Psychotherapeuten – bald ein Relikt aus vergangener Zeit?

Der Erfolg der Online-Psychotherapien wird von vielen Therapeuten als Angriff auf ihr Selbstbild verstanden. Einige glauben, solche Programme könnten sie bald ersetzen. Andere sehen sie allenfalls als Ergänzung. Eine schlichte alte Schreibmaschine – mit diesem Bild brachte Professor Martin Bohus vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim seine Vorstellung von der Zukunft auf den Punkt. „Psychotherapeuten sind die Schreibmaschinen des Computerzeitalters“, sagte er auf dem Welt-Psychiatrie-Kongress und legte damit nahe, sie seien bald ebenso überflüssig. „Die Daten zur internetbasierten Psychotherapie sind schrecklich, weil sie unser Selbstbild trüben – sie sind eine echte Beleidigung, ein maximaler Angriff auf unsere Vorstellung, wie Psychotherapie wirkt“, fuhr der Wissenschaftliche Direktor des Instituts für Psychiatrische und Psychosomatische Psychotherapie fort. Man könne die Daten natürlich anzweifeln, sagen, sie würden nicht stimmen oder nur für bestimmte Gruppen gelten. Sofern Psychotherapeuten die Wissenschaft jedoch ergebnissoffen betrachteten und sie nicht nur benutzten, um ihre Vorstellungen zu bestätigen und besser zu verkaufen, sollten sie eines zur Kenntnis nehmen: Von 157 kontrollierten Studien konnte keine einzige belegen, dass eine Psychotherapie von Angesicht zu Angesicht einer Online-Therapie überlegen ist, erläuterte Bohus. Inzwischen gebe es auch drei Nichtunterlegenheitsstudien, nach denen Onlinetherapien gleichwertig seien. „Nur ungefähr 6% der Therapeuten arbeiten evidenzbasiert“ „Es ist faszinierend, dass solche Programme funktionieren“, sagte der Psychotherapeut. Er erklärt dies mit der therapeutischen Allianz: Nicht auf den Psychotherapeuten als Person komme es an, sondern auf seine Kompetenz. „Offensichtlich sind Menschen in der Lage, ein gut gemachtes Programm als kompetent, zuverlässig und tragfähig zu beurteilen und damit in ihren Beziehungsprozess aufzunehmen.“ Ein weiterer Vorteil ist seiner Ansicht nach, dass solche Online-Programme leitliniengerecht konzipiert werden können. Damit stehe Patienten mit psychischen Problemen eine niederschwellige Therapie auf Basis aktueller Leitlinien zur Verfügung. So etwas sei bei der persönlichen Psychotherapie eher die Ausnahme. „Nur ungefähr 6% der Therapeuten arbeiten evidenzbasiert. Es dauert in der Psychotherapie wie auch in der übrigen Medizin rund 25 Jahre, bis das Wissen aus den Universitäten in die Praxis fließt. Warum soll ein Patient also 25 Jahre warten, bis er das wirksamste Behandlungsverfahren bekommt?“ Bohus rief seine Kollegen auf, sich selbst weniger wichtig zu nehmen. „Es geht nicht darum, dass wir uns amüsieren, sondern möglichst vielen Patienten in möglichst kurzer Zeit möglichst effektiv helfen.“ Genau darin liege die Chance der Online-Therapien. Doch auch der Experte sieht ein, dass Therapeuten nicht völlig überflüssig werden: In Studien habe sich gezeigt, dass Online-Therapien nur dann gut funktionieren, wenn die Patienten dabei von einem Therapeuten im Hintergrund betreut werden, diesem Feedback geben und per Mail oder Chat Kontakt aufnehmen können. „Wollen wir nur noch in einer dunklen Kammer sitzen und Mails beantworten?“ Diese Vorstellung von therapeutischer Arbeit ist jedoch für Professor Harald Freyberger von der Universität Greifswald ein Graus. „Wollen wir bald nur noch wie IT-Spezialisten in einer dunklen Kammer vor dem Rechner sitzen und Mails beantworten? Wollen wir tatsächlich auf die spannenden interaktionellen Begegnungen mit Patienten verzichten?“ Der Psychiater und Psychotherapeut ist zudem überzeugt, dass sich wesentliche Wirkfaktoren einer persönlichen Psychotherapie nicht auf ein Online-Programm übertragen lassen. Dazu zählt er etwa die Bindung zwischen Therapeut und Patient. Dafür seien Feinfühligkeit sowie eine prompte und angemessene Reaktion ebenso entscheidend wie die Fähigkeit des Therapeuten, im Gespräch therapierelevante Merkmale zu erfassen und den Patienten buchstäblich im Blick zu behalten. „So etwas geht bei der Online-Therapie verloren.“ Auch epistemisches Vertrauen, also die unbewusste Bereitschaft, von anderen Personen gesendete Signale als vertrauenswürdig und bedeutsam zu erachten, hält er für sehr therapierelevant. „Geht das überhaupt per App? Gehen da nicht viel zu viele Bindungsaspekte verloren? Wollen wir künftig auch Gruppentherapien per Skype machen und auf die Gruppendynamik verzichten?“ Empathie, Wertschätzung und Echtheit tragen nach Auffassung von Freyberger ebenfalls zum Erfolg einer Psychotherapie bei. Und schließlich würden Therapeuten mit der Zeit Erfahrungen sammeln, die nur durch eine persönliche Begegnung möglich seien. „Wir haben immer gesagt, wir sind die sprechende Medizin, die beziehungsorientierte Medizin, und nun vertreten wir ein Konzept, das uns anderen Fächern gegenüber lächerlich macht? Das darf doch nicht wahr sein!“ Manche Patienten zu Online-Therapie nicht in der Lage Ungeeignet seien Online-Ansätze zudem bei sehr komplexen Störungen und bei Betroffenen mit Demenz oder chronischen Depressionen. „Die sind zu einer Online-Therapie gar nicht in der Lage.“ Für Freyberger ist der Therapeut also nicht durch ein Online-Programm zu ersetzen, wohl aber sieht er für Internet-basierte Therapien eine gewisse Berechtigung in Regionen mit sehr niedriger Psychotherapeutendichte und zur Nachsorge. Er verwies auf Untersuchungen bei Patienten aus einer Tagesklinik, die nach der Entlassung weiter per Telefon und SMS kontaktiert wurden. Profitiert hätten vor allem solche mit einer Restsymptomatik. Bohus stimmte Freyberger in dem Punkt zu, dass Online-Therapien für viele schwer Kranke nicht geeignet seien. Allerdings hätten die meisten Menschen, die eine Psychotherapie in Anspruch nehmen, eher leichtere Störungen. Über Online-Behandlung für persönliche Psychotherapie „anwärmen“ Dr. Iris Hauth vom Alexianer-Krankenhaus in Berlin brachte auf der Tagung noch einen weiteren Aspekt ins Spiel: Manche Patienten würden eine persönliche Psychotherapie ablehnen, weil sie ihr Innerstes nicht einem anderen offenbaren wollten. Solche Schamgefühle seien bei einer Online-Therapie weniger hinderlich. Vielleicht könnten Patienten schließlich sogar über eine Online-Behandlung für eine persönliche Psychotherapie „angewärmt“ werden. Als Probleme sieht sie jedoch ein nicht erkanntes Suizidrisiko. Bohus stimmte dem zu. Die Programme müssten in ein „klinisches Back-up“ eingebettet sein, um Suizidgedanken klar zu erkennen. Letztlich waren sich alle Beteiligten einig, dass auch in Zukunft noch Psychotherapeuten gebraucht werden. Wie viele und für wen – darüber gingen die Vorstellungen jedoch auseinander. basierend auf: Pro-Kontra-Diskussion PC 04: Macht die Digitalisierung Ärzte und Therapeuten überflüssig? Weltkongress der World Psychiatric Association in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin, 8.-12.10.2017.

Springer Medizin

Psychotherapeuten – bald ein Relikt aus vergangener Zeit?

Weiterführende Themen

Neu in den Fachgebieten Neurologie und Psychiatrie

Niedriger diastolischer Blutdruck erhöht Risiko für schwere kardiovaskuläre Komplikationen

Demenzkranke durch Antipsychotika vielfach gefährdet

Parkinson-Therapie im Wandel – aktuelle Leitlinie im Fokus

Weniger postpartale Depressionen nach Esketamin-Einmalgabe