Erschienen in:
17.04.2019 | Originalien
Erkennung und Klassifikation von Haltungs- und Gangmustern am Rollator durch Abstandsmessungen – ein Vergleich zwischen klinischer Beurteilung und maschineller Klassifikation
verfasst von:
Dr. Christian Mandel, Dr. Amit Choudhury, Dr. Karin Hochbaum, Dr. Serge Autexier, Jeannine Budelmann
Erschienen in:
Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie
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Ausgabe 2/2020
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Zusammenfassung
Hintergrund
Dieser Artikel beschreibt die Entwicklung eines Rollatormoduls zur sensorgestützten Haltungs- und Gangmustererkennung mit dem Ziel, eine alltagstaugliche Hilfe zur Sturzprävention zu entwickeln. Kernbeitrag ist ein Vergleich zwischen der Beurteilung einzelner Gangparameter durch klinisches Personal und der im Rollatormodul verwendeten maschinellen Klassifikationsmethode, der Mahalanobis-Distanz über Zeitreihen von Sensormesswerten.
Methodik
Das hier beschriebene Rollatormodul erweitert einen handelsüblichen Rollator um zwei Tiefenbildkameras, die sowohl den Oberkörper als auch Beine und Becken des Benutzers beobachten. Aus dem Strom von Tiefenbildern werden Distanzmessungen zu 8 relevanten Punkten auf der Körperoberfläche (Schultern, Beckenkämme, Oberschenkel, Schienbeine) zu Zeitreihen zusammengefasst, die einzelne Schrittzyklen beschreiben. Zur automatischen Klassifikation der Schrittzyklen im Hinblick auf 14 sicherheitsrelevante Gangparameter (Schrittbreite, -höhe, -länge, -symmetrie, -variabilität; Flexion von Oberkörper, Knie (l/r) und Hüfte (l/r); Position, Distanz zum Rollator; 2‑, 5‑wertiges Gangmuster. [Während das 2‑wertige Gangmuster einen Schrittzyklus grob in pathologisch und physiologisch unterteilt, differenziert das 5‑wertige Gangmuster zwischen antalgischen, ataktischen, paretischen, protektiven und physiologischen Schrittzyklen.]), wurden jeweils einzelne Klassifikationsalgorithmen mit Techniken des maschinellen Lernens trainiert und dazu mathematisch die Mahalanobis-Distanz verwendet (Distanz einzelner Schrittzyklen zu Klassenmitteln und zugehörigen Kovarianzmatrizen). Sowohl Trainings- als auch Testdatensätze wurden dazu im klinischen Kontext mit 29 Probanden gewonnen. Dabei diente die durch klinische Experten vorgenommene Beurteilung des Gangbildes einer am Rollator gehenden Person sowohl zur Annotierung sensorischer Schrittzyklusbeschreibungen der Trainings- als auch der verwendeten Testdatensätze. Zur Bewertung der Qualität der automatischen Klassifikation des Rollatormoduls wurde ein abschließender Vergleich zwischen menschlicher und maschineller Beurteilung über alle Gangparameter vorgenommen.
Ergebnisse
Die für den Vergleich mit dem maschinellen Lernverfahren herangezogene Gangbeurteilung durch medizinisches Personal zeigte über das gesamte Patientenkollektiv eine relativ homogene Klassenverteilung in den einzelnen Gangparametern. So zeigten beispielsweise 57 % eine erhöhte, und 43 % eine normale Distanz zum Rollator. Zentriert zum Rollator positionierten sich 51 % der Probanden, während 41 % eine links abweichende und 8 % eine rechts abweichende Position einnahmen. Zwölf weitere Gangparameter wurden in 2 bis 5 Klassen unterteilt und beurteilt. Einzelne Schrittzyklen eines jeden Probanden wurden mithilfe der trainierten Klassifikationsalgorithmen beurteilt. Die besten maschinellen Klassifikationsraten über alle Probanden ergaben sich für die Parameter Distanz zum Rollator (99,4 %) und das 2-wertige Gangmuster (99,2 %). Die Schrittvariabilität (94,6 %) und die Position zum Rollator (94,2 %) zeigten die schlechtesten Klassifikationsraten. Über alle Gangparameter und Probanden wurden 96,9 % aller Schrittzyklusbeschreibungen korrekt klassifiziert.
Diskussion/Ausblick
Mit einer durchschnittlichen Klassifikationsrate von 96,9 % eignet sich das beschriebene Gangklassifikationssystem sowohl für den Einsatz in einem patientenorientierten Trainings‑/Korrektursystem, das auf Fehlhaltungen im Alltag hinweist, als auch für ein potenzielles Diagnosesystem, das die Ganganalyse im klinischen Umfeld objektiviert. Vor dem Erreichen dieser Ziele konzentrieren sich aktuelle Arbeiten auf den Wechsel von tiefenbildkamerabasierter Distanzmessung zu kleinformatigen Distanzsensoren (1D Lidar) sowie das Design und die Implementierung einer geeigneten Rollatornutzerschnittstelle. Für den eigentlichen Klassifikationsalgorithmus wird zudem an einem Vergleich der Ergebnisse mit denen von gefalteten neuronalen Netzwerken gearbeitet.