Vagusaktivierung und eine Sympathikushemmung ausgelöst mit der Folge einer Bradykardie oder Asystolie sowie einer peripheren Vasodilatation mit konsekutivem Blutdruckabfall. Auslösend wirken verschiedene Reize oder Situationen (z. B. Senkung des zentralen Blutvolumens nach langem Stehen, Reizung viszeraler Afferenzen), deren Nachweis die Zuordnung zu einer Unterform der vasovagalen Synkopen begründet (Tab.
2). Betroffen sind meist ansonsten gesunde Personen. Bei der selteneren neurogenen orthostatischen Hypotension (Anteil an den Synkopen: <10 %) besteht dagegen eine Insuffizienz des Gefäßsympathikus: aufgrund von prä- oder postganglionären Läsionen oder auch von zentralen Läsionen des medullären Baroreflexzentrums (Nucl. tractus solitarii) kann der Sympathikus angesichts einer orthostatischen Blutvolumenverschiebung in die Beine keine ausreichende kompensatorische Vasokonstriktion mehr leisten. Zahlreiche autonome Störungen betreffen zudem die Steuerung der Herzrate durch den Vagus, sodass beim Blutdruckabfall eine angemessene kompensatorische Tachykardie ausbleibt.
Schlafbezogene Anfälle
Unter normalen physiologischen Bedingungen bestehen beim Menschen klare Grenzen zwischen dem Wachzustand und dem
Schlafen und innerhalb des Schlafzustandes zwischen den verschiedenen Schlafstadien, die sich zudem in einer geordneten Abfolge in eine komplexe Schlafarchitektur einfügen. Die Abgrenzung dieser verschiedenen Bewusstseinszustände und die Steuerung der spezifischen physiologischen Abläufe innerhalb der Schlafstadien erfolgt durch das Zusammenspiel bestimmter hypothalamischer und Hirnstammkerngebiete. Fehlfunktionen in diesem Konzert der Kerngebiete können dazu führen, dass Merkmale einzelner Schlafstadien abrupt in den Wachzustand einbrechen können wie bei der
Narkolepsie oder dass die physiologische Hemmung von Motorik und Verhaltensabläufen im Schlaf ausfällt, was zu attackenartigen motorischen Phänomenen oder Verhaltensweisen im Schlaf wie bei den
Parasomnien führt.
Narkolepsie
Die
Narkolepsie stellt eine syndromale Erkrankung dar, die durch
Tagesschläfrigkeit oft assoziiert mit Verhaltensautomatismen, attackenartigem Einschießen von Schlafphänomenen in den Wachzustand sowie gestörten Nachtschlaf gekennzeichnet ist (s. auch Kap. „Schlafstörungen“). Die Tagesschläfrigkeit mit imperativen Einschlafattacken stellt das Kernmerkmal der Narkolepsie dar. Andere Symptome können fehlen. Die International Classification of
Sleep Disorders, 2. Auflage (
ICSD-2; American Academy of Sleep Disorders
2005), unterscheidet als Unterformen die
Narkolepsie mit und ohne Kataplexie.
Epidemiologisch ist die
Narkolepsie bei einer
Prävalenz von 26–50/100.000 relativ selten; sie manifestiert sich zumeist schon im Jugendalter.
Ätiologisch liegt in der Regel die idiopathische Variante vor; nur selten – etwa bei Hirnstammprozessen – treten narkoleptische Symptome symptomatisch auf.
Pathophysiologisch bestehen Dysfunktionen in mehreren Transmittersystemen wie dem cholinergen und dem noradrenergen System; die meisten Erkenntnisse liegen zu dem Neuropeptid Hypokretin (auch Orexin genannt) vor. Ein wesentliches Korrelat der Narkolepsie stellt offenbar eine Verminderung der hypokretinsezernierenden Neuronen im dorsolateralen Hypothalamus dar, und der Nachweis eines deutlich verminderten Hypokretinspiegels im Liquor ist derzeit der wichtigste Biomarker für das Vorliegen einer Narkolepsie.
Parasomnien
Unter
Parasomnien versteht man das Auftreten abnormer körperlicher oder psychischer Aktivität während des
Schlafes. Dabei wird entsprechend der Assoziation mit bestimmten Schlafphasen zwischen Parasomnien des NREM- und des
REM-Schlafes unterschieden. Als bislang noch wenig beachtete Parasomnieform soll hier die
REM-Schlaf-Verhaltensstörung näher beleuchtet werden (s. auch Kap. „Schlafstörungen“).
REM-Schlaf-Verhaltensstörung
Die
REM-Schlaf-Verhaltensstörung ist selbst in Neurologenkreisen noch wenig bekannt, obwohl sie häufig die Erstmanifestation verschiedener neurodegenerativer Erkrankungen darstellen kann. Diese Parasomnie des
REM-Schlafes stellt gewissermaßen das Gegenstück zur
Schlafparalyse und
Kataplexie der
Narkolepsie dar, die durch das Eindringen der REM-Paralyse in den Wachzustand charakterisiert sind. Bei der REM-Schlaf-Verhaltensstörung unterbleibt dagegen physiologische Muskellähmung („REM-Atonie“) da, wo sie physiologisch hingehört, nämlich im REM-Schlaf. Dies wird häufig im Sinne von Ausagieren von Trauminhalten verstanden.
Für das
pathophysiologische Verständnis der
REM-Schlaf-Verhaltensstörung ist das Wissen um die Anatomie der physiologischen REM-Atonie hilfreich. Diese wird durch eine Aktivierung des medullären Nucl. reticularis magnocellularis ausgelöst, der seinerseits durch andere Hirnstammkerne und indirekt über den Nucl. subthalamicus und den Globus pallidus erregt oder auch gehemmt werden kann (Noachtar und Eisensehr
2000). Degenerative Prozesse oder auch andersartige Läsionen in diesem Netzwerk können die REM-Atonie beeinträchtigen, sodass es zu Bewegungen während des
REM-Schlafes kommen kann. Unter den neurodegenerativen Erkrankungen sind es vor allem diejenigen des Parkinson-Spektrums (idiopathisches Parkinson-Syndrom, Multisystematrophie,
Lewy-Body-Demenz), die mit einer REM-Schlaf-Verhaltensstörung einhergehen können, wobei diese Parasomnie sich oft Jahre vor Ausbruch der eigentlichen Parkinson-Symptomatik manifestiert. Gehäuft findet sich die REM-Schlaf-Verhaltensstörung auch bei Narkoleptikern.
Genauere Erkenntnisse zur
Prävalenz dieser Störung fehlen, sie liegt aber vermutlich unter 1 % (Volk
2007). Überwiegend sind Männer betroffen, der Krankheitsbeginn liegt mit großer Streubreite um das 60. Lebensjahr.
Psychisch verursachte Attacken
Zahlreiche psychische Erkrankungen wie die
Schizophrenie, die
Angststörungen oder die
somatoformen Störungen können mit paroxysmal verlaufenden Veränderungen von Bewusstsein, Motorik, Wahrnehmung und anderen in der Übersicht unter Abschn.
1 aufgeführten Funktionsbereichen einhergehen und erfüllen damit die eingangs vorgeschlagene Definition von Anfällen. Häufig sind bei solchen Attacken dem Untersucher die typischen Auslösefaktoren schnell erkennbar oder aber die psychische Grunderkrankung ist schon bekannt, sodass eine korrekte diagnostische Zuordnung der Attacke leichtfällt (z. B. erlaubt ein massiver Erregungszustand nach Exposition mit einem angstbesetzten Reiz bei einem Phobiker rasch die Diagnose einer Angstattacke). In diesem Abschnitt sollen deshalb solche
psychischen Störungen abgehandelt werden, bei denen die Diagnose zumindest dem Untersucher ohne einschlägige Expertise besonders schwerfällt (mitunter wird die korrekte Diagnose sogar erst nach Jahren gestellt) und Fehldiagnosen im Sinne neurologischer oder internistischer Erkrankungen häufig vorkommen. Dabei handelt es sich einerseits um die
Panikstörung, andererseits um die dissoziativen Anfälle.
Panikstörung
Diese Störung ist durch das attackenartige Auftreten heftigster Angstzustände mit körperlicher Begleitsymptomatik gekennzeichnet, wobei sich diese im Unterschied zu Angstattacken bei
spezifischen Phobien meist „aus heiterem Himmel“, also ohne erkennbaren Auslöser, manifestieren. Die Patienten tragen oft auch primär die somatischen Beschwerden vor, räumen die eigentliche Angst erst nach gezielter Befragung ein, attribuieren diese selber gerne als sekundäre Folge des als bedrohlich erlebten körperlichen Zustandes. So kann der Untersucher rasch dazu verleitet werden, eine rein somatisch orientierte Differenzialdiagnostik zu veranlassen.
Dissoziative Anfälle
Zu den nichtepileptischen Anfällen mit einem besonders hohen Verwechslungsrisiko sowohl zu
epileptischen Anfällen als auch zu
Synkopen zählen die sog. dissoziativen Anfälle, die auch häufig pseudoepileptische, psychogene oder „hysterische“ Anfälle genannt werden. Nosologisch ordnet die ICD-10 dieses Störungsbild der Gruppe der
dissoziativen Störungen zu, wozu u. a. auch die dissoziative Bewegungsstörung (z. B. psychogene Lähmung) gehört. Gemeinsam ist den
dissoziativen Störungen, dass es hier zu einer Desintegration von Bewusstsein, psychischen und körperlichen Funktionen kommt, ohne dass eine organische Krankheitsursache vorliegt. Bei den dissoziativen Anfällen können alle semiologischen Ebenen (Abschn.
1) betroffen sein, vorrangig kommt es aber zu paroxysmalen Veränderungen im Bereich der Motorik bzw. des Verhaltens, des Affektes und des Bewusstseins.
Facharztfragen
1.
Welche Maßnahmen stellen die obligatorische Basisdiagnostik von Anfällen dar?
2.
Welche neurologischen und psychischen Funktionsbereiche sind bei der Beschreibung der Anfallssemiologie zu berücksichtigen?
3.
Wie unterscheiden Sie
Synkopen und epileptische Anfälle?
4.
Nennen Sie häufige Ursachen von Synkopen.