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Erschienen in: medizinische genetik 2/2009

Open Access 01.06.2009 | Schwerpunkt

Genetik der nichtsyndromalen geistigen Behinderung

verfasst von: Dr. A. Tzschach

Erschienen in: medizinische genetik | Ausgabe 2/2009

Zusammenfassung

Die meisten Patienten mit mentaler Retardierung (MR) sind von nichtsyndromaler MR (NS-MR) betroffen, d. h. sie weisen entweder überhaupt keine zusätzlichen klinischen, radiologischen oder metabolischen Merkmale auf oder die weiteren Auffälligkeiten sind für die Zuordnung zu einem etablierten Fehlbildungssyndrom nicht spezifisch genug. In den letzten Jahren wurden erhebliche Fortschritte bei der Aufklärung X-chromosomal vererbter Formen der NS-MR erzielt, und auch bei der Erforschung autosomaler NS-MR sind erste Erfolge zu verzeichnen. Beide Formen sind durch ausgeprägte genetische Heterogenität gekennzeichnet. Eine routinemäßige Mutationsanalyse in den bekannten NS-MR-Genen ist derzeit bei sporadischen Patienten nur begrenzt möglich und wird erst mit der Einführung neuer Sequenziertechnologien breite Anwendung finden. Im Gegensatz dazu können Patienten mit familiärer NS-MR bereits jetzt in molekulargenetische Screeningprogramme eingeschlossen werden. In der aktuellen Routinediagnostik sind aufgrund klinischer Überlappungen mit syndromalen MR-Formen auch mehrere Gene für die X-chromosomale NS-MR von Bedeutung.
Nur ein relativ kleiner Teil der Patienten mit Entwicklungsverzögerung oder geistiger Behinderung lässt sich anhand zusätzlicher klinischer Merkmale eindeutig einem definierten Fehlbildungssyndrom zuordnen. Die meisten Patienten leiden an nichtsyndromaler mentaler Retardierung (NS-MR), d. h. sie haben entweder keine zusätzlichen klinischen, radiologischen oder metabolischen Auffälligkeiten oder die zusätzlichen Symptome (z. B. neurologische Probleme, Mikrozephalie, faziale Dysmorphiezeichen) sind nicht spezifisch genug, um eine sichere Syndromzuordnung zu ermöglichen [7, 12]. Damit ist bei diesen NS-MR-Patienten auch keine zielgerichtete molekulargenetische Analyse in bekannten Krankheitsgenen möglich, und die genetischen Untersuchungen müssen sich auf ungezielte Suchtests [Chromosomenanalyse, Array-CGH („comparative genomic hybridization“)] oder den Ausschluss häufigerer Defekte [z. B. Fragiles-X(Fra-X)-Testung bei Knaben] beschränken.
Die Grenzen zwischen syndromaler und nichtsyndromaler MR sind jedoch fließend. Bei einigen Krankheitsbildern, z. B. dem Fra-X-Syndrom, werden die charakteristischen Merkmale erst ab einem bestimmten Alter erkennbar. Andere Syndrome wurden erst rückblickend klinisch definiert, nachdem bei mehreren, zunächst als unspezifisch eingestuften Patienten Mutationen im gleichen Gen bzw. identische Chromosomenaberrationen nachgewiesen worden waren (z. B. Mowat-Wilson-Syndrom, 17q21-Mikrodeletionssyndrom). Die klinische Variabilität kann selbst bei identischen Mutationen in einem Gen von einem charakteristischen syndromalen Phänotyp bis hin zu unspezifischer MR reichen (z. B. RSK2-Mutationen bei Coffin-Lowry-Syndrom und nichtsyndromaler X-chromosomaler mentaler Retardierung).
In den letzten Jahren wurden zahlreiche neue NS-MR-Gene auf dem X-Chromosom entdeckt, und auch bei den autosomalen Formen der NS-MR sind erste Fortschritte zu verzeichnen. Dieser Artikel soll – mit Schwerpunkt auf der diagnostischen Relevanz einzelner Gene und Untersuchungsmethoden – einen Überblick über den aktuellen Wissensstand und einen Ausblick auf die für die nähere Zukunft absehbaren Entwicklungen zu diesem Themengebiet geben.

X-chromosomale mentale Retardierung (XLMR)

Knaben sind signifikant häufiger von geistiger Behinderung betroffen als Mädchen (Geschlechterverhältnis männlich:weiblich=1,4:1 für schwere MR und 1,9:1 für milde MR). Diese Diskrepanz erklärt sich z. T. durch Gendefekte auf dem X-Chromosom. Die Daten aus aktuellen Studien legen nahe, dass bei etwa 10% aller männlichen MR-Patienten ein X-chromosomaler Gendefekt die Ursache ist [4].
Derzeit sind mehr als 80 Gene für X-chromosomale mentale Retardierung bekannt [3, 13] [15], von denen viele die Ursache syndromaler Erkrankungen [z. B. ATRX(α-Thalassämie mentale Retardierung)-Syndrom, Menkes-Syndrom] sind. Die Aufklärung von Gendefekten bei nichtsyndromaler XLMR wurde durch Kopplungsuntersuchungen in Familien mit X-chromosomalem Erbgang und die koordinierte Erfassung solcher Familien in internationalen Forschungskonsortien erleichtert. Alle XLMR-Gene sind jedoch – mit Ausnahme von FMR1 – nur bei einem sehr geringen Prozentsatz der Patienten verändert. Diese genetische Heterogenität macht insbesondere bei sporadischem Auftreten von MR ein sinnvolles Mutationsscreening in der Routinediagnostik derzeit nahezu unmöglich. Patienten mit Hinweisen auf familiäre XLMR, d. h. wenn es mindestens einen weiteren betroffenen Bruder oder andere betroffene männliche Verwandte in der mütterlichen Linie gibt, sollte die Mutationsanalyse im Rahmen laufender Forschungsprojekte angeboten werden (z. B. EUROMRX-Konsortium, Infobox 1).
Bei einigen XLMR-Genen sind Mutationen ausschließlich mit nichtsyndromaler MR assoziiert (ILRAPL1, TM4SF2, ZNF674, ZNF41, ZNF81, FTSJ1, DLG3, FMR2, RPL10, GDI1, ACSL4, PAK3, AGTR2, ARHGEF6). Mutationen in mehreren anderen Genen (z. B. FMR1, ARX, PQBP1, MECP2, CUL4B, MCT8, AP1S2, SLC6A8, OPHN1, SLC9A6) gehen hingegen häufig mit zusätzlichen klinischen Merkmalen (z. B. Epilepsie, Mikrozephalie, Spastik) einher. Auch wenn sie meist keine „Syndrome“ im klassischen Sinne verursachen, sollten die im Folgenden besprochenen Gene und Genveränderungen bei MR-Patienten mit entsprechenden Begleitsymptomen differenzialdiagnostisch in Betracht gezogen werden.

FMR1 (Fragiles-X-Syndrom)

Das Fra-X-Syndrom ist die mit Abstand häufigste XLMR-Form (bis zu 25% aller XLMR-Familien und etwa 2% bei sporadischen männlichen MR-Patienten) und wird ausführlich in dem Weiterbildungsartikel von P. Steinbach in diesem Heft besprochen. Hier soll der Hinweis genügen, dass die über die Entwicklungsverzögerung hinausgehenden klinischen Zeichen vor der Pubertät meist wenig ausgeprägt sind, es sich also in diesem Alter eher um eine nichtsyndromale MR-Form handelt, und dass das Fragile-X-Syndrom differenzialdiagnostisch auch bei älteren Patienten mit unspezifischem Phänotyp mit in Erwägung gezogen werden muss.

ARX (Hirnfehlbildungen mit Epilepsie und Genitalfehlbildungen, XLAG)

Mutationen im ARX-Gen sind mit einer Häufigkeit von etwa 5% in XLMR-Familien nach dem Fra-X-Syndrom die zweithäufigste Ursache für X-chromosomale geistige Behinderung. Neben Patienten mit nichtsyndromaler MR wurden ARX-Mutationen auch bei Patienten mit West-Syndrom (Epilepsie, infantile Spasmen), Partington-Syndrom (Epilepsie, dystone Handbewegungen, Dysarthrie), Proud-Syndrom (intersexuelles Genitale und Corpus-callosum-Agenesie) und dem XLAG-Syndrom („X-linked lissencephaly and ambiguous genitalia“) nachgewiesen (s. auch den Beitrag von G. Uyanik und U. Hehr in diesem Heft). Patienten mit MR und neurologischen Symptomen haben häufig eine rekurrente, aber das Leseraster beibehaltende 24-bp-Duplikation (c.428–451) im ARX-Gen; bei Patienten mit XLAG sind Funktionsverlustmutationen die Ursache.
Abgesehen von den eindeutig syndromalen Formen mit Hirn- und Genitalfehlbildungen sollte in der Routinediagnostik ein ARX-Mutationsscreening auch bei sporadischen MR-Patienten mit Epilepsie oder infantilen Spasmen sowie bei XLMR-Familien in Betracht gezogen werden. Bei sporadischen nichtsyndromalen männlichen MR-Patienten ist die Prävalenz von ARX-Mutationen jedoch sehr gering und eine routinemäßige Analyse derzeit nicht gerechtfertigt.

PQBP1 (Mikrozephalie, Renpenning-Syndrom)

Patienten mit Mutationen in PQBP1 sind klinisch durch Mikrozephalie, Kleinwuchs, Spastik und seltener auch durch Herzfehler, Augenfehlbildungen (Mikrophthalmie), kleines Hodenvolumen, Gaumenspalte sowie Analatresie gekennzeichnet, wobei eine erhebliche inter- und intrafamiliäre Variabilität besteht [8]. PQBP1-Mutationen sind die Ursache mehrerer sich klinisch überlappender Syndrome, die ursprünglich anhand einzelner großer Familien phänotypisch definiert wurden [Renpenning-Syndrom, Sutherland-Haan-Syndrom, Golabi-Ito-Hall-Syndrom, zerebropalatokardiales (Hamel) Syndrom]. Bei mikrozephalen männlichen Patienten, die zusätzlich eines der oben angeführten Merkmale aufweisen, ist ein PQBP1-Mutationsscreening auch in der Routinediagnostik gerechtfertigt.

MECP2-Duplikationen (MR und Enzephalopathie)

Mutationen im MECP2-Gen wurden zunächst als Ursache des Rett-Syndroms, eines auf das weibliche Geschlecht beschränkten schweren MR-Syndroms mit charakteristischem Krankheitsverlauf und neurologischen Symptomen, beschrieben.
MECP2-Punktmutationen wurden in seltenen Fällen auch bei männlichen Patienten mit schwerer Enzephalopathie nachgewiesen [17].
Eine wesentlich größere Rolle spielen aber Duplikationen des MECP2-Gens bei Knaben mit schwerer mentaler Retardierung. Klinisch sind diese Patienten durch schwere MR, infantile Hypotonie, progressive Spastik, Ataxie, Epilepsie, fehlende Sprachentwicklung und Immundefekte charakterisiert.
MECP2-Duplikationen sind eine der häufigeren Ursachen für XLMR; sie sind für 1% der Familien mit X-chromosomaler geistiger Behinderung verantwortlich und haben bei sporadischen Patienten mit schwerer Enzephalopathie sogar eine Häufigkeit von 2% [9]. Bei Mädchen bzw. Frauen scheinen sie keine Krankheitssymptome zu verursachen.
Für die Praxis bedeutet dies, dass bei Knaben mit schwerer MR, Enzephalopathie, Hypotonie und/oder Spastik eine MECP2-Duplikation ausgeschlossen werden sollte (eine Mutationsanalyse in MECP2 ist nicht ausreichend!). Diese Duplikationen sind auch mit hochauflösender Array-CGH nachweisbar. Aufgrund der sehr schweren MR und der Ataxie sollten MECP2-Duplikationen auch als Differenzialdiagnose zum Angelman-Syndrom in Erwägung gezogen werden.

CUL4B (Kleinwuchs, relativer Makrozephalus, Adipositas)

Patienten mit CUL4B-Mutationen sind durch Kleinwuchs, relativen Makrozephalus, Adipositas, Anfallsleiden, Hypogonadismus und Tremor gekennzeichnet; der Grad der geistigen Behinderung kann erheblich variieren. Klinisch bestehen Überlappungen zum Prader-Willi- und zum Börjeson-Forssman-Lehman-Syndrom. Mit bereits jetzt 9 publizierten Mutationen scheint CUL4B zu den häufiger betroffenen XLMR-Genen zu gehören [14].

MCT8/SLC16A2 (erhöhtes Serum-fT3, Allan-Herndon-Dudley-Syndrom)

MCT8 ( SLC16A2 ) kodiert für einen neuronalen Schilddrüsenhormontransporter. Laborchemisch führen Mutationen in diesem Gen zu Verschiebungen der Schilddrüsenparameter im Blut: erhöhtes freies Trijodthyronin (fT3), niedrignormales bis erniedrigtes freies Thyroxin (fT4), aber normales TSH (Thyreoidea stimulierendes Hormon).
Klinisch verursachen MCT8-Mutationen einen als Allan-Herndon-Dudley-Syndrom bezeichneten neurologischen Symptomenkomplex aus schwerer MR, Hypotonie, verminderter Muskelmasse, Spastik und choreatischen Bewegungen. Bei männlichen Patienten mit schwerer MR und den oben genannten neurologischen Beschwerden sollten eine fT3-Bestimmung veranlasst und bei erhöhten fT3-Werten ein MCT8-Mutationsscreening durchgeführt werden [5].

AP1S2 (Basalganglienverkalkung)

Patienten mit AP1S1-Mutationen haben außer einer sehr variablen geistigen Behinderung eine Basalganglienverkalkung, erhöhte Proteinwerte im Liquor und teilweise auch Hydrozephalus, Spastik, Hypotonie, aggressives Verhalten oder Autismus [1]. Wenngleich bis jetzt nur 7 AP1S2-Mutationen beschrieben wurden, sollte insbesondere bei Patienten mit ungeklärter Proteinerhöhung im Liquor sowie bei Patienten mit Basalganglienverkalkung als Differenzialdiagnose zu disruptiven Hirnfehlbildungen infolge intrauteriner Infektionen und zu Aicardi-Goutières-Syndrom eine Mutationsanalyse in diesem Gen erwogen werden.

SLC6A8 (Kreatintransporterstörung)

SLC6A8-Mutationen führen zu schwerer MR, Kleinwuchs, Hypotonie, verminderter Muskelmasse und häufig auch Epilepsie. SLC6A8 kodiert für einen neuronalen Kreatintransporter, dessen Funktionsverlust einerseits zu einer verminderten Kreatinaufnahme in Nervenzellen führt (was mittels Protonenmagnetresonanzspektroskopie – 1H-MRS – messbar ist), andererseits auch ein laborchemisch nachweisbar erhöhtes Verhältnis von Kreatin zu Kreatinin im Urin zur Folge hat. Mutationen in SLC6A8 zählen zu den häufigeren Ursachen von XLMR und sollten insbesondere bei auffälligen Kreatin-Kreatinin-Werten und der komplexen Symptomatik als Differenzialdiagnose berücksichtigt werden.

OPHN1 (Kleinhirnhypoplasie)

Das charakteristische Merkmal von Patienten mit OPHN1-Mutationen ist die Hypoplasie des Kleinhirns (insbesondere der Vermis), darüber hinaus finden sich auch vergrößerte Hirnventrikel, Epilepsie und Hypogenitalismus. Trotz der offenbar geringen Häufigkeit von OPHN1-Mutationen sollte ein Mutationsscreening in diesem Gen bei männlichen MR-Patienten mit Kleinhirnhypoplasie erwogen werden.

SLC9A6 (Angelman-Syndrom-ähnliche XLMR)

SLC9A6-Mutationen verursachen ein XLMR-Krankheitsbild, das phänotypische Überlappungen mit dem Angelman-Syndrom besitzt: Neben einer schweren MR leiden die Betroffenen an Mikrozephalie, Ataxie, Epilepsie und fehlender Sprachentwicklung. Bis jetzt wurden in diesem erst kürzlich entdeckten Gen 4 Mutationen nachgewiesen, angesichts des relativ spezifischen klinischen Bildes könnte dieses Gen in die routinemäßigen molekulargenetischen Untersuchungen bei Angelman-Syndrom aufgenommen werden.

Autosomal-rezessive mentale Retardierung

Die Aufklärung von Gendefekten bei nichtsyndromaler autosomal-rezessiver geistiger Behinderung (NS-ARMR) begann verhältnismäßig spät: Der erste Genlocus für autosomal-rezessive NS-MR wurde im Jahre 2000 in einer konsanguinen deutschstämmigen Familie aus einem religiösen Isolat in den USA nachgewiesen, und das erste NS-ARMR-Gen – PRSS12 – wurde 2002 publiziert.
Dieses scheinbar späte Interesse an NS-ARMR mag angesichts der hohen Prävalenz von NS-MR überraschen, ist aber wohl in dem unspezifischen Phänotyp, der (wie inzwischen bekannt ist) extremen Heterogenität und den in westlichen Ländern kleinen Familiengrößen sowie der geringen Häufigkeit von Verwandtenehen begründet. Hinweise auf die Bedeutung autosomal-rezessiver Gendefekte für NS-MR gab es gleichwohl aufgrund der deutlich erhöhten Prävalenz von MR in Ländern mit hohem Anteil konsanguiner Ehen bereits viel früher. Es ist aber auch jetzt noch weitgehend unklar, wie hoch der Anteil autosomal-rezessiver Ursachen an dem Gesamtkollektiv mental retardierter Patienten in unserer Bevölkerung ist.
Blutsverwandtschaft der Eltern und eine große Zahl betroffener und gesunder Geschwister erleichtern die Kartierung von autosomal-rezessiven Genorten, und aus diesem Grund sind auch alle bis jetzt publizierten 5 ARMR-Gene und 7 Genloci in großen konsanguinen Familien aufgeklärt worden. Im Gegensatz zu anderen Erkrankungen, in denen Mutationen in einzelnen Hauptgenen für einen größeren Prozentsatz der Patienten ursächlich sind (z. B. GJB2 bei autosomal-rezessiver Taubheit oder ASPM bei autosomal-rezessiver Mikrozephalie) und die damit auch sinnvoll in der Routinediagnostik untersucht werden können, ist NS-ARMR durch ausgeprägte genetische Heterogenität gekennzeichnet [11]. Lediglich in einem Gen – TUSC3 – wurden bislang 2 verschiedene Mutationen in unabhängigen Familien publiziert, und das seltene Auftreten überlappender Kopplungsintervalle, die im Rahmen einer Studie an mehr als 200 konsanguinen Familien aus dem Iran identifiziert wurden, legt nahe, dass kein Gen für mehr als 2% der NS-ARMR-Patienten verantwortlich ist (Kuss et al., persönliche Mitteilung).
Auch die Funktionen der Produkte der bis jetzt bekannten Gene sind vielfältig und spiegeln die Komplexität des Gehirns wider: PRSS1 (Neurotrypsin) ist eine trypsinähnliche Serin-Protease, CRBN (Cereblon) ist ein Modulator für einen Kaliumkanal, CC2D1A ist ein Endozytoseregulator und spielt eine Rolle im endosomalen Trafficking, GRIK2 ist ein Glutamatrezeptor, und TUSC3 hat möglicherweise bei der N-Glykosilierung von Proteinen eine Funktion.
In der Routinediagnostik sporadischer Patienten mit Verdacht auf NS-ARMR (der sich in der Regel aus einer Konsanguinität der Eltern ergibt) spielen die angeführten Gene noch keine Rolle. Ein sinnvolles Mutationsscreening für diese und die zu erwartenden zahlreichen weiteren NS-ARMR-Gene wird erst mit preiswerteren Technologien möglich sein, welche die parallele Untersuchung mehrerer Gene erlauben. Familien mit 2 oder mehr Betroffenen kann aber bereits jetzt der Einschluss in laufende Forschungsprojekte angeboten werden (z. B. am MPI für molekulare Genetik Berlin, Abteilung Ropers).

Autosomal-dominante mentale Retardierung

Autosomal-dominante Neumutationen sind wahrscheinlich für einen erheblichen Prozentsatz insbesondere der sporadisch auftretenden MR-Fälle verantwortlich. Da sich aber Patienten mit schweren MR-Formen nur in Ausnahmefällen fortpflanzen, stehen praktisch keine ausreichend großen Stammbäume für Kopplungsanalysen zur Verfügung. Unsere Kenntnisse über einzelne dominante MR-Gene beruhen daher fast ausschließlich auf der Untersuchung chromosomaler Aberrationen. Eine wichtige Informationsquelle stellte und stellt dabei die Bruchpunktanalyse bei Patienten mit neu entstandenen balancierten Rearrangements (z. B. Translokationen) dar. Die Identifizierung unterbrochener Gene an den chromosomalen Bruchpunkten führte nicht nur zur Aufklärung zahlreicher syndromaler Krankheitsbilder, sondern definierte auch Kandidatengene für nichtsyndromale MR, insbesondere wenn ein Gen bei mehreren nichtverwandten Patienten betroffen war (z. B. AUTS2) [9].
Die Einführung der Array-CGH, die erstmals den ungezielten Nachweis auch sehr kleiner chromosomaler Deletionen oder Duplikationen ermöglichte, leitete große Fortschritte bei der Aufklärung autosomal-dominanter Ursachen ein (s. auch den Beitrag von A. Reis und A. Rauch in diesem Heft). Die meisten submikroskopischen chromosomalen Imbalancen umfassen zwar mehrere Gene, aber bei sehr kleinen Veränderungen ist teilweise nur ein einziges Gen direkt betroffen. Durch die systematische Erfassung solcher Aberrationen im Rahmen von Forschungsverbünden [z. B. MRNET („German mental retardation network“)] und zunehmend auch durch den Nachweis in der Routinediagnostik wird in den nächsten Jahren die Zahl der (Kandidaten)-Gene für autosomal-dominante NS-MR deutlich zunehmen.
Eine weitere Strategie zur Aufklärung autosomal-dominanter Gendefekte ist die Analyse funktioneller Kandidatengene. Im Prinzip kann zwar jedes neuronal exprimierte Gen als MR-Kandidatengen betrachtet werden, besonderes Interesse verdienen aber Gene, die für Proteine in den Synapsen kodieren. Zu diesen zählt SYNGAP1, das für ein RasGTPase aktivierendes Synapsenprotein kodiert, und in SYNGAP1 wurden vor kurzem Mutationen bei Patienten mit schwerer MR und Epilepsie nachgewiesen [6]. Da aber die Suche nach Punktmutationen in großen Patientenkohorten mit den derzeitigen Methoden sehr aufwändig ist, dürfen wohl erst mit der Einführung leistungsstärkerer Sequenziertechnologien größere Fortschritte auf diesem Gebiet zu erwarten sein.

Polygene und multifaktorielle Ursachen

Mildere Formen der geistigen Behinderung [Intelligenzquotient (IQ) 50–70] stellen teilweise den unteren Bereich der Normalverteilung der Intelligenz dar. Während man bei Patienten mit schwerer MR (Prävalenz etwa 0,3–0,5%) davon ausgehen kann, dass die Hirnfunktionsstörung zu einem großen Teil Folge des Funktionsverlustes eines oder mehrerer Gene ist, wird als Ursache für die wesentlich häufigeren milden MR-Formen neben monogenen und chromosomalen Defekten auch ein Zusammenspiel von ungünstigen Genvarianten (Polymorphismen) und Umwelteinflüssen vermutet. Zu den daran beteiligten hypothetischen „Intelligenzgenen“ ist aber praktisch nichts bekannt. Assoziationsstudien wurden und werden durch die starke nichtgenetische Beeinflussung des Merkmals „Intelligenz“ erschwert und erbrachten bislang keine befriedigenden Ergebnisse [2].

Wiederholungsrisiko für Geschwister

Für Geschwister von MR-Patienten mit nachgewiesener Genveränderung oder Chromosomenstörung lässt sich das Wiederholungsrisiko meist präzise angeben, und den Eltern kann in der Regel auch ein vorgeburtlicher Test angeboten werden. Bei sporadischen NS-MR-Patienten ohne nachgewiesene Ursache muss auf empirische Zahlen zurückgegriffen werden, und das Wiederholungsrisiko beträgt für jedes Geschwister – mit geringen Schwankungen abhängig vom Geschlecht – etwa 8% [16]. Für die Eltern ist diese Angabe allerdings meist unbefriedigend, da das tatsächliche Wiederholungsrisiko zwischen 50% und dem allgemeinen Basisrisiko für MR von etwa 2% liegen kann. In Unkenntnis des ursächlichen Gendefektes bei dem Indexpatienten kann auch keine zielgerichtete Pränataldiagnostik angeboten werden.

Ausblick

Nichtsyndromale geistige Behinderung ist ein Krankheitsbild mit ausgesprochen heterogenen genetischen Ursachen, was in der Komplexität des zentralen Nervensystems und der Tatsache, dass mehr als 50% aller Gene im Gehirn exprimiert werden, begründet liegt. Trotz der hohen Prävalenz von NS-MR sind bis jetzt nur verhältnismäßig wenige Krankheitsgene identifiziert worden. Neue Technologien (Array-CGH, Genotypisierungschips, leistungsfähigere Sequenziermethoden) werden aber in den nächsten Jahren die Aufklärung zahlreicher neuer NS-MR-Krankheitsgene ermöglichen. Da wahrscheinlich jedes einzelne NS-MR-Gen nur bei einem sehr geringen Prozentsatz der Patienten verändert ist, wird dieser Wissenszuwachs nur dann praktische Konsequenzen für die Routinediagnostik haben, wenn kostengünstige Methoden (z. B. „next generation sequencing“) ein paralleles Mutationsscreening in mehreren (möglicherweise einigen Hundert) Genen erlauben. Molekulargenetische Suchtests in solchen Größenordnungen werden allerdings auch neue Herausforderungen mit sich bringen: in vielen Fällen wird es zum Nachweis von mehreren Veränderungen in unterschiedlichen Genen bei ein und demselben Patienten kommen, und die Aufgabe des Humangenetikers wird es dann sein, anhand geeigneter Kriterien (klinisches Bild, Genfunktion, Vergleich mit ähnlichen Mutationen im selben Gen usw.) die einzelnen Mutationen auf ihre pathogenetische Relevanz hin zu beurteilen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen für die genetische Beratung und ggf. auch die Pränataldiagnostik abzuleiten. Eine vergleichbare Situation liegt bereits jetzt in der Diagnostik mittels hochauflösender Array-CGH vor, bei der sich nachgewiesene Aberrationen nicht immer eindeutig interpretieren lassen.
Solange jedoch derartige globale molekulargenetische Analysen für die Routinediagnostik nicht zur Verfügung stehen, bleibt es weiterhin die vordringliche Aufgabe des klinischen Genetikers und Syndromologen, bei idealerweise allen Patienten mit einem klinisch erkennbaren Krankheitsbild – insbesondere auch bei denen mit subtiler Ausprägung – die richtige Syndromdiagnose zu stellen und damit den Anteil der nicht klassifizierbaren, also nichtsyndromalen Patienten mit mentaler Retardierung möglichst gering zu halten.

Infobox 1

  • EUROMRX-Konsortium: www.euromrx.com
  • German Mental Retardation Network (MRNET): www.german-mrnet.de

Interessenkonflikt

Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access This is an open access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution Noncommercial License ( https://​creativecommons.​org/​licenses/​by-nc/​2.​0 ), which permits any noncommercial use, distribution, and reproduction in any medium, provided the original author(s) and source are credited.

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Metadaten
Titel
Genetik der nichtsyndromalen geistigen Behinderung
verfasst von
Dr. A. Tzschach
Publikationsdatum
01.06.2009
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
medizinische genetik / Ausgabe 2/2009
Print ISSN: 0936-5931
Elektronische ISSN: 1863-5490
DOI
https://doi.org/10.1007/s11825-009-0160-0

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