Problemstellung, Zielsetzung
Die aktuelle, durch den verbrecherischen Krieg in Europa ausgelöste Flüchtlingswelle stellt unsere Gesellschaft sowie helfende Berufe vor eine Vielzahl an Herausforderungen. Die Angreifer scheinen vor niemandem Halt zu machen, weder Erwachsene noch Kinder oder Ältere bleiben davor verschont. Kinder und Jugendliche werden verschleppt, verwaisen, werden obdachlos oder flüchten ins Ausland.
In den meisten Fällen haben sich vertriebene Kinder mit ihren Müttern oder anderen weiblichen Verwandten auf die Flucht begeben.
Das Schreckliche des Krieges überlebt zu haben, hinterlässt Spuren in kindlichen Seelen.
Aus der Fachliteratur ist bekannt, dass Migration als ein wichtiges, für manche auch belastendes Lebensereignis anzusehen ist, das aber nicht zwangsläufig zu psychischen Problemen führen muss und auch eine Bereicherung sein kann, indem es den Einzelnen neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet und zu einem neuen Selbstkonzept führen kann (Grinberg und Grinberg
1984). Anders verläuft es laut Erim (
2009) bei einer (Kriegs‑)Flucht oder fluchtähnlichen Erfahrungen. Hierbei eine lebensbedrohliche Krise zu erleben ist wahrscheinlich.
Auernheimer (
1988) betont des Weiteren, dass Fremdheitserfahrungen die Persönlichkeitsentfaltung in Kombination mit Diskriminierungserfahrungen von Seiten der aufnehmenden Gesellschaft verschlechtern. Auch Nauck (
2004) konnte belegen, dass sich Diskriminierungserlebnisse negativ auf den Spracherwerb der Kinder im Aufnahmeland auswirken. Diese kann als selbstwertreduzierend verarbeitet werden. Migration als solche, nachdem die Wunden von Flucht und Kriegstraumatisierung verheilt sind, wirkt aber nicht pathogen auf Kinder und Jugendliche, sondern im Gegenteil entwicklungsfördernd, so Erim (
2009). Selbst im Falle einer Traumatisierung im Heimatland bietet sie eine besondere Chance, da eine Neugestaltung der Biografie dadurch ermöglicht wird (Schepker und Toker
2009).
Um diese Entwicklung zu ermöglichen, ist eine psychotherapeutische Behandlung vonnöten. Doch kommen bei der Behandlung von ausländischen (jungen) Klient:innen die Sprachbarriere sowie kulturelle Differenzen erschwerend hinzu. Untersuchungen zufolge drücken sich traumatisierte Menschen automatisch und in erster Linie in ihrer Muttersprache aus und sind aufgrund der psychischen Belastung selten in der Lage, einfach in eine Fremdsprache zu wechseln (Erim und Koch
2011; Szoke et al.
2019).
Eine der therapeutischen Möglichkeiten für den Einsatz bei Klient:innen mit Flucht‑/Migrationshintergrund ist die dolmetsch-gestützte Psychotherapie. Untersuchungen zufolge geht jedoch bei deren Einsatz ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Informationen, Details und Gefühle, die zum Ausdruck gebracht wurden, verloren. Die Anwesenheit einer dritten Person schränkt die Bereitschaft, offen zu sprechen, zusätzlich ein. Dies betrifft Kinder noch mehr als Erwachsene und macht den Einsatz von kindgerechten Methoden, wie Spieltherapie, schwer möglich.
So ist die muttersprachliche Psychotherapie laut Erim und Koch (
2011) die erste Wahl, wenn die Sprachkenntnisse nicht ausreichen, um sich emotional und intellektuell in der gleichen Sprache (meist jene des Gastlandes) auszudrücken. Die interkulturelle Kompetenz ermöglicht den Therapeut_innen hinzu eine zuverlässige Bewertung, ob z. B. bestimmte sprachliche Ausdrucksweisen oder ein bestimmtes Benehmen auf eine kulturelle Einstellung oder die betreffende psychische Störung hindeuten.
Doch nicht nur bedürfen vertriebene junge Klient:innen optimalerweise einer muttersprachlichen Psychotherapie, auch unterscheidet sich die Psychotherapie mit Erwachsenen erheblich von der Arbeitsweise mit Kindern. Denn diese verwenden andere Kommunikationsformen und eine differente Symbolbildung, ihre Erlebnisprozesse verlaufen anders, ihr Realitätsverständnis ist oft noch an mystische Vorstellungen gekoppelt und schließlich benötigen sie eine sich unterscheidende Beziehungsform im Vergleich zu Erwachsenen, die eine Psychotherapie aufsuchen.
Hölldampf und Behr (
2009) konnten in einer schulübergreifenden Metaanalyse nicht nur die allgemeine Effektivität der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie belegen, sondern auch die Wirksamkeit der einzelnen Verfahren, wie z. B. der personzentrierten Spielpsychotherapie, die besonders für die Behandlung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen wichtig ist (Weinberger
2015). Diese Therapieform zeichnet sich durch das freie Spiel (vom Kind gegeben und von Therapeut_innen empathisch aufgegriffen und in diesem Moment mit bedingungsloser Wertschätzung erlebt) und die ganzheitliche Entwicklung des Kindes aus. Durch das besondere Beziehungs‑, Raum- und Spielangebot in der personzentrierten Spieltherapie etablieren Kinder von sich aus die Determinanten erfolgreicher traumatherapeutischer Arbeit (Sack et al.
2007; Sachsse
2008), d. h. Distanzierung, Arbeit mit imaginativen Ressourcen und Veränderung traumatischer Narrative. Hüsson et al. (
2012) entwickelten vor diesem Hintergrund differenzierte Handlungsrichtlinien für Traumafolgeerkrankungen (Gahleitner
2011; Weinberger
2015).
Ausgehend von der akuten gesellschaftlichen Relevanz nimmt sich die Autorin der vorliegenden Arbeit mit einer narrativen und pragmatischen Zielsetzung vor, Spielpsychotherapie unter Berücksichtigung interkultureller Besonderheiten und durchgeführt in der Muttersprache, in der Behandlung von kriegstraumatisierten Kindern und Jugendlichen am Beispiel einer Fallstudie zu beschreiben.
Methodologie
Die Betrachtung der Entwicklung der Psychotherapieforschung aus historischer Perspektive zeigt, dass Fallstudien schon immer ein wertvolles Element der Wissensbasis für die Psychotherapie gewesen sind. In den letzten Jahren hat eine Reihe von methodischen Entwicklungen zu einer wachsenden Wertschätzung von Fallstudienberichten als eine Form der Forschungsevidenz geführt.
Eine klinische Fallstudie kann als ein von Therapeut:innen verfasster Bericht über die Arbeit mit Klient:innen definiert werden, der in erster Linie auf Notizen beruht, die am Ende einer Sitzung gemacht werden. Eine derartige psychotherapeutische „Einzelfallstudie“ bezieht sich also entweder auf die gesamte Arbeit mit Klient:innen vom Beginn der Therapie bis zum Ende oder bis zu einem bestimmten Zeitpunkt der Nachbereitung. Obwohl klinische Fälle weiterhin eine unschätzbare Quelle des Lernens und eine Ressource für die Lehre darstellen, ist es klar, dass sie in Bezug auf die Sammlung von Forschungsergebnissen viele Einschränkungen aufweisen, so McLeod (
2015). Kritiker wie Spence (
1989) haben argumentiert, dass selbst die detailliertesten klinischen Aufzeichnungen nur einen teilweisen und unvollständigen Bericht über die Geschehnisse während einer Therapiesitzung wiedergeben. Darüber hinaus gibt es keinen Schutz davor, dass die Autor:innen/Therapeut:innen dieses Material in ihrer eigenen Art und Weise interpretieren. Spence (
1989) hat darauf hingewiesen, dass klinische Fallstudien daher eher als eine Form der „narrativen Wahrheit“ – eine plausible Geschichte – und nicht als „historische Wahrheit“ wahrzunehmen sind. Fishman (
2006) charakterisiert fallbasiertes Wissen als einen pragmatischen Ansatz zum Dokumentieren und Analysieren der Alltagspraxis.
In den letzten Jahren haben sich jedoch mehrere Gruppen von Praktiker:innen und Forscher:innen bemüht, Wege zu finden, Fallstudien so durchzuführen, dass sie zu glaubwürdigen und zuverlässigen Erkenntnissen führen. Eine Darstellung der verschiedenen Denkansätze, die Teil dieser Entwicklungen waren, findet sich bei McLeod (
2015). Grundsätze, die für eine qualitativ hochwertige Forschung als besonders relevant identifiziert werden können sowie in der vorliegenden Arbeit mit großer Sorgfalt integriert sind, sind die Verpflichtung zu ethischen Standards, die Betrachtung mehrerer Sichten, die Erhebung umfangreicher Falldaten sowie deren Überprüfung.