Verständnis und Missverständnis: Schmerz und Psyche
Psychologische Faktoren bei
Schmerz bedeuten
-
für viele Patienten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Beschwerden („meine Schmerzen sind aber nicht psychisch“),
-
für nicht wenige Behandler eine kurzfristig entlastende Restkategorie („dieser Patient ist doch psychisch überlagert“),
-
für Kliniker und Wissenschaftler eine inzwischen kaum noch überschaubare Fülle von Einflüssen, die von psychopathologischen Zuständen bis hin zu Normvarianten reichen.
Erfahrungen mit Akutschmerzen bei alltäglichen Verletzungen, nach Unfällen oder Operationen prägen unsere Vorstellungen und Erwartungen hinsichtlich Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten. Bei unkomplizierten und akuten
Schmerzen erwarten und erhalten wir meist sofortige und anhaltende Hilfe ohne große Umwege. Bei dieser klassischen Sichtweise wird Schmerz als eine physiologische Reaktion verstanden, die durch die Erregung von Nozizeptoren erfolgt und deren Intensität – ähnlich wie bei Hitze oder Kälte – proportional zur Reizstärke ist. Dieser „echte“ Schmerz – so eine einfache und weit verbreitete Vorstellung – kann aber durch psychische Faktoren „verfälscht“ bzw. „überlagert“ werden. Daraus resultierende diagnostische und therapeutische Erwartungen sind verantwortlich für Irritationen, Enttäuschungen, Ärger und Verbitterung bei Patienten und Behandlern – wenn es um chronische Schmerzen geht. Bei Ableitungen an einzelnen Nerven im Labor sind klare Zuordnungen von Ursache und Wirkung, von Reiz- und Reaktionsstärke möglich. Im klinischen Alltag werden diese Erwartungen regelmäßig enttäuscht und enden häufig in den Sackgassen medizinischer und paramedizinischer Spezialisierungen.
Der Physiologe und Schmerzforscher Wall schildert seine eigenen Erfahrungen als angehender Arzt: Ausgestattet mit umfassendem und frischem Wissen aus Neurologie, Physiologie und Orthopädie habe die erste Begegnung mit Schmerzpatienten zu erheblicher Verwirrung geführt. Irgendwie seien die Reaktionen dieser Patienten anders als nach dem Lehrbuch zu erwarten (Wall
1999).
Die langwierige Suche nach der Schmerzursache, widersprüchliche Aussagen, schließlich die Suche nach wirksamen Medikamenten, die Umstellung, das Absetzen und Erproben neuer Substanzen wird von Patienten und Behandlern als beunruhigend erlebt. Verärgerte Reaktionen auf Seiten der Patienten („ich bin doch kein Versuchskaninchen“) und Ärzte („der ist ja nicht normal“) sind die Regel.
Anhaltende
Schmerzen sind ein direkter Beleg für therapeutische Hilflosigkeit. Hilflosigkeit mündet oft in Misstrauen und erheblichen Spannungen (Chertok et al.
1974). Vorschnell wird dann „die Psyche“ der Patienten angeschuldigt. Dies ist einer der Gründe, die die Rolle der Psychologie in der Schmerzbehandlung für Patienten irritierend machen, besonders dann, wenn die ersten Kontakte mit diesem Fachgebiet am Ende einer erfolglosen diagnostischen und therapeutischen Kaskade stehen. Bei Schmerz eskalieren diese Missverständnisse zudem besonders schnell, weil es keine objektive Messung gibt. Ausschließlich die subjektiven Angaben der Patienten stehen als Information zur Verfügung, d. h. Vertrauen zwischen Patienten und Behandlern ist in besonderer Weise erforderlich.
Entwicklung und Probleme psychologischer Konzepte
Psychologische Faktoren
werden als Alternativerklärungen herangezogen, wenn die Ursachen von
Schmerzen nicht ausreichend somatisch erklärbar sind. Damit verbunden ist eine Dichotomisierung in organisch vs. nichtorganisch, die sich selbst in der aktuellen Fachliteratur noch immer findet (Ciaramella et al.
2004).
Damit verknüpft sind auch implizite Annahmen, die selten klar ausgesprochen werden:
In seinem Beitrag mit dem Titel „Verwirrung, Furcht und Selbstüberschätzung“ stellt Bilkey (
1995, S. 272) fest:
Trotz großartiger Erfolge der Medizin bei der Heilung spezifischer Erkrankungen gibt es bei chronischem
Schmerz eine merkwürdige Panne: Die beeindruckende medizinische Technologie scheint ungeeignet für die Diagnostik und Behandlung von chronischen Schmerzen.
Chronische
Schmerzen sind nicht einfach länger anhaltende akute Schmerzen, sie sind mit den für diese entwickelten – durchaus erfolgreichen – Konzepten nicht mehr ausreichend erklär- und therapierbar. Das führt zwangsläufig zu Irritationen und zu Erklärungsversuchen, die außerhalb somatischer Kausalmodelle liegen.
Schmerz und psychische Störungen
Studien zum Zusammenhang zwischen
Schmerz und psychischen Faktoren
beschränkten sich anfangs auf eine Suche nach
psychischen Störungen, durch die chronische Schmerzen erklärt werden könnten. Der Begriff „Schmerzpersönlichkeit
“ („pain prone personality“) geht auf diesen Ansatz und die einflussreichen Arbeiten von Engel zurück (Engel
1959):
-
Gesucht wurde nach Kausalfaktoren, die für die Schmerzen verantwortlich sind.
-
Untersucht wurden typischerweise hochausgewählte Gruppen von Patienten, die sämtliche medizinischen Behandlungsverfahren erfolglos durchlaufen hatten und schließlich – am vorläufigen Ende der somatischen Diagnostik-Therapie-Kette – bei psychologisch/psychiatrischer Diagnostik und Therapie angelangt waren.
-
Gefunden wurden Patienten mit schweren
psychischen Störungen und erheblichen Traumatisierungen in der Kindheit.
Der Eindruck entstand, bei Patienten mit chronischen
Schmerzen handele es sich um eine relativ homogene Gruppe. Wie sicher die Diagnosen waren und wie häufig sich diese Störungen im Verlauf der diagnostischen und therapeutischen Enttäuschungen der Patienten entwickelt hatten, ist nicht rekonstruierbar.
Bei diesem Ansatz verstärken sich zwei methodische Probleme in fataler Weise:
-
Die retrospektive Erfassung wichtiger biografischer Informationen ist äußerst fehleranfällig, die
Validität ist bedenklich (Esser et al.
2002).
-
Die mit
Schmerz meist verbundene aktuelle affektive Belastung hat erheblichen Einfluss auf Inhalt und Tönung der erinnerten Informationen (Eich et al.
1990).
Je repräsentativer die untersuchten Patientengruppen und je zuverlässiger die verwendeten Verfahren waren, desto niedriger war der Anteil von Patienten mit schweren
psychischen Störungen (Rugh u. Solberg
1985).
Die Entwicklung chronischer
Schmerzen lässt sich in der Regel nicht ursächlich auf
psychische Störungen zurückführen. In einer interkulturellen Studie mit über 80.000 Teilnehmern zeigte sich zwar bei Personen eine höhere Wahrscheinlichkeit für Depressionen oder
Angststörungen, wenn sie gleichzeitig unter chronischen Schmerzen litten. Bei der überwiegenden Mehrzahl der von Schmerz betroffenen Menschen wurde jedoch keine relevante Psychopathologie diagnostiziert (Demyttenaere et al.
2007). Die Autoren schließen aus ihren Ergebnissen:
Psychische Störungen sind weder eine häufige Ursache noch eine zwangsläufige Konsequenz chronischer Schmerzen. Chronische Schmerzen treten in der Regel auch nicht – im Sinne einer Somatisierung – statt einer psychischen Störung auf (Crombez et al.
2009, Merskey
2009).
Erste Integrationsversuche: Gate-Control-Theorie
Startpunkt für die Entwicklung differenzierter psychologischer Schmerzmodelle war die Gate-Control-Theorie (GCT) von Melzack u. Wall
1965. Einige Besonderheiten sind für dieses Konzept kennzeichnend:
-
Physiologische und psychologische Komponenten werden als prinzipiell gleichzeitige und gleichwertige Faktoren integriert.
-
Dadurch ist es möglich, somatische und/oder psychologische Erklärungsmodelle als komplementäre statt als alternative Konzepte zu verstehen.
-
Relevante psychologische Prozesse werden eher allgemein beschrieben.
-
Dadurch wird ein breiter Rahmen für die Erforschung sehr heterogener psychophysiologischer Schmerzkonzepte geschaffen.
Vor allem von der Vorstellung, dass zentrale Kontrollprozesse die Entwicklung, Weiterleitung und Konsequenz nozizeptiver Informationen modifizieren, gingen Impulse für die Forschung aus. Kognitionen – Bewertungen, Erwartungen, Überzeugungen, Vorstellungen von
Schmerz – sowie Gefühle interagieren danach mit den sensorischen Informationen. Menschen bewerten und vergleichen Schmerzinformationen auf ihrem bisherigen Erfahrungshintergrund. Gleichzeitig werden wiederum die mit Schmerz verbundenen Gefühle und das Verhalten beeinflusst.
Obwohl einige Vermutungen der GCT nicht zutreffen, konnten die skizzierten psychophysiologischen Wechselwirkungen und direkten Einflüsse kognitiver Faktoren durch aktuelle Forschungsergebnisse untermauert werden (u. a. Hirsch u. Liebert
1998, Petrovic u. Ingvar
2002). 30 Jahre nach der Veröffentlichung der GCT stellte Wall fest:
Für die Zeit damals war es keine schlechte Idee … (Wall
1996, S. 12)
Die Gate-Control-Theorie integriert physiologische, biochemische, psychophysiologische und psychologische Prozesse.
Schmerz entwickelt sich als eine aktive Leistung des Zentralnervensystems und ist nicht das Ergebnis passiver Reizleitung. Psychische Prozesse sind feste Bestandteile der Entwicklung und Auswertung sensorischer Signale: Kognitive und affektive Aspekte sind ebenso von Bedeutung wie sensorische.
Die Vorstellung von getrennten „Einheiten“ für Signalleitung und -auswertung ist abwegig: Tatsächlich werden nozizeptive Signale bereits durch absteigende psychophysiologische Einflüsse direkt verändert, sensorisches und kognitives System funktionieren als Einheit (Chapman u. Okifuji
2004, Wall
1996).
Verhalten, Kognitionen und psychische Störungen
Psychologische Faktoren in der Schmerzdiagnostik und -therapie im Rahmen interdisziplinärer Behandlungskonzepte umfassen
psychische Störungen bzw. Belastungen, Kognitionen und Verhalten. In Theorie, Diagnostik und Therapie bestehen zwischen diesen nur scheinbar getrennten Phänomenen viele Überschneidungen und Wechselwirkungen.
Verhalten
Wesentliche Impulse zur Integration psychologischer Konzepte kamen aus den lerntheoretischen Erkenntnissen, die von Fordyce in die
Schmerztherapie eingeführt wurden (Fordyce
1974). Diese konzentrieren sich direkt auf die Analyse des Verhaltens und seine Veränderung.
Schmerzverhalten wird nicht vorwiegend als Symptom einer zugrundeliegenden Erkrankung betrachtet, sondern als eigenständiges Problemverhalten, dessen Auftreten und Ausprägung entscheidend durch Lernfaktoren bestimmt wird: Interaktionsmuster wie Mitleid, Schonung und Aufmerksamkeit – bei akuten Erkrankungen sinnvoll – können als wirksame Verstärker zur Chronifizierung von Schmerzverhalten beitragen: Positive Konsequenzen erhöhen die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens, während unangenehme Konsequenzen zu einer vorübergehenden oder dauerhaft reduzierten Auftretenswahrscheinlichkeit führen.
Schmerzverhalten kann auf unterschiedliche Art durch Lernen beeinflusst werden.
-
Zuwendung und Aufmerksamkeit durch Angehörige, Ärzte, Pflegepersonal,
-
medikamenteninduzierte Euphorie,
-
Vermeidung unangenehmer Tätigkeiten,
-
Nichtbeachtung von gesundem Verhalten,
-
mangelnde Alternativen zum Schmerzverhalten.
Unmittelbar auf lerntheoretische Prinzipien zurückzuführen ist die Medikation nach Zeitschema statt nach Bedarf.
Auch die inzwischen akzeptierten Prinzipien bei der Aktivitätssteigerung und beim Abbau von Vermeidungsverhalten sind lerntheoretisch abgeleitet. Diese Grundsätze können in der täglichen Praxis als direkt umsetzbare Empfehlung ungünstiges Verhalten von Patienten ändern helfen.
-
Die Patienten sollten die Grenze für Belastungen wie Gehen, Sitzen, Treppen steigen etc. herausfinden (schmerzfrei oder keine wesentliche Schmerzzunahme).
-
Es sollte eine allmähliche, systematische und regelmäßige Steigerung (gemeinsam) geplant werden; dabei sollten realistische Zwischenziele festgelegt werden anstelle von Versuchen, „mit Gewalt“ derzeit nicht erreichbare Grenzen zu überschreiten („lieber langsam in die richtige Richtung als schnell in die falsche“).
-
Für unterschiedliche Patientengruppen werden inzwischen erfolgreich Konfrontationsverfahren angewandt (Vlaeyen et al.
2012).
Damit Patienten solche Interventionen akzeptieren und tatsächlich umsetzen, ist eine sorgfältige und auf ihre Vorstellung abgestimmte Vermittlung von Informationen Voraussetzung.
Kognitionen
Kognitive Prozesse – Aufmerksamkeit, Vorstellungen über Ursachen und Prognose, Erwartungen und Bewertungen von
Schmerz – führen bei vergleichbaren körperlichen Schädigungen zu unterschiedlichen Resultaten hinsichtlich Schmerzstärke und Beeinträchtigung von Stimmung und Aktivität. Experimentelle Studien belegen, dass diese Faktoren auch bei identischen physikalischen Schmerzreizen für die Unterschiede in den Reaktionen der Personen entscheidend sind (Hirsch u. Liebert
1998). Verhalten und Gefühle werden dabei durch Kognitionen direkt beeinflusst.
Bildgebende Verfahren belegen, dass bei diesen Vorgängen komplexe Wechselwirkungen unterschiedlicher Regionen des Gehirns stattfinden (Petrovic u. Ingvar
2002).
Patienten mit
Schmerzen entwickeln häufig einen spezifischen und ungünstigen Stil der Bewertung: Katastrophisieren
. Diese Kognition
ist charakterisiert als
-
anhaltendes Grübeln über Schmerz,
-
Überschätzung der bedrohlichen Aspekte,
-
Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten zur erfolgreichen Bewältigung der Beschwerden.
Katastrophisieren ist in einer Fülle von Studien ein bedeutsamer Prädiktor für die Schmerzerfahrung und deren ungünstige Auswirkungen (Severeijns et al.
2001,
2002). Für das Ausmaß schmerzbedingter Behinderung hat Katastrophisieren langfristig eine wichtigere Bedeutung als
Schmerz selbst oder die somatischen Befunde:
Wie stark Patienten mit
Rückenschmerzen langfristig behindert sein werden, kann mit der Ausprägung von Katastrophisieren zuverlässiger vorhergesagt werden als durch die somatischen Untersuchungsbefunde (Burton et al.
1996).
Schmerz erzwingt Aufmerksamkeit: Sich auf Schmerz zu konzentrieren, sich ihm zuzuwenden ist ein normaler und biologisch sinnvoller Vorgang. Die mit Schmerz verbundenen Gedanken wiederum – Erwartungen, Bewertungen und Vorstellungen zur Ursache – stehen in Wechselwirkung mit Verhalten und Gefühlen, mit Depressionen und Ängsten. Wall brachte dieses scheinbare (methodische) Dilemma auf den Punkt, indem er feststellt:
Unser Gehirn sitzt nicht passiv herum und ‚liest‛ die Informationen, die vom Gewebe und dem Rückenmark ausgehen. Es schickt Impulse aus, die bereits die eingehenden Informationen verändern. (Wall
1999)
Die Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen nach kognitiv-behavioralen Prinzipien ist gut belegt (Morley et al.
1999). Ebenso gut belegt sind in epidemiologischen Studien die persönlich und gesellschaftlich nachteiligen Effekte ungünstiger Krankheitskonzepte (Gross et al.
2006).
Depression, Angst und Furcht
Plakative Aussagen bezeichneten
Schmerz als „primär Ausdruck eines depressiven Zustandes“ (Blumer u. Heilbronn
1982, S. 390). Auch wenn diese Sichtweise das Schmerzverständnis über Jahrzehnte geprägt hat, steht sie im Widerspruch zu den Ergebnissen einer Vielzahl von Studien: Schmerzen führen ungleich häufiger zu Depression als umgekehrt (Dohrenwend et al.
1999, Fishbain et al.
1997, Williams
1998).
Dennoch:
Depressive Störungen finden sich bei Schmerzpatienten im Vergleich mit der Bevölkerung häufiger (Banks u. Kerns
1996, Romano u. Turner
1985). Zwischen 15 und 54 % liegt der Anteil von Schmerzpatienten mit klinisch relevanten Depressionen, wenn zuverlässige diagnostische Verfahren verwendet werden. Dabei steigt der Anteil mit dem (von der Zeitdauer unabhängigen) Ausmaß der Chronifizierung (Wurmthaler et al.
1996).
Depression und
Schmerz ähneln sich: Vor allem somatische Symptome, die im Rahmen depressiver Verstimmungen vorkommen, finden sich auch bei Schmerzpatienten häufig (Williams u. Richardson
1993).
Schmerz hat Auswirkungen auf unterschiedliche Lebensbereiche, auf das Selbstverständnis der betroffenen Personen und auf ihre Rollen in Beruf, Familie und Freizeit. Sozialer Rückzug, Verlust von Anerkennung und zunehmende Misserfolge sind Komponenten bei der Entwicklung depressiver Symptome (Harris et al.
2003). Die Schmerzstärke selbst zeigt dagegen meist keinen direkten Zusammenhang mit dem Ausmaß bedrückter Stimmung. Eine wichtige Variable, die diesen Zusammenhang moderiert, ist Flexibilität: Je geringer diese ausgeprägt ist, desto enger ist die Beziehung zwischen Schmerzintensität und bedrückter Stimmung. Bei Menschen, die ihre Ziele stärker der aktuellen Situation anpassen, also „auch einmal zurückstecken“, ist die Schmerzintensität für die Stimmung von geringer Bedeutung (Schmitz et al.
1996). Schmerzakzeptanz – die Bereitschaft, Schmerzen zumindest zeitweise als zum Leben gehörend zu akzeptieren – ist ebenfalls mit geringerer emotionaler Beeinträchtigung verbunden (Kranz et al.
2010).
Kognitiv-behaviorale Modelle beschreiben gemeinsame Prozesse, die sich bei Depression und bei
Schmerz finden lassen: Kognitionen, die automatisch ablaufen und mit einer negativen Sicht der eigenen Person, der Umwelt und der Zukunft verbunden sind. Insbesondere Katastrophisieren ist auch hier eine zentrale und gut untersuchte Variable, die in schmerztherapeutischen Behandlungsprogrammen als Zielvariable eine zunehmende Rolle spielt.
Die Identifizierung von Patienten mit dem Risiko
depressiver Störungen ist in Kliniken oder Praxen wichtig, die auf
Schmerz spezialisiert sind, denn depressive Symptome sind bei Schmerzpatienten mit ungünstigen Prognosen verbunden.
Für die Entwicklung anhaltender Rücken- und
Nackenschmerzen und die damit verbundene Behinderung spielen depressive Verstimmungen eine Rolle; Operationsergebnisse sind umso schlechter, je bedrückter die Patienten vorher sind. Präoperative Screenings sollten diesen Aspekt berücksichtigen (Epker u. Block
2001, Hasenbring et al.
1994, Linton
2000).
Ängste verstärken die Schmerzwahrnehmung und deren Folgen:
Schmerzen zu erleben ist regelmäßig mit der Annahme verbunden, dass eine körperliche Schädigung die „eigentliche“ Schmerzursache sei. Dass Aktivität schadet, dass Bewegung und Belastung zur Verschlimmerung dieser Schädigung führen und dass der „Körper für die Heilung Ruhe braucht“, sind übliche Vermutungen. Die Konsequenz dieses weit verbreiteten Konzeptes ist Vermeidungsverhalten
, das Patienten oft auch dann noch fortführen, wenn die Schmerzen bereits jahrelang bestehen und pathologische Ursachen ausgeschlossen sind. Das entsprechende Verhalten – z. B. Hinken, Schonung, häufiges Reiben oder Berührung der schmerzenden Stelle – kann bei längst ausgeheilter Verletzung fortbestehen, verbunden mit der Furcht vor bestimmten Bewegungen, mit messbaren Änderungen der Aktivität in den betroffenen Muskelgruppen und mit Einschränkungen der Mobilität.
Die daraus resultierende Behinderung ist somit keine „subjektive“ Einschätzung der Patienten, sondern eine körperlich begründbare Funktionsstörung, deren Entwicklung sich im Rahmen des „Angstvermeidungskonzeptes“ erklären lässt (Geisser et al.
2004, Vlaeyen et al.
1999). Das Ausmaß der erlebten Behinderung hängt dabei enger mit der Stärke der Furcht als mit der Schmerzintensität zusammen (Crombez et al.
1999).
Die Behandlung zielt auf die Konfrontation mit den bisher vermiedenen Bewegungen bzw. Situationen und auf den Abbau von Problemverhalten (z. B. Schonung, Überforderung), das mit nachteiligen physiologischen sowie kognitiv-emotionalen Konsequenzen verbunden ist.
Für den klinischen Alltag ist es wichtig, ungünstige Kognitionen und für die Patienten nachteiliges Verhalten zu identifizieren und nicht zusätzlich durch falsche Anweisungen (Schonung, Rückzug) oder bedrohliche Informationen zu fördern (“seien Sie vorsichtig, sonst sitzen Sie im Rollstuhl”; Locher u. Nilges
2001).
Psychologische Faktoren in der Behandlung
Interdisziplinäre Therapieprogramme betonen die aktive Rolle der Patienten. Ein zentrales Behandlungsziel ist es, Möglichkeiten zu finden, von
Schmerzen nicht vereinnahmt zu werden, sondern trotzdem ein zufriedenstellendes Leben zu führen. Unterschieden werden bei der Auseinandersetzung mit Schmerz dysfunktionale und funktionale Bewältigungsstrategie
n.
Die langfristigen Ergebnisse dieser Anstrengungen sind aber nicht immer eindeutig vorhersagbar. So kann z. B. Ablenkung kurzfristig hilfreich und sinnvoll, langfristig jedoch nachteilig sein und als Durchhaltestrategie zur Chronifizierung beitragen (Cioffi u. Holloway
1993).
Wenn wesentliche persönliche Ziele in Frage gestellt sind – und das ist bei
Schmerz der Fall –, werden Bewältigungsprozesse in Gang gesetzt, die eine befürchtete Bedrohung abwenden oder Verluste vermeiden sollen (Brandtstädter
1992). Dabei kann aktives Handeln sinnvoll sein, das auf eine Veränderung der Situation zielt: Den Arzt aufsuchen, an einem Schmerzbewältigungstraining teilnehmen oder ein Stehpult anschaffen, wenn Sitzen zu schmerzhaft ist, sind Beispiele für diese Form der Bewältigung. Wenn ausreichender Handlungsspielraum vorhanden ist, ist aktives Handeln sinnvoll.
Es gibt aber Situationen, in denen aktives Handeln sogar absurd sein kann. Wenn Handeln, das auf die Lösung eines Problems zielt, nicht erfolgreich ist, wenn Kontroll- und Veränderungsmöglichkeiten fehlen – und dies scheint bei
Schmerz sehr häufig der Fall –, stehen Anpassungsprozesse im Vordergrund. Damit ist eine Veränderung der eigenen Standards, eine Neubewertung der Situation oder von Zielen gemeint: Aufgabe des Ziels „Schmerzfreiheit“, Vergleiche mit anderen Patienten, die schlechter dran sind und eine Aufwertung erreichbarer Ziele – z. B. ein glückliches Familienleben zu führen – gehören dazu.
Flexibilität bei der Anpassung persönlicher Ziele erwies sich als „Schutzfaktor“ gegen Depression (Schmitz et al.
1996). Ähnliche Ergebnisse berichten McCracken u. Eccleston (
2003). Sie verglichen die Auswirkungen einer akzeptierenden Haltung gegenüber
Schmerz mit den Konsequenzen von aktivem Coping. Akzeptieren heißt nicht resignieren, sondern
-
Verzicht auf Kampf gegen Schmerz,
-
realistische Auseinandersetzung mit Schmerz,
-
Interesse an positiven Alltagsaktivitäten.
Diese Form des Akzeptierens war mit geringerer Depressivität, stärkerer Aktivität und weiteren günstigen Folgen in vielen Bereichen verbunden.
Direkte therapeutische Konsequenz dieser konzeptionellen Weiterentwicklung verhaltenstherapeutischer Methoden ist die zunehmende Anwendung achtsamkeitsbasierter Verfahren (Schmidt et al.
2011).
Psychologische Faktoren spielen bei allen Schmerzformen eine Rolle und sollten bei der Behandlung berücksichtigt werden (Turk
2002). Im klinischen Alltag sollten sie auch bei primär somatischer Diagnostik und Therapie integriert werden. Dies bedeutet, dass Patienten in angemessener Weise über ihre Beschwerden informiert werden, dass sie nach ihren Vorstellungen, Befürchtungen und Erwartungen gefragt werden, dass realistische Erwartungen geweckt und unrealistische berichtigt werden. Es bedeutet auch, bei Patienten mit chronischen
Schmerzen eine Balance zwischen Überforderung („damit müssen Sie leben!“) und Überversorgung („da ist jetzt gerade eine ganz neue Methode in Amerika herausgekommen, das wäre vielleicht noch eine Idee“) anzustreben.
Mit einem einfachen Schmerzverständnis ist die Gefahr verbunden, dass Patienten mit
psychischen Störungen (z. B. Depression, Angststörung) somatisch unterversorgt werden:
Psychische Störungen immunisieren nicht gegen körperliche Erkrankungen. Umgekehrt werden Patienten mit klaren somatischen Befunden hinsichtlich psychologischer Faktoren unterversorgt: Schmerzbezogene Ängste und depressive Verstimmungen, ungünstiges Krankheitsverhalten, aber auch psychopathologische Komorbiditäten werden vernachlässigt.
Einige dieser Defizite und Fehlannahmen traditioneller Schmerzkonzepte wurden in der 2009 veröffentlichten deutschen Version der ICD-10 korrigiert: Die Klassifikation wurde um die neu eingeführte Diagnose „Chronische
Schmerzstörung mit Somatischen und Psychischen Faktoren“ (F45.41) erweitert, weil die bisherigen diagnostischen Kriterien den biopsychosozialen Charakter chronischer
Schmerzen nicht wiedergegeben hat (ICD-10-GM Version
2010; Nilges u. Rief
2010). Für die Mehrzahl der Patienten ist eine Dichotomisierung in psychisch vs. organisch bedingte Schmerzen unzutreffend und widerspricht dem gültigen Wissensstand. Mit der erweiterten Diagnose wird in angemessener Weise zum Ausdruck gebracht, dass psychischen Faktoren regelmäßig eine wichtige Bedeutung für die Chronifizierung und bei der Behandlung zukommt, auch wenn die Kriterien einer klassischen psychischen Störung nicht erfüllt sind. Erst durch die Komplexität der Faktoren und die Wechselwirkung zwischen somatischen und psychosozialen Einflüssen beim Chronifizierungprozess ist chronischer Schmerz in den meisten Fällen verstehbar.
Interdisziplinäre Teams mit biopsychosozialem Behandlungskonzept
sind nicht gezwungen, somatische und psychische Faktoren zu trennen, sie behandeln gleichzeitig innerhalb der einzelnen Fachrichtungen beide Aspekte:
-
Medizinische Diagnostik und Therapie hilft Patienten auch, angemessene Schmerzkonzepte zu entwickeln.
-
Physiotherapie kann durch den Abbau von Vermeidungsverhalten und Aufbau körperlicher Belastbarkeit günstige Überzeugungen und Optimismus fördern.
-
Psychotherapie kann auf die Revision unrealistischer Ziele abzielen und damit anhaltende Überforderung mit ungünstigen körperlichen Konsequenzen reduzieren helfen (Turk
2001, Sullivan
2001).
Bisher wurden in nur wenigen Studien Kombinationen von somatischen und psychologischen Behandlungskomponenten bei Schmerzpatienten direkt mit den jeweiligen Monotherapien verglichen. Konsistentes Ergebnis dieser Studien ist, dass kombinierte Behandlungen gegenüber entweder somatischen oder psychosozialen Programmen allein deutlich wirksamer sind (Turk
2001).