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Erschienen in: Rechtsmedizin 1/2008

01.02.2008 | Leitthema

Historischer Überblick des nichtakzidentellen Schädel-Hirn-Traumas im Säuglings- und Kleinkindalter

verfasst von: Dr. J. Matschke

Erschienen in: Rechtsmedizin | Ausgabe 1/2008

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Auszug

Im Jahr 1860 veröffentlichte der Pariser Rechtsmediziner Auguste Ambroise Tardieu (1818–1879) einen Aufsatz mit dem Titel Rechtsmedizinische Untersuchung über Grausamkeiten und Misshandlungen an Kindern (Étude médico-légale sur les sévices et mauvais traitements exercés sur des enfants; [16, 18]). Darin beschreibt er seine Beobachtungen an insgesamt 32 Fällen von misshandelten Kindern mit einem Alter von wenigen Monaten bis 17 Jahren. In 18 Fällen („Observation XV–XXXII“) schildert er Befunde der von ihm persönlich vorgenommenen Sektionen. Neben mehreren Beispielen, die offensichtlich auf Vernachlässigung und/oder Nahrungsentzug zurückgehen, finden sich 2 Fälle, die Zeichen eines Schädel-Hirn-Traumas aufweisen: Bei einem zweijährigen Mädchen werden neben Blutunterlaufungen an Kopf und Extremitäten eine „Blutansammlung, die das Hirn bedeckt“ beschrieben, und ein dreijähriger Junge zeigt „Kontusionen von Hirn und Rückenmark“. In einem dritten Fall, in dem keine Altersangabe gemacht wird, liegt ein „Hydrozephalus“ vor. Tardieu kann somit als Erstbeschreiber einiger klassischer Befunde beim nichtakzidentellen Schädel-Hirn-Trauma im Säuglings- und Kleinkindalter angesehen werden – rund 100 Jahre vor Henry Kempes maßgeblicher Veröffentlichung über das Syndrom des misshandelten Kindes [13]. Tardieu und seine Arbeit gerieten jedoch in Vergessenheit; im späten 19. bis weit in das 20. Jh. hinein galt den meisten Ärzten das Thema Kindesmisshandlung als soziales und nicht als medizinisches Problem [8]. Auch der Fall der kleinen Mary Ellen aus New York, der 1874 Schlagzeilen machte und zum Ausgangspunkt eines allgemeinen gesellschaftlichen Wandels in der Haltung gegenüber Kindesmisshandlung wurde, scheint auf die medizinische Welt keinen nachhaltigen Einfluss gehabt zu haben [14]. Daher mussten die sich nach 1874 rasch von Amerika auf das alte Europa ausbreitenden ersten Kinderschutzorganisationen wie etwa die New York Society for the Prevention of Cruelty to Children (NYSPCC) zunächst ohne jede ärztliche Unterstützung auskommen. Im Jahr 1946 veröffentlicht der Kinderarzt John Caffey eine Arbeit, in der er das gleichzeitige Vorkommen von Subduralblutungen, retinalen Blutungen und Frakturen der langen Röhrenknochen bei Säuglingen und Kleinkindern schildert. Caffey hat zwar den Verdacht, dass die Befunde durch eine oder mehrere nichtbemerkte Verletzungen oder Unfälle entstanden sein könnten; dass es sich allerdings tatsächlich um ein syndromales Bild infolge einer Misshandlung handelt, kann der spätere Beschreiber des „shaken-baby syndrome“ zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht mit Sicherheit beweisen [1]. Erst Kempe fügt 1962 das Puzzle aus scheinbar unabhängig voneinander bestehenden Symptomen zum ganzheitlichen Bild des „battered-child syndrome“. Er rückt das misshandelte Kind in das Licht der medizinischen Öffentlichkeit, wobei er ihm durch das Zuordnen des medizinischen Adelstitels „Syndrom“ zu einer rascheren und in gewisser Weise auch sicherlich hilfreichen Kanonisierung verhalf [13]. Ab diesem Zeitpunkt steigt – nach der üblichen „lag phase“ – die Anzahl von medline-Treffern für den Thesaurus-Suchterm „battered-child syndrome“ geradezu exponentiell an. Der britische Neurochirurg Guthkelch beschreibt 1971 zwei Fälle von Kindern ohne äußere Verletzungen mit Subduralblutungen. Guthkelch kennt die experimentellen Arbeiten von Ommaya, der bereits in den 60er Jahren zeigen konnte, dass abrupte Akzelerations-Dezelerations-Beschleunigungen bei Affen Subduralblutungen erzeugen können [15], und so vermutet er, dass auch bei seinen kleinen Patienten ein „whiplash injury“ vorgelegen haben könnte [11]. …
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Metadaten
Titel
Historischer Überblick des nichtakzidentellen Schädel-Hirn-Traumas im Säuglings- und Kleinkindalter
verfasst von
Dr. J. Matschke
Publikationsdatum
01.02.2008
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
Rechtsmedizin / Ausgabe 1/2008
Print ISSN: 0937-9819
Elektronische ISSN: 1434-5196
DOI
https://doi.org/10.1007/s00194-007-0490-7

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