Erschienen in:
01.10.2022 | Originalien
Legalisierte Entrechtung: zur juristischen Konstruktion von Entlassung und Vertreibung im Nationalsozialismus
verfasst von:
Michael Martin, Axel Karenberg, Prof. Dr. med. Heiner Fangerau
Erschienen in:
Der Nervenarzt
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Sonderheft 1/2022
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Zusammenfassung
Um die Mechanismen und Hintergründe der Verfolgung und Vertreibung vor allem als „jüdisch“ etikettierter Ärztinnen und Ärzte im nationalsozialistischen Deutschland begreiflich zu machen, skizziert der vorliegende Aufsatz deren schrittweise Entrechtung durch Gesetze und Verordnungen in den Jahren von 1933 bis 1939. Da der öffentlich wahrnehmbare Terror unmittelbar nach der Machtübernahme in weiten Teilen der Gesellschaft auf Ablehnung stieß, setzte das Regime bereits frühzeitig auf vermeintlich legale Formen der Ausgrenzung. Mit dem Berufsbeamtengesetz vom 07.04.1933 konnten „nichtarische“ (§ 3) und politisch unzuverlässige (§ 4) Personen, notfalls auch ohne weitere Angabe von Gründen (§ 6), aus dem Dienst entfernt werden. Allerdings schränkten eine Altbeamtenregel sowie das „Frontkämpferprivileg“ die beabsichtigte Wirkung z. B. in der Hochschulmedizin aus Sicht der Machthaber in ungeahnter Form ein. Das Reichsbürgergesetz von 1935 führte als Teil der sog. Nürnberger Gesetze das Kriterium der „Deutschblütigkeit“ ein und resultierte in einer zweiten großen Entlassungswelle. Jenseits der Universitäten zielte eine Fülle weiterer diffamierender Rechtsnormen – von der Regelung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen und dem Gesetz über Ehrenämter (beide 1933) über den sog. Flaggenerlass (1937) bis hin zum Entzug der Approbation (1938) – auf die sukzessive „Ausschaltung“ jüdischer Medizinerinnen und Mediziner, die für nicht wenige von ihnen im Holocaust endete. Diese sich über Jahre erstreckende Vorgehensweise, die auf einer eigens konstruierten Jurisdiktion basierte, ist im Rückblick sehr treffend als „legales Unrecht“ bezeichnet worden.