Alzheimer durch zelluläre Verdauungsstörung?

Aktuellen Erkenntnissen zufolge ist eine gestörte zelluläre Verdauung ein Hauptgrund für die Amyloid-Ablagerung bei Alzheimer. Das eröffnet neue therapeutische Wege. Trotz Dekaden intensiver Forschung ist noch immer recht unklar, was im Gehirn eine Alzheimerdemenz auslöst. Beta-Amyloid-Aggregaten wird eine zentrale Bedeutung attestiert, doch Forscher diskutieren weiterhin, wo und warum diese Proteinfragmente verklumpen. Klar ist, dass bestimmte Mutationen die Beta-Amyloid-Produktion ankurbeln, aber auch Duplikationen und Triplikationen des Gens für das normale Amyloid-Vorläufer-Protein APP führen zu einer vermehrten Amyloiddeposition und einer vorzeitigen Alzheimerdemenz. Das lässt sich ganz gut bei Trisomie 21 beobachten. Zu viel Amyloid, so viel scheint zumindest klar zu sein, ist nicht gut fürs Hirn. Klar ist auch, dass die Amyloidablagerungen in den senilen Plaques extrazellulär zu finden sind. Neue Forschungen stützen nun aber die Inside-out-Hypothese, wonach sich die Aggregate zunächst in den Zellen bilden. Offenbar liegt das an einem gestörten lysosomalen System, und diese Störungen werden zum Teil durch die Amyloidfragmente selbst verursacht. Das lässt auf ganz neue Ansätze in der Alzheimertherapie hoffen. Protonenpumpe in Verdauungsorganellen lahmgelegt Auf der ersten Hauptsitzung beim virtuell abgehaltenen internationalen Alzheimerkongress (AAIC) stellte Professor Ralph Nixon vom Langone Medical Center New York neue Resultate vor, wonach Beta-Amyloid-Fragmente und vor allem deren Vorstufe ßCTF (Carboxy-Terminal Fragments) die Protonenpumpen in Lysosomen und Autolysosomen lahmlegen. Als Folge sinkt der pH-Spiegel in solchen Verdauungsorganellen nicht wie gewohnt. Damit diverse Verdauungsenzyme aktiviert werden, muss das Milieu jedoch sauer sein. Wird dieser Vorgang blockiert, reifen die Organellen nicht weiter, die Proteinfragmente werden nicht abgebaut und akkumulieren. Das Team um Nixon konnte in einem Alzheimer-Mausmodell zeigen, wie Nervenzellen mit der Zeit massiv Autolysosomen bilden, die einen zu hohen pH-Wert haben, und in denen sich Amyloidaggregate anhäufen. Da die Aggregate nicht abgebaut werden, kommt es zu einer explosionsartigen Vermehrung solcher Verdauungsvesikel. „In ihrer Not versucht die Zelle, die Vesikel irgendwo abzusondern, um sie von der Zellmaschinerie fernzuhalten“, so Nixon. Sie bildet Bläschen und Ausstülpungen, in die sie die dysfunktionalen Organellen abschiebt. Solche Schwellungen würden häufig als dendritische Plaques bezeichnet, hätten mit Dendriten jedoch nichts zu tun. Geht das Neuron schließlich zugrunde, versammeln sich die Blasen meist um den Zellkern. Im Zentrum seniler Plaques konnten die Forscher um Nixon nukleäre Proteine nachweisen, die sie als Reste eine Neuronzellkörpers auswiesen. Zellen mit Lysosomen bis zum Platzen vollgestopft Der Experte sieht hier deutliche Parallelen zu lysosomalen Speicherkrankheiten, in denen Zellen bis zum Platzen mit dysfunktionalen Lysosomen und Autolysosomen vollgestopft sind. Zwar sei auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen das zelluläre Verdauungssystem gestört, doch weder bei Parkinson noch ALS ließen sich derartige Ansammlungen von Verdauungsvesikeln wie bei Alzheimer nachweisen. Umgekehrt würden viele der lysosomalen Speicherkrankheiten früh zu kognitiven Defiziten führen und milde Formen im Alter zu einer beschleunigten Demenz. Auch dies sieht Nixon als Hinweis, dass dem zellulären Verdauungsapparat eine Schlüsselrolle bei neurodegenerativen Erkrankungen zukommt. Für die Dysfunktion der Autophagie sieht Nixon zwei Ursachen. Zum einen wird zu viel Material angeschleppt – die Verdauung ist damit überfordert, zum anderen blockiert dieses Material die Protonempumpe mit der Bezeichnung V-Typ-ATPase und damit die Ansäuerung und Verdauung. Die Forscher konnten zeigen, dass sowohl Mutationen im APP-Gen sowie in den Präsenilin-Genen, die familiären Morbus Alzheimer verursachen, die Protonenpumpe lahmlegen. Die APP-Mutationen erzeugen vermehrt ßCTF, welches den Zusammenbau der ATPase verhindert, ähnlich die Präsenilin-Mutationen. Präseniline bilden mit anderen Proteinen den Gama-Sekretase-Komplex, welcher APP spaltet. Unabhängig davon hat die Sekretase aber noch eine spezifische Funktion in den Verdauungsorganellen: Sie ist an der Aktivierung der Protonenpumpe beteiligt, entsprechende Mutationen verhindern dies. Das hat für das Verständnis der Pathogenese eine erhebliche Bedeutung: Ging man bisher davon aus, dass die Sekretase aufgrund von Mutationen APP falsch spaltet und dies zu einer Beta-Amyloid-Anreicherung führt, scheint der Grund ein ganz anderer zu sein: Ist die Protonenpumpe inaktiv, löst dies Alzheimer aus. Ein neuer Ansatz könnte also darauf zielen, nicht Sekretasen zu blockieren, wie man das bislang erfolglos versucht hat, sondern die Protonenpumpe zu mobilisieren und die zelluläre Verdauung wieder anzukurbeln. Generell, so Nixon, scheint eine dysfunktionale Autophagie bei den meisten neurodegenerativen Erkrankungen vorzuliegen, wobei unterschiedliche Mechanismen gestört sind. Der Experte nannte rund 50 bekannte Gene, die an neurodegenerativen Erkrankungen beteiligt sind und zugleich eine wichtige Bedeutung bei der Autophagie besitzen. Inzwischen hat dies auch die pharmazeutische Forschung erkannt und testet diverse „small molecules“ zur Verstärkung der zellulären Verdauung, etwa den Multikinasehemmer Nilotinib. „Lange Zeit galten Lysosomen als die langweiligsten Organellen der Zellen. Das hat sich nun geändert“, so Nixon. Quelle: Alzheimer's Association International Conference (AAIC) 2020, July 27‒31. Plenary Session July 27. Nixon R. Proteostasis Failure In Alzheimer’s Disease And Related Dementias ‒ New Clues To Pathogenesis And Therapy.

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