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Open Access 06.03.2024 | Intoxikationen | Kasuistiken

Kratom – Nahrungsergänzungsmittel oder tödliche Droge?

verfasst von: Dr. med. univ. Tobias Huter, Carolin Edler, Benjamin Ondruschka, Stefanie Iwersen-Bergmann, Ann Sophie Schröder

Erschienen in: Rechtsmedizin

Zusammenfassung

Die in Deutschland nichtregulierte Substanz Kratom mit dem psychoaktiven Wirkstoff Mitragynin wird hierzulande z. B. als Nahrungsergänzungsmittel vertrieben und führt in verschiedenen Dosierungen von stimulierenden bis zu sedierenden Effekten. Das Nebenwirkungsprofil reicht von Schwindel über Krampfanfälle bis zur Atemdepression. International sind bereits mehrere Todesfälle im Zusammenhang mit Kratom (Misch- und Monointoxikationen) berichtet worden. Es wird die erste tödliche Mitragyninmonointoxikation aus Deutschland vorgestellt.
Hinweise
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Einleitung

Der tropische Kratombaum (Mitragyna speciosa) ist im südostasiatischen Raum heimisch. Traditionell werden die Blätter gekaut oder die aus den Blättern gewonnenen Präparate (Kratom) als Stimulans eingenommen, als Tee getrunken oder geraucht [1]. Kratom enthält zahlreiche Alkaloide. Die relevantesten Inhaltsstoffe sind Mitragynin und 7‑Hydroxymitragynin, deren Wirkmechanismus noch nicht in vollem Umfang geklärt ist. In höheren Dosierungen kommt es zu sedierenden und narkotisierenden Wirkungen, die durch agonistische Wirkungen an µ‑Opioid-Rezeptoren zu erklären sind. In der Literatur werden Überdosierungssymptome bis zu Krampfanfällen, Halluzinationen, Ateminsuffizienz und Koma oder Tod beschrieben [2]. Kratom als Nahrungsergänzungsmittel bzw. als natürlicher Farbstoff mit „beruhigender Wirkung“ ist in Deutschland derzeit frei verfügbar und mit Lieferung „frei Haus“ im Internet für jedermann zu bestellen. Dadurch sind derzeit keine offiziellen Verkaufs- oder Konsumzahlen bekannt. Tödliche Verläufe sind bereits bekannt; die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) berichteten von mehr als 90 Todesfällen in Verbindung mit Kratom für den Zeitraum Juli bis Dezember 2017 in den USA [3]. Vorgestellt wird der erste Fall einer tödlichen Kratommonointoxikation aus Deutschland.

Kasuistik

Auffindesituation und Anamnese

Ein unter 30-jähriger Mann wurde morgens leblos in seinem Bett in seinem Zuhause aufgefunden; am Vorabend sei nichts Auffälliges passiert. Von einer hinzugezogenen Notärztin wurde ohne Reanimationsmaßnahmen der Tod festgestellt. Nach Angaben aus dem Umfeld seien eine Depression und ein früherer Cannabiskonsum bekannt, zudem habe der Mann in der Vergangenheit in unregelmäßigen Abständen Krampfanfälle erlitten, die teilweise ohne (rettungs-)medizinische Maßnahmen zu Hause behandelt worden seien. Seit etwa einem Jahr konsumiere er keine Drogen mehr, treibe regelmäßig Sport und achte streng auf seine Ernährung mithilfe von „Nahrungsergänzungsmitteln“.
Von der Polizei wurden in seinem Zimmer diverse Nahrungsergänzungsmittel (konkret ausschließlich Kratom), Sahnekapseln, Luftballons, sog. Kapsler, Nutzhanfblüten, unterschiedliche Medikamente (Biotin-Kapseln, Hoggar®-Night-Tabletten, Paracetamol) sowie eine Feinwaage und ein Proteinshaker aufgefunden. Eine gerichtliche Sektion wurde zur Klärung der Todesursache angeordnet.
Aus den zur Sektion vorliegenden medizinische Unterlagen ging hervor, dass der Mann früher Betäubungsmittel (Kokain, Amphetamine und Cannabis) konsumiert haben soll. Zusätzlich waren der regelmäßige Gebrauch des Nahrungsergänzungsmittels „Kratom“ und eine damit verbundene Krankenhauseinweisung aufgrund eines Krampfanfalls bei Überdosierung ca. 18 Monate vor dem Versterben dokumentiert. Eigenanamnestisch soll in diesem Zusammenhang eine regelmäßige Einnahme von Kratom angegeben worden sein.

Obduktion

Autoptisch wurden unspezifische Hinweise auf eine Intoxikation, wie ein Hirnödem, ein hämorrhagisches Lungenödem, eine weitgestellte Harnblase und flüssiges Leichenblut festgestellt. Zudem bestand eine finale Aspiration von Mageninhalt, die sich in der Mikroskopie bestätigte (Abb. 1). Bis zur Trachealbifurkation fand sich Mageninhalt und im Gesicht angetrocknetes Erbrochenes. Zeichen eines Erstickens fanden sich mikroskopisch nicht. Im Magen fand sich reichlich beige-weißlicher, eher flüssiger Inhalt mit vereinzelten festen, fleischartigen Bestandteilen. Makroskopisch konnten keine Tablettenrückstände im Mageninhalt festgestellt werden, und es bestanden morphologisch keine Hinweise auf einen aktuellen oder früheren i.v.-Drogen-Konsum. Konkrete Hinweise auf einen stattgehabten Krampfanfall fanden sich nicht. Wesentliche Organvorschädigungen und eine autoptisch fassbare Todesursache wurden nicht festgestellt, es bestand der Verdacht auf eine Intoxikation.
Als Asservate aus dem Zimmer des Verstorbenen wurden von der Kriminalpolizei zur Obduktion 3 mit Pulver gefüllte Beutel à 1 kg mit der Bezeichnung „Natural Colorant“ und den Angaben „BPR“, „ASR“ und „EGE“ (szenetypische Beschriftung) sowie dem Hinweis „nicht zum Verzehr geeignet“ (Abb. 2) übergeben. Die dezent erdig-muffig riechenden Pulver unterschieden sich leicht in ihrer grün-braunen Farbe.

Chemisch-toxikologische Untersuchungen

Im Rahmen einer „General-unknown“-Analyse mittels Immunchemie, GC-MS und einer Suchanalyse nach basischer und saurer Flüssig/Flüssig-Extraktion mittels LC-MSn-Ionenfalle, Toxtyper® (Fa. Bruker Daltonics, Bremen, Deutschland) [4] wurden im Urin neben Doxylamin und Coffein auch verschiedene Mitragyninmetaboliten (++) nachgewiesen. Im Schenkelvenenblut fand sich Doxylamin nur noch in Spuren (< Bestimmungsgrenze 5 ng/ml). Benzodiazepine, Z‑Substanzen, Opioide (Alfentanil, Buprenorphin, Norbuprenorphin, Fentanyl, Hydrocodon, Hydromorphon, Oxycodon, Sufentanil, Tapentadol, N-Desmethyltapentadol, Tilidin, Nortilidin, Tramadol, O‑Desmethyltramadol), Amphetamine, Opiate und Cocain wurden im Schenkelvenenblut nicht nachgewiesen. Mitragynin wurde ausschließlich aus dem Schenkelvenenblut gezielt mit einer validierten Methode mittels LC-MS/MS in einer Konzentration von 1,5 mg/l in einem Auftragslabor bestimmt; der aktive Metabolit 7-Hydroxymitragynin wurde bei der quantitativen Methode nicht erfasst. Die Analyse einer kopfhautnah entnommenen, 3 cm langen Haarprobe auf Morphin, Codein, 6-Monoacetylmorphin, Methadon, Buprenorphin, Cocain, Benzoylecgonin, Amphetamin, Methamphetamin, MDMA, MDA und einige Benzodiazepine verlief negativ. Die Blutalkoholkonzentration im Schenkelvenenblut lag bei 0,00 ‰. Das asservierte Pulver entspricht in Form, Farbe und Geruch Kratom; in allen 3 Päckchen wurde Mitragynin mit dem Toxtyper® nachgewiesen.

Diskussion

Im vorgestellten Fall wurden im Urin verschiedene Mitragyninmetaboliten und im Venenblut 1,5 mg/l Mitragynin nachgewiesen. Relevante Einflüsse anderer zentral wirksamer Substanzen wurden nicht festgestellt. Die Kopfhaaranalyse erbrachte keine Hinweise auf einen Konsum gängiger Betäubungsmittel in dem Dreimonatszeitraum vor dem Versterben. Aus der Vorgeschichte war bekannt, dass ein bereits längerer Konsum von Kratom, wohl eingenommen als „Nahrungsergänzungsmittel“, bestand und bereits zu Krampfanfällen geführt hatte. Ob eine Einnahme aus ernährungstechnischen Gründen (Nahrungsergänzungsmittel) oder mit Missbrauchsabsicht im Wissen um die sedierenden Effekte erfolgt war, war nicht zu klären. Als Todesursache ist in Zusammenschau der Obduktionsbefunde und Ergebnisse der toxikologisch-chemischen Untersuchungen eine Monointoxikation mit Kratom festzustellen.
Obwohl Mischintoxikationen mit Kratom in Deutschland bereits bekannt sind [5], handelt es hier um die erste berichtete letale Monointoxikation mit Kratom aus Deutschland. Als konkret todesursächlich muss an eine zentrale Atemdepression mit finaler Aspiration, ggf. kompliziert durch einen Krampfanfall gedacht werden. In der Literatur werden für tödliche Monointoxikationen Mitragyninkonzentrationen von 0,3 bis 3,8 mg/l beschrieben [68]. Tödliche Vergiftungen werden v. a. in Kombination mit anderen Betäubungsmitteln berichtet, dabei stehen Opioide, insbesondere Fentanyl und Analoga, sowie Benzodiazepine an der Spitze [9]. In einem weiteren Todesfall, der in unserem Haus untersucht wurde, konnten Mitragynin und dessen Metaboliten lediglich im Urin nachgewiesen werden. Es handelte sich um eine tödliche Mischintoxikation mit Opioiden und Pregabalin in Kombination mit weiteren zentral wirksamen Substanzen.
Der vorgestellte Fall unterstreicht die Gefährlichkeit der Substanz und damit die Notwendigkeit der öffentlichen und behördlichen Sensibilisierung. Die Verbraucherschutzzentrale warnt vor dem Konsum von Kratom bezüglich des erheblichen Nebenwirkungsprofiles und Suchtpotenzials [10]. Von Eggleston et al. [2] wurde das Nebenwirkungsprofil in 935 Fällen von Mitragynineinnahmen ohne andere Substanzen ausführlich beschrieben. Dabei zeigten sich Agitation, Tachykardie, Schwindel, Erbrechen, Übelkeit und Verwirrung mit Häufigkeiten von 8,1–18,6 %. Schwerwiegendere Effekte wie Krämpfe, Entzugserscheinungen, Halluzinationen, Atemdepression und Koma zeigten sich in 2,3–6,1 % der Fälle. Zum kardialen oder zum pulmonalen Versagen kam es bei 0,6 %. Da Kratom an µ‑Opiat-Rezeptoren bindet, findet eine klinische Behandlung bei Überdosierung als auch Entzugserscheinungen nach Standardschema wie bei anderen Opioidintoxikationen statt.

Fazit für die Praxis

  • Eine letale Monointoxikation mit Kratom ist möglich.
  • Die Gefährlichkeit der Substanz verdeutlicht die notwendige Sensibilisierung im ärztlichen und im polizeilichen Umgang mit Verdachtsfällen.
  • Der vorgestellte Fall einer Monointoxikation mit Kratom macht deutlich, dass nicht nur von der Seite der synthetischen Drogen hohe Anforderungen an die messtechnische Ausstattung forensisch-toxikologischer Labore gestellt werden, sondern auch durch neue missbräuchlich konsumierte „Naturstoffe“. Nur, wenn forensisch-toxikologische Labors mit entsprechender moderner Messtechnik (LC-MS/MS, Time-of-Flight[TOF]-MS u. Ä.) ausgestattet sind, ist es möglich, neue Trends in der (Drogen)Szene zu erkennen. Dies wiederum ist die Voraussetzung für die Ergreifung geeigneter präventiver Maßnahmen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

T. Huter, C. Edler, B. Ondruschka, S. Iwersen-Bergmann und A.S. Schröder geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Untersuchungen erfolgten unter Einhaltung der Vorgaben der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer. Die gemeinsame Nutzung von Daten gilt nicht für diesen Artikel, da im Rahmen der aktuellen Studie keine Datensätze erstellt oder analysiert wurden.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

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Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

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Literatur
Metadaten
Titel
Kratom – Nahrungsergänzungsmittel oder tödliche Droge?
verfasst von
Dr. med. univ. Tobias Huter
Carolin Edler
Benjamin Ondruschka
Stefanie Iwersen-Bergmann
Ann Sophie Schröder
Publikationsdatum
06.03.2024
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Rechtsmedizin
Print ISSN: 0937-9819
Elektronische ISSN: 1434-5196
DOI
https://doi.org/10.1007/s00194-024-00685-w

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