Einleitung
In Deutschland werden ca. 3,4 Mio. Menschen als pflegebedürftig eingestuft, von denen 818.000 in Einrichtungen der stationären Langzeitpflege, im Folgenden als Pflegeeinrichtungen bezeichnet, versorgt werden [
1]. Dabei stellt die steigende Zahl an multimorbiden Bewohner:innen die Einrichtungen vor zunehmende Herausforderungen [
2]. Insbesondere Notfallsituationen, hier verstanden als physische oder psychische Veränderungen des Gesundheitszustands, für welche die Patientin/der Patient oder Dritte eine unverzügliche Versorgung erachten [
3], führen bei Pflegeheimbewohner:innen häufig zu Rettungsdiensteinsätzen und Krankenhauszuweisungen [
4]. Pro Jahr werden 29–62 % der Pflegeheimbewohner:innen mindestens einmal in der Notaufnahme vorstellig [
5]. Sie werden häufiger hospitalisiert als nicht institutionalisierte Gleichaltrige [
6]. Die Inanspruchnahme ambulanter Notfallversorgungen steigt im Folgejahr der Einweisung in eine Pflegeeinrichtung [
7].
Rettungsdiensttransporte und Krankenhauszuweisungen können mit physischen und psychischen Funktionseinbußen sowie gesundheitlichen Risiken einhergehen [
8], sog. Hazards of Hospitalization [
9]. Zudem überfordert der Kontextwechsel häufig die Bewältigungsstrategien der Bewohner:innen (Relocation Stress; [
10,
11]). 4–55 % der Krankenhauszuweisungen aus Pflegeeinrichtungen werden als potenziell vermeidbar eingeschätzt [
12], wobei Vermeidbarkeit nicht definiert bzw. operationalisiert wird.
In den letzten Jahren sind u. a. in systematischen Reviews verschiedene Einflussfaktoren von Hospitalisierungen und Transferentscheidungen in Pflegeeinrichtungen untersucht worden [
12‐
15]. Zudem werden in bisherigen Studien einzelne Umstände beleuchtet, die eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung für oder gegen eine Krankenhauszuweisung spielen und z. T. bedeutender als die klinische Präsentation sind. Hierzu gehören bspw. Mangel an Pflegepersonal, eingeschränkte Erreichbarkeit ärztlicher Ansprechpartner:innen und fehlende Patientenverfügungen [
16,
17]. Zum Thema Notfallsituationen in Pflegeeinrichtungen bestehen aber auch einige Forschungslücken (siehe Infobox
1).
Das vorliegende Scoping-Review hat zum Ziel, einen Überblick über die Verknüpfung von Notfallsituationen, Begleitumständen und möglichen Lösungsansätzen zu geben und ein tieferes Verständnis für den komplexen Versorgungsprozess in Notfallsituationen zu schaffen. Es werden häufige medizinische Notfallsituationen in Pflegeeinrichtungen skizziert und Begleitumstände identifiziert, die die Wahrscheinlichkeit einer Krankenhauszuweisung erhöhen können. Ansätze und Maßnahmen zur Reduktion der Zuweisungen aus Pflegeeinrichtungen werden integriert.
Methode
Um einen Überblick über Notfallsituationen und Krankenhauszuweisungen von Pflegeheimbewohner:innen zu schaffen, führten die Autor:innen ein Scoping-Review in Anlehnung an Arksey und O’Malley (2005) durch, mit einigen Erweiterungen nach Peters et al. (2020; [
18,
19]). Ein Studienprotokoll wurde verfasst.
Suchstrategie
Die Suche aktueller Original- und Übersichtsarbeiten erfolgte in den Datenbanken PubMed und CINAHL für den Zeitraum vom 01.01.2015–31.12.2020 mit den Stichworten u. a. „nursing home“, „emergencies“, „patient transfer“, „hospital admission“, „emergency medical services“. Die Suchsyntax befindet sich im Onlinematerial zu diesem Beitrag. Ergänzend wurden Maßnahmen zur Vermeidung von Krankenhauseinweisungen manuell in Google und Google Scholar recherchiert. Zudem wurden die aktuell geförderten Innovationsfondsprojekte bezüglich der Einschlusskriterien sowie die Literaturverzeichnisse der ausgewählten Studien gescreent.
Ein- und Ausschlusskriterien
Die Einschlusskriterien sind entsprechend des P(opulation)-C(onzept)-C(ontext)-Schemas dargestellt [
20].
-
Population: Bewohner:innen in Einrichtungen der stationären Langzeitpflege
-
Concept: Notfallsituationen in Pflegeheimen, die zu Krankenhauseinweisungen führen; Ursachen von Notfallsituationen sowie Maßnahmen zur Reduktion von Krankenhauszuweisungen
-
Context: deutsch- und englischsprachige Studien, die zwischen 2015 und 2020 publiziert worden sind (alle Studientypen). Ergebnisse von systematischen Reviews werden unabhängig vom Erscheinungsjahr der Primärliteratur eingeschlossen.
Ausschlusskriterien:
-
Studien zu geplanten Krankenhauszuweisungen
-
Rehabilitative Behandlungen bei Bewohner:innen in stationärer Langzeitpflege (Skilled Nursing Facilities)
-
Wiederaufnahme in ein Krankenhaus aus einer stationären Pflegeeinrichtung innerhalb von 30 Tagen nach der initialen Entlassung aus dem Krankenhaus
-
Krankenhauszuweisungen im Rahmen der SARS-CoV-2-Pandemie
Die Kriterien zur Studienauswahl und Datenextraktion wurden im Forschungsteam konsentiert. Die Datenextraktion erfolgte durch den Autor CB anhand deduktiv abgeleiteter Kategorien, deren Unterkategorien induktiv ergänzt wurden, anhand folgender Bereiche: Notfallsituationen (Diagnosen, Symptome/Symptomkomplexe), einweisungsbegünstigende Begleitumstände (bewohnerbezogen, einrichtungsbezogen, arztbezogen, systembedingt) und Maßnahmen zur Vermeidung von Einweisungen (z. B. Heimarztkonzepte, interdisziplinäre Teams, Edukation der Pflegekräfte, Tool-basierte Interventionen, Telemedizin, mobile Radiologiesysteme, vorausschauende gesundheitliche Versorgungsplanung (Advance Care Planning, ACP) und End of Life Care). Bei auftretenden Unsicherheiten wurde der Einschluss der Studien im Forscherteam diskutiert.
Diskussion
Notfallsituationen und Krankenhauszuweisungen bei Pflegeheimbewohner:innen sind nicht nur durch die medizinische Situation, sondern auch durch vielfältige Begleitumstände gekennzeichnet, wobei bewohnerbezogene, pflegeeinrichtungsbezogene, arztbezogene und systembedingte Begleitumstände unterschieden werden können. Diese Umstände stellen ein komplexes System dar und beeinflussen sowohl das Risiko für das Auftreten einer Notfallsituation und die jeweilige Vorgehensweise als auch Entscheidungen für oder gegen eine Krankenhauseinweisung.
In der Wahrnehmung und Einschätzung von Notfallsituationen durch die beteiligten Pflegekräfte nehmen die Begleitumstände eine zentrale Rolle ein – im Gegensatz zu ärztlichem Personal, bei dem die medizinischen Aspekte im Vordergrund stehen [
61]. Um Pflegefachkräfte besser auf Notfallsituationen vorzubereiten und Fähigkeiten bzgl. Dokumentation und Kommunikation zu stärken, wurden zahlreiche Programme zur Weiterbildung von Pflegekräften entwickelt [
62]. Gerade Pflegefachkräfte finden sich allerdings häufig in Rollenkonflikten – als Vertraute der Bewohner:innen, als Ansprechpartner:innen für Angehörige und als Fachpersonal, das mit Rettungsdienst und Ärzt:innen interagiert [
13,
63]. Daher erscheint es relevant, entsprechende Interventionen auch auf begleitende Umstände, weitere agierende Personen und den prozessualen Rahmen einer Entscheidungsfindung auszurichten.
Vielfältige Maßnahmen sind in Erprobung, die unterschiedlich breit ansetzen: Mit der „Mobilen Radiologie“ [
52] wird bspw. gezielt das Problem der häufigen Einweisungen zum Frakturausschluss nach Sturz adressiert. In der Qualitätsinitiative „Interact“ (Interventions to Reduce Acute Care Transfers) hingegen werden gleich mehrere Tools in der Weiterbildung von Pflegefachkräften angewendet, die sowohl das frühzeitige Erkennen und Kommunizieren von Zustandsveränderungen als auch das vorausschauende Planen bei Bewohnern in palliativen Situationen beinhalten, allerdings konnte deren Wirksamkeit auf Krankenhauszuweisungen nicht nachgewiesen werden [
62]. Heimarztmodelle ermöglichen neben dauerhafter Erreichbarkeit eine kontinuierliche interdisziplinäre Zusammenarbeit und gemeinsames Bahnen von Prozessen [
64]. Allerdings beinhaltet der Wechsel der hausärztlichen Betreuung zu einem vulnerablen Zeitpunkt – dem Umzug in eine Pflegeeinrichtung – auch eine zumindest vorübergehende Einbuße durch fehlende Kenntnis der Bewohner:in [
47].
Wenngleich viele Ansätze sinnvoll und in Deutschland unter Projektbedingungen auch erfolgreich erscheinen, sind für eine nachhaltige Implementierung die Möglichkeiten und Grenzen des Gesundheitssystems zu berücksichtigen. Für eine qualitativ gute Betreuung auch bei Zustandsveränderungen und in Notfallsituationen ist ausreichend vorhandenes und qualifiziertes Pflegefachpersonal eine Grundbedingung. Steht z. B. der Personalmangel im Vordergrund, so ist der zusätzliche Arbeitsaufwand durch die Versorgung akut erkrankter Bewohner:innen kaum leistbar – und auch mit Weiterbildungen ist vermutlich wenig zu erreichen. Werden Einweisungen dauerhaft vermieden, ist in den Einrichtungen ein erhöhter Pflegebedarf zu erwarten, dem Rechnung getragen werden muss.
Finanzielle Anreize zur Reduktion vermeidbarer Rettungsdiensteinsätze und Krankenhauszuweisungen von Pflegeheimbewohner:innen sind möglicherweise wirksam, ethisch jedoch umstritten. Eine notfallmedizinische Unterversorgung in einzelnen Einrichtungen kann mangels geeigneter Kontrollinstrumente nicht ausgeschlossen werden. Einen wichtigen Ansatzpunkt in Deutschland stellt die Entkoppelung der Vergütungsstruktur des Rettungsdienstes von der Transportleistung dar [
65].
Methodische Herausforderungen in der Evaluation und wissenschaftlichen Bearbeitung dieses komplexen Themas zeigen sich darin, dass viele Untersuchungen u. a. zu „ambulant care sensitive conditions“ (ACSC) auf Diagnosen basieren, die erst nach der stationären Aufnahme gestellt wurden. Die initialen Geschehnisse oder Zustandsveränderungen bei Ersteinschätzung, die den Entscheidungsprozess zum weiteren Vorgehen steuern, wurden häufig nicht entsprechend dokumentiert und berücksichtigt [
66]. Evidenz zu Notfallsituationen, die nicht zu Einweisungen geführt haben, ist kaum vorhanden.
Notwendig scheint zudem eine Analyse der Implementierung und Evaluation bisheriger Interventionen zur Reduzierung von Krankenhauszuweisungen aus Pflegeeinrichtungen, um aus Schwachstellen zu lernen und praktisch umsetzbare und erfolgreiche Maßnahmen zu entwickeln. Zu beachten sind bei allen Interventionen die zentrale Rolle des Pflegepersonals, die erforderlichen interprofessionellen Ansätze und – zukünftig zunehmend – digitalen Lösungen an den Schnittstellen der Notfallversorgung.
Limitationen
Die hier angewandte Methode eines Scoping-Reviews in Anlehnung an Arksey und O’Malley (2005; [
18]) stellt eine relativ einfache Herangehensweise dar, nicht alle methodologischen Erweiterungen nach Levac et al. (2010; [
67]) und Peters et al. (2020; [
19]) konnten vollständig umgesetzt werden. Beispielsweise wurden die Studienergebnisse kaum numerisch zusammengefasst. Das Screening der Publikationen wurde nicht durch 2 unabhängige Autor:innen durchgeführt, sondern erfolgte primär durch den Autor CB. Die weiteren Autor:innen wurden in diesen Prozess punktuell, jedoch nicht durchgehend einbezogen. Weitere Limitationen in der gewählten Suchstrategie des Scoping-Reviews sind u. a. die Beschränkung auf 2 Datenbanken bei insgesamt uneinheitlicher thematischer Verschlagwortung. Zudem wurde die Volltextsuche auf einen Zeitraum von 6 Jahren begrenzt. Die Trennschärfe der gebildeten Kategorien zur möglichen Systematisierung von Begleitumständen ist eingeschränkt, Mehrfachzuordnungen sind möglich. Darüber hinaus erschwert die vielfältige Methodik der eingeschlossenen Studien die Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Die Übertragbarkeit von Interventionen aus dem internationalen Kontext ist aufgrund unterschiedlicher Gesundheitssystemvoraussetzungen ebenfalls begrenzt. Hinzu kommt, dass insbesondere aus vielen laufenden Forschungsprojekten in Deutschland weitere Ergebnisveröffentlichungen noch ausstehen und sich das Bild somit fortwährend verändert.
Fazit
Das umfassende Verständnis der komplexen Versorgungsprozesse im Kontext von Notfallsituationen in Pflegeeinrichtungen ist eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung und Implementierung wirklich effektiver Interventionen zur Minderung von Notfallsituationen mit nachfolgender Krankenhauszuweisung bei Pflegeheimbewohner:innen. Die Vorausplanung von Notfallsituationen, deren frühzeitige Erkennung und eine gelingende interprofessionelle Zusammenarbeit aller Beteiligten können zur adäquaten Versorgung in Notfallsituationen beitragen. Trotz zahlreicher bereits existierender Projekte und Ansätze sind zusätzliche systematische, prospektive Untersuchungen in deutschen stationären Pflegeeinrichtungen erforderlich, bei denen die Perspektive des Pflegepersonals zentrale Berücksichtigung finden sollte.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.