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Erschienen in: Ethik in der Medizin 1/2013

01.03.2013 | Originalarbeit

Das Identitätsproblem der tiefen Hirnstimulation und einige seiner praktischen Implikationen

verfasst von: Dr. Karsten Witt

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 1/2013

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Zusammenfassung

Ein Leitmotiv der medizinethischen Auseinandersetzung mit der tiefen Hirnstimulation (THS) ist die Beschäftigung mit Fragen personaler Identität. Da es sich bei personaler Identität auch um ein Problem der theoretischen Philosophie handelt, wird in diesem Aufsatz nicht nur die praktische Frage nach der ethischen Legitimation der THS durch informierte Einwilligung gestellt und ein modifiziertes Legitimationskriterium für wesensändernde THS erarbeitet. Vielmehr wird zunächst versucht, das Problem, um das es in der Debatte um THS und personaler Identität geht, besser zu verstehen.
Fußnoten
1
„ELSA-DBS“ ist das Kürzel des deutsch-kanadischen Verbundprojekts „Ethical, Legal and Social Aspects of Deep Brain Stimulation“, siehe auch http://geschichte-ethik.uk-koeln.de/forschungsstelle-ethik/forschung-1/elsa-dbs (zugegriffen: 20. Juli 2012). Der vorliegende Aufsatz ist im Rahmen dieses Projekts entstanden.
 
2
Bisher sind tiefgreifende psychische Effekte der THS überwiegend bei Parkinsonpatienten aufgetreten; dennoch sind meine Überlegungen zum Identitätsproblem prinzipiell auch für andere THS-Patientengruppen relevant und können bei Bedarf entsprechend übertragen werden.
 
3
Obwohl ein Zusammenhang zwischen Stimulation und Wesensänderung bei einigen THS-Patienten kaum bezweifelbar ist, ist zurzeit noch unklar, ob noch weitere Einflussfaktoren existieren. Diese Unklarheit werde ich hier ausblenden und vereinfachend von einem relevanten kausalen Zusammenhang zwischen Stimulation und psychischen Nebenwirkungen ausgehen.
 
4
Zu den verwendeten Kürzeln: „P16MP“ zeigt an, dass es sich bei der befragten Person um die sechzehnte Patientin (P) handelt, die wegen ihrer Parkinsonerkrankung (MP) behandelt wird. Der Zusatz „postOP2“ drückt aus, dass das Zitat aus dem Interview stammt, das 3 Monate nach der Operation geführt wurde. Die Zeilenangaben beziehen sich auf die Transkripte der jeweiligen Interviews aus dem ELSA-DBS-Projekt (vgl. Anmerkung 1).
 
5
Die These, dass Wesensänderungen in der THS-Therapie zumindest potentiell ein Problem transtemporaler personaler Identität (im Sinne narrativer Identität) darstellen, ist in der medizinethischen THS-Debatte häufig anzutreffen; vgl.u. a. [2, 3, 8, 11, 23].
 
6
Die Ausdrücke „Leben“ und „Tod“ müsste man hierzu allerdings von ihren biologischen Konnotationen ablösen; diese Ablösung, die ich hier aufgreife, hat in der Debatte um personale Identität eine lange Tradition.
 
7
A zum Zeitpunkt t ist mit A zum späteren Zeitpunkt t* genau dann qualitativ identisch, wenn A zu beiden Zeitpunkten exakt dieselben Eigenschaften hat.
 
8
Als Grund für die praktische Bedeutung numerischer Identität könnte man die tiefe Überzeugung vieler Menschen anführen, dass „ich“ zu sein, zu existieren, eine unumstößliche metaphysische Tatsache ist ([4], S. 101). Also, so könnte man fortfahren, muss ihnen auch die Metaphysik Aufschluss darüber geben können, ob sie es waren, die zu einem früheren Zeitpunkt ein Delikt begangen haben, oder ob sie es sein werden, die zukünftig in den Genuss ihrer heutigen Sparanstrengungen gelangen werden.
 
9
Vgl. auf Seiten der Philosophie zum Beispiel ([15], Kap. 3; [18, 22]) sowie auf Seiten der Medizinethik erneut [2, 3].
 
10
Zum Zusammenhang von C-Identität und persönlicher Perspektive, auf den ich hier nicht näher eingehe, vgl. ([14], S. 319; [20], S. 181; [28], S. 150–151 sowie 200–205). Kritisch äußert sich ([13], S. 28–31).
 
11
Die Rede von „Nachfolgerin“ oder „Patientin*“ ist neutral gegenüber der Frage, ob wir es bei wesensändernder THS mit ein und derselben oder mit zwei verschiedenen Personen zu tun haben. Welche Interpretation zutrifft, hängt, wie oben erläutert, davon ab, ob (Ü2) oder (Ü3) die richtige Beschreibung dessen ist, was wesensändernde THS bewirkt.
 
12
Vgl. zu ähnlichen Überlegungen ([9], S. 283, Anm. 159; [19], S. 281–282; [27], S. 53–54).
 
13
Eine klassische Formulierung dieser Ideen findet sich beispielsweise bei Mill ([10], S. 16–18, 129).
 
14
Indem die zweite Bedingung fordert, dass die Patientin sich in ihre Nachfolgerin hineinversetzt, versucht sie, diesem Erfordernis so gut es geht gerecht zu werden und die postoperative Bewertung gewissermaßen schon präoperativ zu imaginieren.
 
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Metadaten
Titel
Das Identitätsproblem der tiefen Hirnstimulation und einige seiner praktischen Implikationen
verfasst von
Dr. Karsten Witt
Publikationsdatum
01.03.2013
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 1/2013
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-012-0232-6

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