Im Folgenden werden zentrale Erkenntnisse der wissenschaftlichen Evaluation vorgestellt. Dabei konzentrieren sich die Ausführungen zunächst auf die durch die professionellen Akteure beobachteten Potenziale des LMB für die Teilnehmenden. Im Anschluss wird auf die Beurteilung des Implementationsprozesses durch die Übungsleitenden und Mitarbeitenden in den beteiligten Einrichtungen eingegangen.
(1) Potenziale des LMB für die Nutzer in stationären Pflegeeinrichtungen
Mit dem LMB wurde ein Angebot entwickelt, dass bei den Teilnehmenden (TN) und Übungsleitenden (ÜL) anfänglich auf Skepsis stieß („noch so ein Angebot“; „das ist mir zu verspielt“). In der Praxis wurde es jedoch angenommen, machte allen Beteiligten auch noch nach mehreren Monaten „Spaß“ und stieß auf eine langfristig stabile Teilnahmemotivation. Das wird u. a. daran sichtbar, dass einigen TN das Angebot auch nach 2,5 Jahren Teilnahme „nicht langweilig“ ist. Dies ist den TN zufolge u. a. darauf zurückzuführen, dass das LMB durch Alltagsthemen strukturiert wird und Übungen zur Förderung und zum Erhalt körperlicher und kognitiver Potenziale spielerisch miteinander kombiniert. Die Übungen finden die TN zwar „anspruchsvoll“, aber meist gut zu bewältigen, weil sie realistisch, leicht verständlich und nachvollziehbar sind.
Die zusätzlich zur Übungseinheit durchzuführenden täglichen Bewegungstrainings (Mein tägliches Bewegungsprogramm [MTB]) stießen bei den TN allerdings nicht auf die gleiche Akzeptanz und Motivation wie die Übungseinheiten. Im Projektverlauf wurde daher versucht, Betreuungskräfte stärker in die Umsetzung des LMB zu involvieren: Sie sollten die TN unterstützen und sie an die Durchführung des MTB erinnern.
In allen LMB-Gruppen konnte zudem beobachtet werden, dass sich unter den TN „das soziale Miteinander verstärkte“ und ein „Gruppengefühl“ entwickelte, was u. a. dazu führte, dass sich die TN bei den Übungen gegenseitig unterstützten. Sie begannen, Interesse aneinander zu entwickeln und auch außerhalb der Übungseinheiten Zeit miteinander zu verbringen (z. B. gingen sie gemeinsam spazieren oder besuchten Beschäftigungsangebote in den Einrichtungen).
Zusammenfassend kann dem Angebot bescheinigt werden, dass es Menschen im Alter zwischen 65 und 100 Jahren mit niedrigem Pflegegrad erreicht und bei den TN auf überwiegend positive Resonanz stößt. Das kommt u. a. dadurch zum Ausdruck, dass nach anfänglicher Skepsis inzwischen eine starke Bindung an das Programm besteht. Die entwickelten „Bewegungswelten“ stoßen mittlerweile auf Akzeptanz und Zuspruch, denn sie ermöglichen eine den Teilnehmenden inhaltlich gut vermittelbare Struktur. Festzuhalten ist auch, dass den ÜL zufolge rasch positive Effekte auf die körperliche und geistige Aktivität wie auch auf das soziale Miteinander der TN zu beobachten sind.
(2) Entwicklungs- und Implementationsprozess des LMB
Um die Umsetzung des LMB zu ermöglichen, haben die am Projekt beteiligten Akteure aus ihrer Sicht „viel Arbeit“ geleistet. In der Tat kann ihnen hohes Engagement bescheinigt werden. Dennoch zeigten sich – wie bei Innovationsprojekten üblich – einige Umsetzungshürden. Dazu zählten:
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der hohe Zeitaufwand für die ÜL bei der Vor- und Nachbereitung des Angebots;
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Konkurrenz mit bereits bestehenden Angeboten;
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mangelnde personelle Unterstützung bei der Vor- und Nachbereitung des Programms in einigen Einrichtungen (hierzu gehören: Raum vorbereiten und aufräumen, Material vorbereiten und aufräumen, Teilnehmende sammeln und zurück in die Zimmer begleiten, Getränke bereitstellen etc.);
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unklare Absprachen zwischen externen ÜL und Pflegeeinrichtungen über zu erbringende organisatorische Leistungen bei der Vor- und Nachbereitung;
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fehlende Kommunikationsstrukturen und -wege zwischen ÜL und Mitarbeitenden der Einrichtung (hinsichtlich allgemeiner Informationen zum Programm, Entwicklung der TN, Auswirkungen des Programms in den Einrichtungen);
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fehlende Auseinandersetzung über die Integration des Programms in die Organisationskultur und bestehende Passungsprobleme.
Aus der Perspektive der ÜL stellt vor allem der mit der Umsetzung des LMB verbundene hohe Zeitaufwand eine große Hürde dar. Soeben geschulte ÜL betonen immer wieder, dass, „wenn man das LMB wirklich gut machen will“, die Vor- und Nachbereitung des Programms mit einem hohen Zeitaufwand einhergeht, der von ihnen „nebenbei zu Hause“ geleistet werden muss. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Mottos sehr detaillierte Anweisungen für die ÜL enthalten, um so Programmtreue zu gewährleisten und Verwässerungen zu vermeiden. Für sie bedeutet dies eine fast minutengenaue Umsetzung der einzelnen Übungen, die relativ wenig Flexibilität ermöglicht – ein Vorgehen, das für die meisten ÜL ungewohnt ist. Daher geht das Programm aus ihrer Sicht für sie „im Vergleich zu anderen Bewegungsangeboten mit einem Mehraufwand“ einher, der finanziell nicht ausgeglichen wird. Erst im späteren Verlauf, wenn die ÜL Routinen ausgebildet haben, reduziert sich der Zeitaufwand.
Im Modellprojekt erwies sich aus Perspektive der ÜL vor allem die Beliebtheit des LMB bei den TN als Grund, das Programm auch nach langer Zeit (mehr als zweieinhalb Jahre) weiterhin mit hoher Motivation und Bereitschaft anzubieten. Hinzu kommen die von ihnen und auch vom Pflegepersonal beobachteten positiven Effekte bei den TN. Diese in ihren Augen relativ schnell sichtbaren Auswirkungen ebenso wie die Tatsache, dass es entgegen den ursprünglichen Erwartungen gelang, zumindest geringfügig kognitiv beeinträchtigte Personen einzubeziehen, wurden ebenfalls als motivationsfördernd beschrieben.
Aus der Perspektive der Mitarbeitenden der Einrichtungen wiederum ist es wichtig, dass ÜL tätig werden, die nicht nur Kompetenz für die Durchführung komplexer Bewegungsübungen erworben haben, sondern zugleich Verständnis für die hier lebende Zielgruppe – hochaltrige und pflegebedürftige Menschen – und die schwierige Situation der Einrichtungen aufbringen. Aus ihrer Sicht ist daher nicht unwichtig, welche Personen als ÜL für das LMB gewonnen werden.
Dazu ist wichtig zu wissen, dass in der frühen Entwicklungsphase des LMB eine Kooperation mit dem organisierten Sport favorisiert wurde. Personen mit Erfahrungen bei der Durchführung von Sportkursen sollten auch das LMB in Pflegeeinrichtungen durchführen. Diese Strategie stieß seitens der Mitarbeitenden in den Einrichtungen auf unterschwellige und offene Kritik. Auch aus der Perspektive der wissenschaftlichen Evaluation ist gegen diese Strategie einzuwenden, dass sie der besonderen Situation der Klientel in stationären Pflegeeinrichtungen nicht entspricht, da sich die dort lebenden Personen meist in einer gesundheitlich fragilen und vulnerablen Situation befinden und speziell auf sie zugeschnittene Konzepte, besondere Formen der Ansprache und speziell für den Umgang mit dieser Zielgruppe qualifizierte ÜL benötigen [
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20]. ÜL, die nicht aus dem organisierten Sport ins LMB gekommen sind, bestätigten, dass ÜL „mehr Verständnis haben müssen“, um das Angebot zielgruppengerecht durchzuführen.
Im Projektverlauf wurde daher mehrfach darüber diskutiert, welche Berufsgruppe geeignet ist, das anspruchsvolle Programm in den Einrichtungen umzusetzen. Im Ergebnis wurden vermehrt Physio- und Ergotherapeuten als ÜL geschult. Diskutiert wurde auch über eine intensivere Einbeziehung des Pflegepersonals, da Gesundheitsförderung und Prävention in der stationären Langzeitversorgung in anderen Ländern explizit zu den Aufgaben der Pflege zählen, die partiell im Team mit Physio- und Ergotherapeuten durchgeführt werden. Die Umsetzung im LMB steht allerdings noch aus und wurde im Verlauf des Projektes nicht angegangen.
Die Rekrutierung der ÜL wurde auch unter einem anderen Gesichtspunkt erörtert und diskutiert: Bislang ungeklärt ist, ob zur Einrichtung gehörende interne oder aber externe ÜL, die von außen in die Einrichtung kommen, geeigneter für die Umsetzung des Programms sind. Während interne ÜL die Bewohner und somit auch die Mehrheit der TN kennen und zu ihnen „ein wesentlich besseres Verhältnis haben (als externe)“, ihre Fähigkeiten einschätzen können und zudem die Kommunikationsstrukturen in den Einrichtungen kennen und insgesamt einen unmittelbareren Zugriff auf das Programm haben, sind externe ÜL „fremde Leute“, kommen nur punktuell in die Einrichtungen und haben keinen engeren Bezug zu den TN. Bei ihnen besteht daher die Gefahr, dass das neue Programm nicht angemessen in die Organisationsstruktur und -kultur integriert wird und daher auf Ablehnung bei den Mitarbeitenden trifft.
Auch aus Sicht der ÜL kann die externe Position misslich sein, denn sie sind in hohem Maß auf die Unterstützung der Einrichtung angewiesen: So müssen Materialien und Räumlichkeiten vorbereitet und TN akquiriert werden etc. Sie benötigen Informationen über die TN und ihre Krankheitsgeschichte bzw. ihre Pflegesituation und ihren Funktionsstatus, bekommen diese aber oft nicht übermittelt. So berichtete ein ÜL bspw. von einem TN, den er gebeten hatte aufzustehen: „… und der hat eine neue Hüfte bekommen. Ja, woher soll ich denn das wissen?“ Dies zeigt exemplarisch, wie wichtig ein guter Informationsaustausch sowie die Existenz von eingespielten Kommunikationswegen sind – auch um zu ermöglichen, dass das Programm in der Einrichtung nicht als arbeitsintensives „Extra“ verstanden, sondern als fester Bestandteil der Organisation betrachtet und in die Alltagsroutinen integriert wird. Um das zu realisieren, sind Organisationsentwicklungsaufgaben zu bewältigen, die in der Entwicklungs- und Implementationsphase nicht mit höchster Priorität und verspätet angegangen wurden.
Zu Beginn des Projektes konnte beobachtet werden, dass Pflegekräfte (PK) die Umsetzung des LMB in den Einrichtungen zwar wohlwollend, aber zugleich distanziert betrachteten. Eine Ursache dafür bestand aus ihrer Sicht in der fehlenden Transparenz über das Projekt und das Programm. Deutlich wurde, dass sie bei der Entwicklung des Angebots, aber auch bei der modellhaften Implementation nicht intensiv eingebunden wurden. So war vielen PK nicht bewusst, dass Bewegungsförderung langfristig in die Pflegeeinrichtungen Einzug halten würde. Viele hielten das LMB für ein zeitlich befristetes wissenschaftliches Projekt, das mit Mehrarbeit, umfangreicher (zusätzlicher) Dokumentation und viel Terminorganisation rund um die Datenerhebungszeitpunkte verbunden war.
Von Beginn an wurde das LMB vonseiten vieler PK zudem als Programm gesehen, das nicht an die „richtige Zielgruppe“ adressiert war. Sie beklagten, dass nur jene Bewohner vom Programm profitierten, für die sowieso schon eine große Auswahl an Angeboten vorgehalten würde (weil sie mobiler wären), nicht aber diejenigen, die dringlicher anregende Angebote benötigten, wie etwa Personen, die schon auf einen Rollstuhl angewiesen wären, aber noch relativ selbstständig ihren Alltag gestalten könnten. Die erhobenen Daten zum Gesundheitszustand der TN bestätigten diese Einschätzungen.
Die Haltung der Pflegenden gegenüber dem LMB änderte sich tendenziell nach ca. 16–20 Monaten. Dann deutete sich an, dass das Programm nicht mehr länger als „Extra“ verstanden wurde. Ein Anzeichen für diese Entwicklung war bspw., dass die Bereitschaft zur Unterstützung des LMB stieg und dies trotz schwieriger Rahmenbedingungen wie ständigen Personalmangels. Diese Entwicklung wurde durch beobachtete positive Auswirkungen auf den gesundheitlichen Zustand (Pflegebedarf) der TN befördert: Pflegende konnten z. B. Verbesserungen bei den Alltagsbewegungen und Auswirkungen auf durchzuführende Transfers (z. B. vom Stuhl ins Bett) feststellen.
Viele Vorbehalte der PK waren letztlich darauf zurückzuführen, dass sie zu wenig in die Projektentwicklung einbezogen waren. Sie nahmen das LMB lange Zeit als Fremdkörper in ihrem Arbeitsumfeld wahr, mit dem sie nur oberflächlich in Berührung kommen würden und wollten: Solange sie nicht in das Projekt involviert waren (oder nur durch das Ausfüllen von Assessmentinstrumenten), war „das LMB Sache der ÜLs und PDLs“. Erst mit zunehmender Integration der Betreuungskräfte, mit denen sie im Arbeitsalltag eng zusammenarbeiten, in die Durchführung des LMB und aufgrund der beobachtbaren Erfolge bei den TN setzten sich die PK inhaltlich und organisatorisch intensiver mit dem LMB auseinander. Dadurch konnte das Programm „in den Alltag Einzug“ halten. Darüber hinaus begannen einige der befragten PK, sich auch stärker mit dem grundlegenden Thema Ressourcenstärkung zu beschäftigen.