Studienpopulation
Die vorliegende Literaturübersicht zeigt, dass in Deutschland Studien zur Prävalenz von Karies bei Menschen mit Behinderung nur in sehr geringer Zahl und fast nur in umschriebenen Regionen von 4 Bundesländern durchgeführt wurden. Lediglich in den Studien, die bei Athleten mit geistiger Behinderung im Rahmen von nationalen Sommerspielen von Special Olympics Deutschland durchgeführt wurden, stammten die untersuchten Personen aus allen Teilen Deutschlands [
7,
18]. Es fällt außerdem auf, dass nur in 2 Studien die Kariesprävalenz sowohl von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung als auch von solchen der Allgemeinbevölkerung in derselben Region bestimmt wurde [
8,
12]. Die Ergebnisse der anderen in dieser Arbeit aufgeführten Studien können nur mit den Ergebnissen der nationalen Studien verglichen werden, die im Auftrag der DAJ bei Kindern und Jugendlichen durchgeführt wurden [
5,
14] oder die im Auftrag von Bundeszahnärztekammer und Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung bei 12-jährigen Kindern und Erwachsenen durchgeführt wurden [
6]. Es erscheint dringend notwendig, bei kariesepidemiologischen Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in Zukunft immer eine vergleichbare Kontrollgruppe aus der Allgemeinbevölkerung mit zu untersuchen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Studien ohne Kontrollgruppen in internationalen systematischen Reviews zu der Frage nach der Karieserfahrung von Menschen mit Behinderung nicht eingeschlossen werden. Dies zeigte sich z. B. 2019, als ein internationales systematisches Review publiziert wurde, das 23 Studien zur Karieserfahrung von Kindern mit geistiger Behinderung aus vielen Ländern der Welt enthielt, aber leider keine Studie aus Deutschland [
20].
Wegen der allgemeinen Schulpflicht lässt sich die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen gut in den Schulen erreichen. Allerdings ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sehr klein. Daraus resultiert, dass bei der Untersuchung von Kindern und Jugendlichen in Schulen einer Region die für die Auswertung zur Verfügung stehende Fallzahl sehr gering ist. Dies hat wiederum zur Folge, dass in den Untersuchungen über die Karieserfahrung von Kindern und Jugendlichen mehrere Altersstufen zusammengefasst werden müssen (Tab.
2 und
3). Im Gegensatz dazu empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kariesepidemiologische Untersuchungen vor allem in 3 Altersgruppen durchzuführen: 5‑ und 6‑Jährige, 12-Jährige und 35- bis 44-Jährige [
21]. Zu diesen Altersgruppen liegen für die Allgemeinbevölkerung aus Deutschland mehrere nationale Studien vor, die die Entwicklung der Kariesprävalenz seit den 1990er-Jahren dokumentieren [
5,
6,
14,
19].
In der Altersgruppe der Erwachsenen mit Behinderung lassen sich oralepidemiologische Untersuchungen am einfachsten in Werkstätten für Beschäftigte mit geistiger Behinderung und bei den Sportveranstaltungen von Special Olympics durchführen. Special Olympics versteht sich ausdrücklich als Organisation für Menschen mit geistiger Behinderung. Deshalb sind bei den Sportveranstaltungen von Special Olympics Menschen mit anderen Behinderungen, wie z. B. Blindheit, Gehörlosigkeit oder Querschnittslähmung, nur dann vertreten, wenn gleichzeitig eine geistige Behinderung vorliegt. Repräsentative oralepidemiologische Untersuchungen bei Menschen mit Blindheit, Gehörlosigkeit oder Querschnittslähmung lassen sich nach Ansicht der Autoren der vorliegenden Übersichtsarbeit nur durchführen, indem man die Mitglieder von entsprechenden Interessengruppen (z. B. Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. oder Deutscher Verband der Gehörlosen e. V.) bittet, sich daran zu beteiligen.
Dennoch wäre es wünschenswert, in mehrjährigen Abständen, z. B. alle 5 bis 7 Jahre, oralepidemiologische Untersuchungen bei Menschen mit den verschiedenen Arten von Behinderung in allen Altersstufen durchzuführen. Gleichzeitig sollte auch eine altersmäßig entsprechende Kontrollgruppe aus der Allgemeinbevölkerung untersucht werden. Außerdem wäre es hilfreich, diese Studien in allen deutschen Bundesländern durchzuführen, um ggfs. vorhandene regionale Unterschiede in Bezug auf die Mundgesundheit und die zahnmedizinische Versorgung zu erkennen.
Schließlich sollte auch bedacht werden, dass es allein in der Gruppe der Personen mit geistiger Behinderung sehr viele unterschiedliche Subgruppen gibt (z. B. Down-Syndrom, die Autismus-Spektrum-Störungen, Cerebralparese, Fragiles-X-Syndrom, Rett-Syndrom, Angelman-Syndrom oder Williams-Beuren-Syndrom), bei denen aus sehr unterschiedlichen Gründen die Mundgesundheit beeinträchtigt sein kann. Angehörige dieser Subgruppen können im Rahmen der kollektiven Untersuchung in Schulen, Werkstätten oder bei Sportveranstaltungen in der Regel nicht identifiziert werden. Es wäre jedoch sehr sinnvoll, nicht nur über die Mundgesundheit der Gesamtgruppe der Menschen mit geistiger Behinderung Informationen zu haben, sondern auch über spezielle Subgruppen.
Verschiedene Gründe bestehen, warum solche Studien bisher nicht durchgeführt wurden. Zum einen fehlt es in den deutschen Universitätskliniken für ZMK-Heilkunde an personellen Ressourcen, um derartige Studien zu planen und zu begleiten. Dies lässt sich z. B. auch daran erkennen, dass es an den 31 deutschen Universitätskliniken für ZMK-Heilkunde nur einen Lehrstuhl für Behindertenorientierte Zahnmedizin sowie nur noch 3 offizielle Professuren für Kinderzahnheilkunde gibt. Zum anderen ist es sehr schwer, für diese Studien die finanzielle Ausstattung zur Durchführung und Auswertung zu erhalten. In diesem Zusammenhang können die Autoren berichten, dass vonseiten sehr vieler Organisationen, die jeweils die Interessen von Menschen mit einer bestimmten Behinderungsart vertreten, ein hohes Interesse an Studien zum Thema Mundgesundheit besteht. Jedoch fehlt es auch diesen Organisationen an der finanziellen Ausstattung zur Unterstützung derartiger Studien.
Kariesprävalenz und Karieserfahrung
Aus den Angaben zu den Kariesprävalenzraten der 6‑ und 7‑Jährigen (Tab.
1) lässt sich ablesen, dass bei Kindern mit Behinderung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine deutlich höhere Kariesbelastung vorliegt. Diese Kinder besuchen in der Regel die erste Klasse einer Schule und haben die kariösen Zähne zum größten Teil bereits in den Jahren vor der Einschulung erworben. Dies bedeutet, dass Kinder mit Behinderung schon sehr früh, d. h. eigentlich vom ersten vorhandenen Milchzahn an, eine kariespräventive Betreuung benötigen. In einer Befragung von Personen, die einen Familienangehörigen mit Downsyndrom haben, zeigte sich, dass nur 10 % der Personen mit Downsyndrom vor ihrem ersten Geburtstag einem Zahnarzt vorgestellt wurden [
22]. Die Voraussetzungen hierfür sind in den letzten Jahren etwas verbessert worden, weil Zahnärzte nun bei allen Kindern im Alter von 0 bis 71 Monaten mehrmals präventive Leistungen zulasten der gesetzlichen Krankenkassen erbringen können. Hinzu kommt, dass seit dem 01.08.2018 gesetzlich krankenversicherte Personen aus allen Altersstufen, denen ein Pflegegrad zuerkannt wurde oder die Eingliederungshilfe beziehen, Anspruch auf Beratungen und Unterweisungen zur Mundpflege haben. Deshalb ist die Information, dass z. B. sehr vielen Kindern mit Down-Syndrom bereits im Kindesalter ein Pflegegrad zuerkannt wird [
22], sehr wichtig.
Aus den in der Tab.
2 angegeben dmft-Werten lässt sich ablesen, dass Schulkinder mit Behinderung eine deutlich höhere Karieserfahrung im Milchgebiss haben als solche ohne Behinderung [
10,
12]. Zahnmedizinisch präventive Leistungen müssen unbedingt auch in dieser Altersphase bei Kindern mit Behinderung erbracht werden, weil dann der Durchbruch der ersten bleibenden Zähne beginnt. Eine dieser Präventionsleistungen besteht aus Fissurenversiegelungen, auf die weiter unten noch näher eingegangen wird. Außerdem können die Kinder davon profitieren, dass in den Zahnarztpraxen wegen des erhöhten Kariesrisikos die Fluoridierung der Zähne nicht nur zweimal, sondern viermal pro Jahr durchgeführt werden kann. Parallel dazu sollten die Fluoridierungen auch im Rahmen der Gruppenprophylaxe durch den Zahnärztlichen Dienst der Gesundheitsämter bzw. durch Arbeitsgemeinschaften für Zahnpflege erbracht werden [
12]. Ein weiterer Baustein der präventiven Maßnahmen besteht in den Beratungen und Anleitungen zur Mundpflege, die bei gesetzlich versicherten Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Individualprophylaxe und zusätzlich ein weiteres Mal pro Kalenderhalbjahr erbracht werden können, wenn ein Pflegegrad vorliegt oder Eingliederungshilfe bezogen wird.
In Bezug auf das bleibende Gebiss von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung kann die Aussage, dass diese eine höhere Karieserfahrung als Kinder und Jugendliche ohne Behinderung haben, anhand der vorliegenden Daten nicht so pauschal getroffen werden (Tab.
3). Hempel et al. (2015) fanden in diesen beiden Gruppen sehr ähnliche mittlere DMFT-Werte [
8]. Schaut man sich die Daten von Dziwak et al. (2017) genauer dann, wird ein großer Unterschied in Bezug auf die Karieserfahrung der Probanden mit unterschiedlichen Behinderungen deutlich [
10]. Dort wurde bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung ein mehr als doppelt so hoher mittlerer DMFT-Wert (2,4) wie bei den Kindern und Jugendlichen mit Körperbehinderung (1,1) festgestellt [
10]. Der Mittelwert von 2,4 ist sehr ähnlich dem Mittelwert von 2,3, welchen Bissar et al. (2010; [
7]) bei fast gleichaltrigen Jugendlichen mit geistiger Behinderung ermittelten. Dies zeigt sehr deutlich, dass der mittlere DMFT-Wert bei einem Kollektiv von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ab einem Alter von > 10 Jahren sehr davon beeinflusst wird, ob es nur Personen mit geistiger Behinderung oder auch solche mit Körperbehinderung umfasst. Dazu passt, dass in dem von Hempel et al. (2015) untersuchten Kollektiv neben Personen mit geistiger auch jene mit körperlicher oder sensorischer Behinderung enthalten sind [
8]. An dieser Stelle soll auch darauf hingewiesen werden, dass Kinder und Jugendliche mit psychoemotionalen Störungen ein ähnlich hohes Kariesrisiko aufweisen wie die entsprechende Altersgruppe mit geistiger Behinderung [
11].
Im Ergebnisteil wurde dargestellt, dass Fissurenversiegelungen (FV) auch bei Kindern und Jugendlichen einen wesentlichen Beitrag zur Kariesprävention leisten. Allerdings zeigen die Prävalenzzahlen zu FV, dass der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung, die über mindestens einen bleibenden Zahn mit FV verfügen, deutlich geringer ist als bei gleichaltrigen Personen der Allgemeinbevölkerung [
8]. Deshalb müssen Zahnärzte und Eltern informiert und motiviert werden, Kinder mit Behinderung in demselben Ausmaß mit Fissurenversiegelungen zu versorgen wie Kinder ohne Behinderung.
Die Karieserfahrung wurde nur in sehr wenigen Studien bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung untersucht (Tab.
4). In keiner dieser Studien konnte eine Kontrollgruppe aus gleichaltrigen Erwachsenen ohne Behinderung einbezogen werden. Deshalb sind diesbezüglich nur Vergleiche mit den nationalen Deutschen Mundgesundheitsstudien IV und V möglich. Eine Einschränkung in diesem Zusammenhang besteht darin, dass die Zahl der Personen im Alter von 35 bis 44 Jahren, die in den Werkstätten untersucht wurden, sehr gering war und nicht gut zum Vergleich mit den entsprechenden Daten aus den DMS-Studien geeignet ist. Deshalb wurden in Tab.
4 der mittlere DMFT-Wert für jeweils alle Personen, die in den 3 Werkstätten untersucht wurden, sowie das entsprechende mittlere Alter angegeben.
Obwohl die in der Tab.
4 aufgeführten Kohorten nur annähernd vom Alter her zusammenpassen, lässt sich doch eindeutig feststellen, dass bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung viel mehr fehlende Zähne zu verzeichnen sind als bei Erwachsenen der Allgemeinbevölkerung. Aus dem Vergleich der mittleren DMFT-Werte und den dazugehörigen 95 %-Konfidenzintervallen der beiden Studien von Schulte et al. (2013) und Schulte et al. (2020) lässt sich ablesen, dass die mittlere Karieserfahrung bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung leicht rückläufig ist [
15,
17]. Diese Aussage geschieht jedoch unter dem Vorbehalt, dass es sich hierbei nur um regionale Studien handelt, die zwar in einem Abstand von 10 Jahren, aber in 2 unterschiedlichen Bundesländern durchgeführt wurden. Trotz der rückläufigen Zahlen muss die präventive Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung intensiviert werden. Ein guter Schritt auf diesem Weg ist die seit 2018 bestehende Möglichkeit für Zahnärzte, auch bei gesetzlich krankenversicherten Erwachsenen mit anerkanntem Pflegegrad oder mit Bezug von Eingliederungshilfe präventive Leistungen zu erbringen. Die besonderen Vorgehensweisen, die bei der Erbringung zahnmedizinisch präventiver Leistungen vor allem bei Patienten mit geistiger Behinderung erforderlich sind, wurden in 2 Fachbeiträgen beschrieben [
23,
24].
Herausforderungen und Ausblick
Leider wurden im Rahmen der Literatursuche keine Studien zur Prävalenz von Parodontitis bei Menschen mit Behinderung gefunden. Eine der Herausforderungen bei diesen Studien ist, dass hierfür das Messen der Sondierungstiefen an mehreren Stellen pro Zahn erforderlich ist. Dieser Vorgang wird von sehr vielen Personen mit geistiger Behinderung im Wachzustand nicht in ausreichendem Maß oder gar nicht toleriert. Dennoch sollten Experten versuchen, Lösungen zu finden, wie man das Vorliegen von Parodontitis bei dieser Bevölkerungsgruppe bestimmen kann.
Ein weiteres Feld der zahnmedizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderung betrifft die Notwendigkeit, dass vor allem ein Teil der Menschen mit geistiger Behinderung darauf angewiesen ist, zumindest einmal im Leben eine zahnärztliche Therapie unter Allgemeinanästhesie zu erhalten. Bei Menschen mit Down-Syndrom beträgt dieser Anteil ca. 40 % [
22]. Die Autoren müssen aufgrund ihrer klinischen Tätigkeit in der Versorgung von Patienten mit Behinderung feststellen, dass es diesbezüglich noch große Defizite gibt, die gelöst werden müssen. Dazu zählt u. a. die Tatsache, dass die Zahl und Kapazität der Zahnärzte bzw. klinischen Einrichtungen, die zahnmedizinische Behandlungen in Allgemeinanästhesie anbieten, derzeit nicht ausreicht. Dies gilt in ganz besonderem Maß für Patienten, bei denen eine Therapie in Allgemeinanästhesie nicht ambulant durchgeführt werden kann, sondern wegen eines hohen allgemeinmedizinischen Risikos stationär in einem Krankenhaus erfolgen muss. Aus Platzgründen kann diese Problematik hier nicht ausführlicher beleuchtet werden.
Eine gute zahnmedizinische und präventiv orientierte Versorgung von Menschen mit Behinderung hängt jedoch nicht nur davon ab, welche Leistungen der Katalog der gesetzlichen Krankenversicherungen enthält. Vielmehr muss in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht werden, dass eine gute zahnmedizinische Versorgung von Patienten mit Behinderung auch davon abhängt, dass diese auch Teil des Studiums für angehende Zahnärzte ist. Vor einigen Jahren berichteten Zahnärzte aus Thüringen und Baden-Württemberg im Rahmen von 2 Fragebogenstudien, dass sie im Studium nicht oder nur unzureichend auf die zahnmedizinische Versorgung von Patienten mit Behinderung vorbereitet wurden [
25,
26]. Leider werden weder in der alten noch in der neuen Approbationsordnung Zahnmedizin Unterrichtsveranstaltungen in Zahnmedizin für Patienten mit Behinderung gefordert [
27].
Zusammenfassend zeigen die hier präsentierten Studien und Ausführungen, dass eine jahrzehntelange kompetente zahnmedizinische Betreuung bei Menschen mit Behinderung erforderlich ist, um bei ihnen die Zahn- und Mundgesundheit im Verlauf des Lebens zu erhalten. Diese Bemühungen werden immer noch durch zahlreiche Barrieren erschwert, auch wenn in den letzten Jahren wichtige Schritte in die richtige Richtung unternommen wurden.