Einleitung
In unserer Studie wurde der Frage nachgegangen, wie es um die interkulturelle Öffnung der Berliner Krankenhäuser steht, welche fortbestehenden Barrieren sich identifizieren und welche Lösungsansätze sich ableiten lassen. Ziel der interkulturellen Öffnung ist es, eine gleichwertige und gleichberechtigte Versorgung von Menschen mit Migrationsgeschichte zu erreichen [
1]. Hierfür werden mit dem Konzept umfassende Schritte der Personal‑, Organisations- und Qualitätsentwicklung eingefordert [
2]. Trotz vielfacher Bestrebungen stoßen Menschen mit Flucht‑/Migrationsgeschichte weiterhin auf erhebliche Barrieren zur und innerhalb der Gesundheitsversorgung [
2‐
6], die zu Fehl‑, Unter- und Überversorgung führen [
2,
7,
8]. Diese sind neben Sprachbarrieren z. B. unterschiedliche Erklärungsmodelle hinsichtlich Gesundheit, Krankheit und Heilung, mangelhafte Informationen und Misstrauen gegenüber Versorgungsangeboten sowie Rassismus und strukturelle Diskriminierung [
5]. Dabei werden Rassismus und strukturelle Diskriminierung in Deutschland über das Konzept der interkulturellen Öffnung allenfalls indirekt adressiert [
9].
In den Sozialwissenschaften wird der Begriff „Rasse“ als ein soziales Konstrukt eingeordnet, das historisch der Rechtfertigung von Ausbeutung und Gewalt gegen Menschen zur Zeit des Kolonialismus diente, indem diese als „nicht weiß“ und damit als minderwertig rassifiziert wurden [
10‐
12]. Die in der medizinischen Forschung bestehende biologische Nutzung als Ordnungskategorie ist mittlerweile falsifiziert [
13‐
15]. Aktuelle sozialwissenschaftliche Auseinandersetzungen verstehen Rassismus hingegen als ein komplexes System, das auf unterschiedlichen Niveaus eine Hierarchisierung sowie Ausgrenzung (re)produziert [
16‐
18]. Folgende Ebenen können unterschieden [
19] und auf das Gesundheitssystem angewendet werden:
-
Makro-Ebene: politische und ökonomische Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems;
-
Meso-Ebene: Versorgungsinstitutionen, ihre Versorgungs- und Verwaltungsroutinen;
-
Mikro-Ebene: Denken, Fühlen und Handeln der einzelnen Mitarbeitenden.
Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde beobachtet, dass „Kultur“ verstärkt zum signifikanten Differenzmarker geworden ist [
20].
Im Rahmen des Models „racism without race“ hat Balibar [
20] gezeigt, dass die Charakterisierung und Hierarchisierung sozialer Gruppen auf sozialen Grenzmarkierungen beruhen kann, die Kultur und Religion einschließen. Hieraus ergeben sich Verbindungspunkte zwischen dem Diskurs um Rassismus und dem zur interkulturellen Öffnung, in welchem die sogenannte Kulturalisierung als spezifische Form von Rassismus problematisiert worden ist. Dabei handelt es sich um ein Hervorheben von „Kultur“ als zentrale Begründung des Handelns von Personen, die gleichzeitig mittels des „Übersehens“ anderer Merkmale homogenisiert und stereotypisiert werden [
21,
22]. Grundlage einer Kulturalisierung ist der Rückgriff auf einen statischen Kulturbegriff, indem der Veränderungscharakter von Kultur sowie der Umstand, dass Menschen sich hybrid mehreren Kulturen zugehörig fühlen können, ignoriert wird [
23].
Rassismus und Kulturalisierung werden empirisch oft als unbewusste Voreingenommenheit (Implicit Bias) betrachtet und untersucht, ihre negativen Folgen für Behandlungszugänge, Diagnosen und Interventionen sind nachgewiesen [
24‐
28]. Auf der Ebene von Aus‑, Fort- und Weiterbildungen sind kulturalisierende Haltungen, etwa indem sogenannte Kulturstandards/-wissen vermittelt werden, problematisiert worden [
29,
30]. Interventionen, die darauf abzielen, Rassismus und strukturelle Diskriminierung im Gesundheitswesen zu reduzieren, setzen vornehmlich darauf, Mitarbeitende für ihren Implicit Bias zu sensibilisieren [
31,
32]. Menschen und ihre Bedarfe sollten, anstelle eines Fokus auf kulturelle Differenz, vielmehr aus einer intersektionalen Perspektive betrachtet und Dimensionen gesellschaftlicher Ungleichheit wie Gender, Alter, Kultur/Ethnizität
1, soziale Klassen und Bildung miteinander verschränkt berücksichtigt werden [
33‐
36].
Parallel zur Forderung nach einer interkulturellen Öffnung sind in der deutschen Gesundheitsversorgung eine fortschreitende Ökonomisierung und Privatisierung der Krankenhausversorgung zu beobachten [
37]. Als Zäsuren gelten das 1992 eingeführte Selbstkostendeckungsprinzip für Krankenhäuser sowie die Implementierung des DRG-Systems
2 im Jahr 2003, infolgedessen ausschließlich Diagnosen und medizinisch-pflegerische Prozeduren als wichtige Kenngrößen den Behandlungsprozess sowie die Liegedauern steuern. Negative Folgen für die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden und die Patient*innenversorgung sind entsprechend problematisiert worden [
37].
Methoden
Die Studie wurde im Rahmen des Projektes „TransVer neXus – Interkulturelle Öffnung der Berliner Krankenhäuser“ umgesetzt. Ziel des Projektes war, Herausforderungen in der Krankenhausversorgung von Menschen mit Flucht‑/Migrationsgeschichte zu identifizieren und anschließend durch konkrete Maßnahmen zu adressieren.
Von September 2020 bis Januar 2021 wurden zu diesem Zwecke 112 leitfadengestützte Interviews mit Mitarbeitenden aus Berliner Krankenhäusern durchgeführt. Zuvor wurden 520 Vertreter*innen aus möglichst allen Status- und Berufsgruppen zur Teilnahme eingeladen. Die Befragten, die an 7 berlinweiten Standorten und 5 somatischen sowie psychiatrisch-psychosomatischen Fachdisziplinen arbeiten, waren 77 Ärzt*innen, 19 Pflegefachkräfte, 7 Sozialarbeiter*innen, 7 Psycholog*innen sowie 2 Mitarbeitende aus dem kaufmännischen Bereich.
Die Konstruktion des Interviewleitfadens, das Führen sowie die Dokumentation und die Auswertung der Interviews erfolgten in einem multidisziplinären Team bestehend aus 4 Mitarbeiter*innen sowie 2 Leiterinnen in supervisorischer Funktion mit akademischer Ausbildung in Sozialwissenschaften, Anthropologie, Psychologie und Ethik.
Folgende Leitfragen strukturierten das Gespräch:
-
„Welche Herausforderungen sehen Sie in der Versorgung von Patient*innen mit Flucht- und Migrationsgeschichte?“
-
„Wie gehen Sie damit um? Was läuft bereits gut?“
-
„Welche Verbesserungswünsche und -ideen haben Sie?“
Die 25- bis 60-minütigen Interviews führte jeweils ein*e Mitarbeiter*in per Telefon oder Video-Call durch. Kernaussagen, markante Zitate und Eindrücke zur Gesprächsatmosphäre wurden in Protokollen festgehalten. Vorläufige Beobachtungen und Interpretation wurden, wenn möglich, mit den Interviewten im Gespräch abgeglichen, bevor sie im Protokoll vermerkt wurden. Aufgrund der vollständigen Anonymisierung war eine schriftliche Einverständniserklärung nicht notwendig. Dokumentiert wurden lediglich Berufsgruppe, Statusebene (mit/ohne Leitungsfunktion) sowie eine Selbsteinordnung in 3 Fachbereichs-Cluster: „Psychiatrie und Psychosomatik“; „Somatik I“ (weniger kommunikationsintensiv) und „Somatik II“ (kommunikationsintensiv; Tab.
1).
Tab. 1
Stichprobe (N = 112) eingeteilt nach Berufsgruppe, Leitungsfunktion und Fachbereichs-Cluster
Anzahl | 77 | 7 | 19 | 7 | 2 | 112 |
Davon mit Leitungsfunktion | 47 | 2 | 14 | 0 | 2 | 65 |
Psychiatrie und Psychosomatik | 9 | 2 | 3 | 4 | – | 18 |
Somatik I | 37 | – | 11 | 2 | – | 50 |
Somatik II | 31 | 5 | 4 | 1 | – | 41 |
Keine Versorgung | – | – | 1 | – | 2 | 3 |
Die Auswertung der Protokolle orientierte sich an der thematischen Analyse [
38] und wurde durch die Datenanalysesoftware MAXQDA [
39] unterstützt. Im ersten Schritt wurden bei der Hälfte der Protokolle die festgehaltenen O‑Töne, Aussagen oder Beobachtungen in Sinneinheiten unterteilt bzw. als separate Codings markiert und anschließend zur Systematisierung und Abstraktion mit einem vorläufigen Code versehen. Bei vergleichbarem Sinngehalt wurden einzelne Codings demselben Code zugeordnet. Diese wurden zunächst in der Gruppe diskutiert und nach inhaltlichen Überschneidungen sowie Sinnzusammenhängen zu einem Kategoriensystem mit Kernthemen und Codes strukturiert. Die restlichen Protokolle wurden im Anschluss ausgewertet und das vorläufige Kategoriensystem angepasst (Tab.
2). Dem Gütekriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit [
40] folgend, wurden über den Analyseprozess hinweg Gedanken zum Inhalt und zur Struktur des Kategoriensystems festgehalten, im Team besprochen und konsentiert.
Tab. 2
Kategoriensystem mit Themen und Codes
Zusammenspiel von Rahmenbedingungen, klinikinternen Verfahrensweisen und individueller Bewältigung |
Makro-Ebene: Ökonomisierung und fehlende Sprachmittlung |
Meso-Ebene: klinikinterne Haltungen und Kompromisse |
Mikro-Ebene: Frustration, Einzelkämpfer*innentum, Ablehnung und Rückzug |
Verunsicherungen bei Überforderung fördern Alltagsrassismen |
Kultureller Hintergrund |
Religion |
Geschlechterrollenerwartungen |
Bildung |
Zuspitzungen führen zu Konflikten und Rassismusvorwürfen |
Eskalationen und aggressive Konflikte in Grenzsituationen |
Abwertende(s) Verhalten und Gedanken von Mitarbeitenden |
Rassismusvorwürfe ans Krankenhauspersonal |
Diskriminierung durch Patient*innen |
Lösungsideen und -ansätze |
Makro-Ebene: mehr Ressourcen als Voraussetzung |
Meso-Ebene: interkulturelle Öffnung als Leitstrategie |
Mikro-Ebene: Fortbildung, Sensibilisierung und Empowerment |
Ergebnisse
Im Folgenden werden die Ergebnisse zu den vier Kernthemen und den zugehörigen Codes beschrieben. Beispielzitate und Protokollausschnitte bebildern die zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse und lassen die Abstraktionsschritte zwischen Interviewmaterial und der Analyse sichtbar werden.
Zusammenspiel von Rahmenbedingungen, klinikinternen Verfahrensweisen und individueller Bewältigung
Die Interviews verdeutlichen, wie die ökonomischen Rahmenbedingungen und die daraus resultierende Ressourcenknappheit mit klinikinternen Haltungen und Verfahrensweisen komplex zusammenhängen und die Ablehnung und Diskriminierung von Patient*innen mit Flucht-/Migrationsgeschichte fördern können. Um diese Verflechtung darzustellen, werden die Ergebnisse im Folgenden nach Zugehörigkeit zur Makro‑, Meso- und Mikro-Ebene präsentiert.
Einige Befragte äußern Ablehnung gegenüber Patient*innen, deren Deutschniveau im Verhältnis zur Aufenthaltsdauer in Deutschland nicht hinreichend sei. Dieselben Mitarbeitenden betonen gleichzeitig negative Auswirkungen der Sprachbarriere auf die Behandlung sowie den Wunsch der Integration von Sprachmittlung als finanzierte, gut verfügbare Ressource in die Gesundheitsversorgung. Dies zeigt ihre Ambivalenz hinsichtlich der Rolle des Gesundheitssystems bzgl. Integrations- und Bildungsaufgaben, z. B. indem sie nachdenken, ob der Einsatz von Sprachmittlung in der Gesundheitsversorgung dazu beiträgt, dass Patient*innen nicht hinreichend Deutsch lernen. Die Befragten sehen sich zudem mit ethischen Dilemmata konfrontiert, wenn Behandlungen aufgrund mangelnder Kommunikationsmöglichkeiten ggf. eingeschränkt werden müssen. Andererseits wird es als frustrierend erlebt, wenn erbrachte Gesundheitsleistungen, wie z. B. im Falle von Nichtversicherten, nicht refinanziert werden.
„Ehrlich gesagt gibt’s die [versorgungserleichternden Maßnahmen] nicht. Man ist auf sich selbst gestellt. Man muss selber klarkommen“ (Pflege, Somatik I).
„Was aggressiv macht, ist die Überforderung, die jede Berufsgruppe unterschiedlich [gut] kompensieren kann“ (Arzt*Ärztin, Somatik I).
„Die meisten Leute, die ich treffe, sind sehr nette Leute, die wollen mit und am Menschen arbeiten, aber sie haben nicht die Zeit, um das zu tun. Wenn ich ständig übermüdet bin und es piept und so weiter, dann werde ich auch aggressiv. Ich bin vorsichtig, das dann rassistisch zu nennen. Es ist in dem Augenblick die einzige gangbare Strategie, das Pensum zu schaffen: Man wird ruppig“ (Arzt*Ärztin, Somatik II).
Verunsicherung bei Überforderung fördert Alltagsrassismen
Mitarbeitende sprechen von deutlichen Verunsicherungen in der Behandlung von Menschen mit Flucht‑/Migrationsgeschichte. Einige verorten diese vornehmlich auf kultureller Ebene, andere nehmen eine intersektionale Perspektive ein und berücksichtigen Religion, Bildung oder Geschlechterrollenerwartungen mit. Die Verunsicherungen verstärken sich im Kontext von Personal- und Zeitmangel und/oder fehlender Sprachmittlung zu Überforderung und Frustration.
Befragte ohne Migrationsgeschichte fühlen sich durch Kolleg*innen mit eigener Migrationserfahrung, die Einblicke in die jeweilige „Kultur“ der Patient*innen geben können, entlastet. Befragte mit Migrationserfahrung berichten hingegen von Überforderung und Rollenkonflikten. Teils nehmen Mitarbeitende selbstreflexiv die Tendenz wahr, Komplexität und Spannung durch Stereotypisierungen, Kulturalisierung und Ablehnung zu reduzieren. Einige unterscheiden „tatsächlichen Rassismus“ von überforderungsbedingter Ablehnung.
Bedingt der Fokus auf vermeintliche kulturelle Differenz oft den Wunsch nach mehr „Kulturwissen“, erhoffen sich Mitarbeitende, die Bildungsunterschiede wahrnehmen, z. B. Hilfe durch (übersetzte) Aufklärungsmaterialien. Andere beziehen aufgrund gegebener Geschlechterrollenerwartungen gezielt Familienmitglieder ein. Deutlich wird, dass eine solch differenzierte Betrachtung Zeit und zusätzliche Ressourcen braucht.
„… im Großen versuchen allerdings alle eine gute Lösung zu finden. Der ‚Goodwill‘ kippt unter Stress schnell zurück ins Vorurteil. Wenn da mehr Zeit wäre, würde das gehen. Das Problem ist, wenn es zu rigide wird. ‚So wird das aber hier nicht gemacht.‘ ‚Wir sprechen hier aber Deutsch‘, dann entstehen häufig Konflikte …“ (Protokollausschnitt, Psychologe*in, Somatik II).
Zuspitzungen führen zu offenen Konflikten und Rassismusvorwürfen3
Berichtet wird bei chronischer Überforderung und/oder in zugespitzten Behandlungssituationen von teils verbalen oder körperlichen Konflikten mit Patient*innen, Angehörigen sowie in Teams, in denen sich Rassismus(vorwürfe) und Diskriminierung zeigen. Eskalationspunkte sind häufig Stationsregeln und Behandlungsmisserfolge bzw. Kommunikation über Therapien am Lebensende, also sogenannte Grenzsituationen. Dabei wiegt fehlende Sprachmittlung besonders schwer. Eine gelingende sprachliche Kommunikation sowie multiprofessionelle Zusammenarbeit mit gezieltem Einsatz von (ober-)ärztlicher Autorität, z. B. in der Kommunikation hinsichtlich Absprachen zum Stations- und Behandlungsablauf, können hingegen gegenseitiges Verständnis zwischen Mitarbeitenden und Patient*innen ermöglichen.
Weitere Manifestationen von Rassismus und Diskriminierung werden von Befragten sowohl bei sich selbst als auch im Verhalten anderer beobachtet:
-
Gedanken, dass Patient*innen sich anpassen oder „nach Hause gehen“ sollten;
-
Unwille, Patient*innen mit Flucht‑/Migrationsgeschichte und/oder ohne Krankenversicherungsschutz (mit kostenintensiven Therapien) zu behandeln;
-
abwertende, ablehnende und feindselige Äußerungen (gegen-)über Patient*innen und Mitarbeitenden mit Migrationsgeschichte;
-
Forderung vergleichsweise strengerer Handhabungen von Regelverstößen.
Im Klinikalltag scheint es kaum Raum zu geben, sich mit solchen schwierigen Themen zu beschäftigen. Einige Mitarbeitende äußern, dass sie bestimmte Erfahrungen lange mit sich herumtragen, z. B. wenn Patient*innen durch sie selbst oder durch andere Mitarbeitende diskriminiert wurden oder ihnen gegenüber Rassismusvorwürfe geäußert wurden.
„Man ertappt sich ja selbst! Als mir der [Nationalität] vor die Füße spuckte, hab ich auch gedacht: Dann geh doch zurück nach [Nation]! Da muss man sehr aufpassen!“ (Arzt*Ärztin mit Leitungsfunktion, Somatik II).
„Wenn keine gelenkte Nachbesprechung stattfindet, verstärken sich die Schubladen“ (Arzt*Ärztin mit Leitungsfunktion, Somatik I).
Lösungswünsche und -ansätze
Die Befragten äußerten verschiedene Lösungsideen und -ansätze, um die strukturelle Diskriminierung in der Versorgung von Menschen mit Mehrbedarfen, darunter Menschen mit Flucht‑/Migrationsgeschichte, zu adressieren.
Zusammenfassend formulieren die Mitarbeitenden auf klare Weise, dass es umfassender Maßnahmen bedarf, um Rassismus und strukturelle Diskriminierung in der Krankenhausversorgung abzubauen.
Diskussion
Das Novum unserer Studie liegt darin, hinlänglich bekannte Folgeerscheinungen der Ökonomisierung [
37], fortbestehende Sprachbarrieren [
2] sowie die Tendenz zu Kulturalisierung bzw. unbewusster Voreingenommenheit (Implicit Bias) [
21‐
26] in einen Zusammenhang zu bringen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich die voranschreitende Ökonomisierung und der damit einhergehende Personal- und Zeitmangel besonders in der Versorgung von Menschen mit Mehrbedarfen zeigen. Menschen mit Migrations- und besonders Fluchtgeschichte werden zu „herausfordernden“ Patient*innen, die auf institutioneller und Leitungsebene auf eine ablehnende Haltung treffen können. Mitarbeitende kommen bei der Konfrontation mit institutionell zeitlich nicht vorgesehenen Versorgungsbedarfen in Bedrängnis, sich überdurchschnittlich oder gar nicht zu engagieren. Zentrale Beobachtung unserer Studie ist, dass die ökonomischen Rahmenbedingungen der Krankenhausversorgung, insbesondere das DRG-System, und die fehlende Kostenübernahme von Sprachmittlung somit bestehende Strukturen von Diskriminierung und Rassismus verstärken (können).
Ein kürzlich durchgeführtes Review über Rassismus im Gesundheitswesen hat gezeigt, dass die Forschung über Rassismus im Gesundheitswesen eher „beschreibend, ahistorisch und atheoretisch“ ist und sich kaum mit den Entstehungsprozessen von Rassismus auseinandersetzt. Sie befasst sich mehr mit der Untersuchung von rassischen Kategorien und behandelt diese häufig als „reale Kategorien“ [
41]. In dieser Studie haben wir versucht, über die Beschreibung der bloßen Existenz von Rassismus hinauszugehen, indem wir die Frage beleuchteten, welche ökonomischen Strukturen die Existenz von Rassismus im Gesundheitssektor aufrechterhalten, eine Frage, die unserem Wissen nach im Bereich des Gesundheitswesens weitgehend vernachlässigt wird. Zur Untersuchung dieser Frage haben wir einen Analyserahmen verwendet, der zwischen der Makro‑, Meso- und Mikro-Ebene unterscheidet.
Unsere Studie legt die These nahe, dass die Gewinnorientierung im (DRG-)Gesundheitssystem eine gleichberechtigte Versorgung von Menschen mit Flucht‑/Migrationsgeschichte erheblich erschwert, weil die Versorgung von Mehrbedarfen nicht honoriert wird. Zudem schafft sie Rahmenbedingungen, in denen Klinikmitarbeitende aus emotionaler Bedrängnis auf Rassismen, Diskriminierung und Kulturalisierung zurückgreifen [
42]. Wenig verwunderlich zeigt sich dies am deutlichsten in Situationen, in denen eine besonders große Verunsicherung und ein Mehrbedarf, z. B. an Zeit und Kommunikation, einer Verknappung von Ressourcen gegenüberstehen. Dies steht im Einklang mit Erkenntnissen, dass auf kognitiver Ebene (akuter) Stress zu stark vereinfachtem oder rigidem Denken sowie zu einem gesteigerten Rückgriff auf Automatismen, in diesem Falle Stereotypisierungen und Rassismen, führt [
43,
44]. Die kognitive Anstrengung, die für eine Bewertung individueller Merkmale einer Person notwendig ist, ist größer als die Anstrengung bei der Anwendung von Gruppenmerkmalen [
24].
Der Abbau von Rassismus und Diskriminierung im Gesundheitswesen sollte demnach von einer Veränderung der ökonomischen Rahmenbedingungen begleitet sein, in denen der Zeitaufwand in der Versorgung von Patient*innen mit Mehrbedarfen, darunter Menschen mit Flucht-/Migrationsgeschichte, realistisch abgebildet wird. Voraussetzungen für die Etablierung von rassismus- und diskriminierungssensibleren Strukturen und Verfahrensweisen auf Ebene der Kliniken, Fachabteilungen und Stationen sind demnach vor allem Veränderungen auf der Makro-Ebene. Lösungswünsche der Befragten benennen diesen Umstand in unmissverständlicher Weise.
Auf Mikro-Ebene wurde deutlich, dass Mitarbeitende die Bedarfe ihrer Patient*innen besser erfassen, wenn sie verschiedene Differenzierungsdimensionen (wie Bildung, Alter, Geschlecht etc.) und ihr Zusammenspiel in den Blick nehmen und hierdurch Kulturalisierung vorbeugen [
36]. Strategien sollten nicht nur einseitig auf Fort- bzw. Weiterbildung der Mitarbeitenden setzen, sondern in strukturverändernde bzw. -bildende Maßnahmen auf Makro- und Meso-Ebene eingebettet sein. Damit Beschäftigte einen intersektionalen Blick einnehmen und verschiedene Differenzierungsdimensionen verschränkt betrachten, bedarf es, so verdeutlichen es die Ergebnisse unserer Studie, der entsprechenden Ressourcen.
Limitationen
Trotz der großen Stichprobe erlaubt das qualitative Design der Studie keine Aussagen zur Häufigkeit der genannten Phänomene. Solche Quantifizierungen werden zudem durch die starke Tendenz, in Interviews sozial erwünscht zu antworten, begrenzt. Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus dem Verzicht einer Tonbandaufzeichnung der Gespräche. Der Gefahr einer unsachgemäßen Vermischung von Datenerhebung und -interpretation in der Protokollierung wurde begegnet, indem vorläufige Hypothesen mit den Befragten abgeglichen wurden, bevor sie niedergeschrieben wurden.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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