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Open Access 22.04.2024 | Skapulafraktur | Originalarbeit

Konservative und operative Therapiemöglichkeiten bei Frakturen des Processus coracoideus scapulae – Fallserie

verfasst von: Dr. Karl J. Sander, J. Christoph Katthagen, Michael J. Raschke, Philipp A. Michel

Erschienen in: Obere Extremität

Zusammenfassung

Hintergrund

Frakturen des Korakoids sind insgesamt selten. Sie treten meistens im Rahmen von Hochrasanztraumata als Teil von komplexen Skapulaverletzungen auf. Im Rahmen einer Luxation kann das Korakoid ebenfalls isoliert frakturieren.

Fragestellung

Ziel der Arbeit ist, Therapiemöglichkeiten und operative Behandlung bei Korakoidfrakturen darzustellen.

Material und Methoden

Es wurden im Rahmen einer retrospektiven Auswertung alle Fälle mit Korakoidfrakturen aus den letzten 10 Jahren eines Stufe-1-Traumazentrums analysiert. Insgesamt konnten 48 Fälle eingeschlossen werden.

Ergebnisse

Nicht verschobene Korakoidfrakturen distal der korakoklavikulären Bänder werden in der Regel konservativ behandelt. Dislozierte Frakturen proximal dieser Bänder oder weitere Begleitverletzungen des „superior shoulder suspensory complex“ (SSSC) stellen eine Operationsindikation dar. 54 % der Frakturen waren distal der korakoklavikulären Bänder. In 57 % der Fälle wurde konservativ therapiert. 43 % der Patienten wurden operativ behandelt, davon 85 % mittels Schraubenosteosynthese. 79 % der Patienten zeigten Begleitverletzungen der ipsilateralen Schulter.

Schlussfolgerung

Korakoidfrakturen sind komplexe Verletzungen, die nicht isoliert betrachtet werden können. Vorliegende Begleitverletzungen stellen einen wichtigen Faktor im initialen Behandlungskonzept, sowie bei der unfallchirurgischen Versorgung der Schulter dar. Das Verfahren der Wahl ist die offene Reposition und direkte Schraubenosteosynthese.
Hinweise
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Auf die Skapula entfallen nur ca. 1 % aller Frakturen. Der Processus coracoideus ist in ca. 3–13 % dieser Fälle beteiligt [7, 13, 18]. Aufgrund der niedrigen Inzidenz und der schwachen Evidenzlage gibt es wenige allgemeine Therapieempfehlungen.
Ursächlich sind meistens Hochrasanztraumata wie Verkehrsunfälle oder Stürze aus großer Höhe. Eine Skapulafraktur stellt bei Traumapatienten eine Indikatorfraktur für ein schweres Thoraxtrauma dar. In den meisten Fällen treten diese Frakturen nach einer direkten Krafteinwirkung gegen die anteriore und laterale Schulter auf. Isolierte Korakoidfrakturen sind aufgrund des energiereichen Traumamechanismus selten und eher eine Komplikation nach Schulterluxation und/oder -reposition.
Typische Begleitverletzungen der Schulter sind Instabilitäten des Akromioklavikulargelenks (ACG), Frakturen des Skapulakorpus, des Glenoids und des Akromions [1, 4, 15]. Seltener treten glenohumerale Luxationen mit den typischen Begleiterscheinungen wie der Hill-Sachs-Delle oder einer Bankart-Läsion auf. Insgesamt selten sind iatrogene Korakoidfrakturen nach Rekonstruktionstechniken der korakoklavikularären Bänder bei operativer Behandlung der ACG-Luxation. In ungünstigen Verläufen frakturiert das Korakoid an der durch die Bohrung verursachten Sollbruchstelle.
Für die Stabilität der Schulter nimmt der Processus coracoideus als Bestandteil des „superior shoulder suspensory complex“ (SSSC) nach Goss et al. [5] eine wichtige Funktion wahr. Der SSSC besteht knöchern, neben dem Korakoid, aus dem Akromion und der lateralen Klavikula. Diese Strukturen sind über die korakoklavikulären und die korakoakromialen Bänder sowie das ACG untereinander ringförmig verbunden. Über den SSSC und die Klavikula ist der Schultergürtel knöchern mit dem Thorax verbunden. Eine Verletzung von ≥ 2 Strukturen des SSSC führt in der Regel zu einer Instabilität der betroffenen Schulter mit entsprechender Therapiekonsequenz.
An der lateralen Seite des Processus coracoideus setzt das zweigeteilte korakohumerale Band an. Die lange Bizepssehne wird durch zwei Schenkeln des Bandes vor ihrem Eintritt in den Sulcus intertubercularis geführt wird. An der medialen Basis des Korakoids inseriert das superiore transverse skapuläre Ligament, das den N. suprascapularis in der superioren skapulären Notch überdacht [6].
Neben den ligamentären Strukturen inserieren mehrere Schulter- und Oberarmmuskeln am Processus coracoideus. Von der Korakoidspitze entspringt das Caput brevis des M. biceps brachii und der M. coracobrachialis. Die beiden gemeinsam verlaufenden Sehnen der beiden Muskeln bilden zusammen die „conjoint tendons“ (Abb. 1). Medial setzt der M. pectoralis minor am Korakoid an [6].
Das Ziel dieser Arbeit ist es, Therapiemöglichkeiten und operative Behandlung bei Korakoidfrakturen darzustellen.

Methodik

Studiendesign und Patienten

Bei dieser Fallserie handelt es sich um eine untersucherinitiierte und -finanzierte Arbeit. Alle im Zeitraum zwischen dem 01.01.2013 und dem 01.12.2023 behandelten Patienten am Universitätsklinikums Münster (Münster, Deutschland) mit einer Fraktur des Processus coracoideus scapulae (S42.13) wurden retrospektiv nachuntersucht. Als Datengrundlage wurde die medizinische Dokumentation im Krankenhausinformationssystem sowie die zur Behandlung angefertigte Bildgebung verwendet.
Das Universitätsklinikum Münster ist ein von der Akademie für Unfallchirurgie (AUC) zertifiziertes Stufe-1-Traumazentrum. Eingeschlossen wurden alle Patienten, die zum Unfallzeitpunkt volljährig waren und bei denen oben genannte Fraktur festgestellt wurde. Neben der Minderjährigkeit bestanden keine Ausschlusskriterien. In die Studie wurden insgesamt 48 Patienten eingeschlossen. Die Vorstellung der Patienten erfolgte im Rahmen der Regelversorgung in der Notfallambulanz, als Überweisung durch Praxen oder als Verlegung aus einem anderen Krankenhaus.
Ein Ethikvotum der Ethikkommission Westfalen-Lippe wurde eingeholt unter dem Aktenzeichen 2023-608-f‑S.
Der diagnostische Algorithmus bestand bei allen über die Notfallsprechstunde aufgenommenen Patienten nach Anamnese und körperlicher Untersuchung aus initialen, nativen Röntgenaufnahmen in 3 Ebenen (true a.-p., y‑view und axial). In einem Großteil der Fälle wurde zur Diagnosesicherung und Ausschluss von Begleitverletzungen eine Computertomografie (CT) der betroffenen Schulter angefertigt. Bei polytraumatisierten Patienten erfolgte die primäre Bildgebung computertomografisch im Rahmen einer Traumaspirale. Bei computertomografisch gesicherter Fraktur erfolgte keine weitere Röntgendiagnostik. Bei bereits extern vorbehandelten Patienten wurden die angefertigten Untersuchungen angefordert.
Als Endpunkte der Studie wurden die Technik der operativen Versorgung sowie die Begleitverletzungen der ipsilateralen Schulter festgelegt. Zusätzlich wurden die Frakturen des Korakoids nach Eyres et al. [3] und Ogawa et al. [18] klassifiziert,. Die Klassifikation nach Eyres teilt Frakturen des Processus coracoideus scapulae in 5 Typen ein. Die Klassifikation nach Ogawa unterscheidet zwischen Frakturen proximal und distal der korakoklavikulären Bänder. Die entsprechende Klassifizierung der Frakturen erfolgte durch Analyse der vorhandenen CT- und Röntgenbilder durch einen erfahrenen Untersucher.

Therapie

Die Indikation zur operativen Behandlung von Korakoidfrakturen ergibt sich in der Regel aus mehreren Faktoren. Die Entscheidung zur Operation wurde aufgrund des Dislokationsgrades, der vorliegenden Begleitverletzungen und der Beschwerden getroffen. Zusätzlich wurden patientenindividuelle Faktoren bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt.
Die operative Versorgung erfolgte im Regelfall durch die offene Reposition und Schraubenosteosynthese. Abhängig von den Begleitverletzungen wurde das Standardverfahren fallabhängig angepasst. Bei der typischen Versorgung wird der Patient in Beach-chair-Lagerung gebracht und der Arm der betroffenen Seite in einer intraoperativ bedienbaren Armhalterung befestigt (TRIMANO FORTIS-Gelenkarm, Arthrex, Naples, Florida, USA). Durch die Beugung des Ellenbogens wird der Muskelzug des Korakobrachialis und des Bizepses reduziert und die Reposition des Korakoids vereinfacht. Frakturen ohne Beteiligung des Glenoids können über einen direkten Zugang zum Korakoid versorgt werden. Die Schraubenosteosynthese erfolgt je nach Größe des Fragments und des Processus coracoideus mit Kleinfragmentschrauben. Bei Typ-V-Frakturen nach Eyres mit Glenoidbeteiligung erfolgt der Zugang über den deltopektoralen Zugang. Die Überprüfung der Reposition erfolgt entweder über einen Subskapularissplit oder eine Subskapularistenotomie. Eine andere Möglichkeit der Repositionskontrolle bietet die gleichzeitige Arthroskopie. Bei komplexen Skapulafrakturen ist gegebenenfalls eine Kombination mehrerer Zugangswege oder eine Modifizierung dieser notwendig. Postoperativ erfolgte sowohl bei isolierten Frakturen des Processus coracoideus als auch bei Mehrfachverletzungen der Schulter mit Beteiligung des Korakoids die Ruhigstellung in einer Schulterorthese. Einfache Korakoidfrakturen wurden für 3–4 Wochen im Gilchrist-Verband ruhiggestellt. Sechs Wochen nach der Operation wurde die schmerzadaptierte Aufbelastung begonnen. Die postoperative Behandlung der Korakoidfrakturen mit Begleitverletzungen erfolgte in Abhängigkeit von diesen mittels 15°-Schulterabduktionskissen oder Gilchrist-Verband für 4–6 Wochen.
Die konservative Behandlung erfolgte über eine Ruhigstellung in einer Schulterorthese. Die Dauer der Ruhigstellung und Art der Orthese orientiert sich dabei an den Begleitverletzungen. Im Regelfall erfolgte die konservative Behandlung im Gilchrist-Verband für 4 Wochen. Analog zur operativen Nachbehandlung konnte 6 Wochen nach Behandlungsbeginn die Belastung begonnen werden.
Sowohl die operativ als auch die konservativ versorgten Patienten wurden während des stationären Aufenthalts und in der ambulanten Versorgung physiotherapeutisch behandelt.

Auswertung

Die Daten wurden in einer Microsoft Excel (Microsoft, Redmond, Washington, USA) Arbeitsmappe gesammelt und ausgewertet. Mittelwerte und Standardabweichungen sowie relative Häufigkeiten wurden berechnet.

Ergebnisse

Insgesamt wurden 48 Patienten in die Auswertung eingeschlossen. Ein Patient verstarb vor der Behandlung der Korakoidfraktur an seinem schweren Thoraxtrauma. Die grundlegenden demografischen Daten sind in Tab. 1 zusammengefasst.
Tab. 1
Epidemiologische Daten der Kohorte
Patienten
n = 48
Alter (Jahre)
50, 83 ± 19,3 (19–88)
Männlich vs. weiblich (n [%])
38 (79,2) vs. 10 (20,8)
Größe (cm)
179,6 ± 9,3 (160–195)
Körpergewicht (kg)
88,2 ± 19,5 (55–150)
Body Mass Index (kg/m2)
27,2 ± 4,8 (20,2–43,4)

Aufnahme und Diagnostik

Ein Großteil der Korakoidfrakturen traten bei Patienten mit mehreren verletzen Körperregionen auf (n = 28; 58,3 %). Eine Schockraumaufnahme erfolgte bei 33 (68,8 %) der Patienten. 18 Patienten (37,5 %), die in der Studie untersucht wurden, wiesen einen Injury Severity Score (ISS) von ≥ 16 auf und erfüllte damit die Definition eines schwerstverletzten Patienten. Eine atraumatische Fraktur des Processus coracoideus scapulae nach Rekonstruktion der korakoklavikulären Bänder trat bei 2 Patienten (4,17 %) auf. Ein CT erfolgte bei 47 Patienten (97,9 %). Bei einem Patienten wurde bei röntgenologisch eindeutiger distaler Fraktur und geringen klinischen Beschwerden auf eine CT-Bildgebung verzichtet.

Klassifikation und Begleitverletzungen

Die Frakturen des Processus coracoideus scapulae wurden nach Eyres et al. [3] und Ogawa et al. [18] klassifiziert. Die Klassifikationen sind in der folgenden Tabelle aufgeführt (Tab. 2). Beispielhaft sind in Abb. 2 eine isolierte Korakoidfraktur (a) und einen komplexe Skapulafraktur (b) mit Beteiligung des Fortsatzes gezeigt.
Tab. 2
Klassifikation nach Eyres et al. [3] und Ogawa et al. [18]
Klassifikation nach Eyres et al.
Typ I: Fraktur der Korakoidspitze
13 (27,1 %)
Typ II: Fakturen in der Mitte des Korakoids
13 (27,1 %)
Typ III: Fraktur in der Korakoidbasis
6 (12,5 %)
Typ IV: Frakturen mit Beteiligung des superioren Skapulakorpus
9 (18,8 %)
Typ V: Frakturen mit Beteiligung des Glenoids
7 (14,6 %)
Klassifikation nach Ogawa et al.
Typ I proximal der CC-Bänder
22 (45,8 %)
Typ II distal der CC-Bänder
26 (54,2 %)
CC korakoklavikulär
Begleitverletzungen der ipsilateralen Schulter traten bei 38 Patienten (79,2 %) der untersuchten Kohorte auf. Die Häufigkeiten der einzelnen Verletzungen sind in der folgenden Tabelle aufgeführt (Tab. 3).
Tab. 3
Begleitverletzungen
Skapulafraktur mit Glenoidbeteiligung
12 (25,0 %)
Skapulafraktur mit Akromionbeteiligung
9 (18,8 %)
Skapulafraktur mit Beteiligung des Korpus
10 (20,8 %)
ACG-Verletzung
7 (14,6 %)
Klavikulafraktur
7 (14,6 %)
Rotatorenmanschettenruptur
4 (8,3 %)
Glenohumerale Luxation
10 (20,8 %)
Proximale Humerusfraktur
4 (8,3 %)
Instabile Verletzung SSSC
18 (37,5 %)
Gefäßverletzung A. subclavia
2 (4,2 %)
ACG Akromioklavikulargelenk, SSSC „superior shoulder suspensory complex“

Operation und Behandlung

Es wurde insgesamt 47 Fälle (n = 47) ausgewertet. Ein Patient (2,1 %) verstarb vor Behandlung der Schulterverletzungen. In 20 (42,6 %) Fällen wurden die Korakoidfrakturen operativ behandelt. Die durchschnittliche Operationszeit betrug 152 ± 51 (47–221) min. Die Versorgung der Korakoidfrakturen erfolgte im Durchschnitt 8,6 ± 7,6 (0–36) Tage nach dem Trauma.
Bei 17 (36,2 %) Patienten erfolgte eine offene Reposition und Schraubenosteosynthese. In 13 (27,7 %) Fällen erfolgte die Osteosynthese mittels mindestens zwei 3,5-mm-Kleinfragmentschrauben. Bei weiteren 4 (8,5 %) Patienten erfolgte die Verschraubung mit kanülierten Schrauben. Diese Verschraubungstechnik zeigte sich in der Auswertung inhomogen. Zweimal erfolgte Osteosynthese mit kanülierten 3,5-mm-Schrauben und jeweils einmal mit 4,5-mm-Schrauben als Teil- und Vollgewindeschraube (Abb. 3 und 4). Von den 17 offenen Repositionen erfolgten zwei unter arthroskopischer Repositionskontrolle bei Beteiligung der glenoidalen Gelenkfläche.
In einem einzelnen Fall (2,1 %) erfolgte bei einer Fraktur des anteriores Glenoids und gleichzeitiger Fraktur der Korakoidspitze eine Operation nach Latarjet mit Transfer des distalen Fragments an das anteriore Glenoid. Bei zwei weiteren Frakturen der Korakoidspitze erfolgte zum einen die Refixation mittels Fadenanker und zum anderen die Refixation mittels Fadencerclage.
Insgesamt wurden in der vorgestellten Kohorte bei 34 (72,3 %) Patienten zeitnah nach Trauma eine Schulteroperation am Korakoid oder an Begleitverletzungen der ipsilateralen Schulter durchgeführt. Eine Arthroskopie erfolgte in 9 (19,2 %) Fällen der Patientenkohorte.
Acht (17,0 %) Patienten wurde im weiteren Behandlungsverlauf erneut an der ipsilateralen Schulter operiert. In 5 (10,6 %) Fällen erfolgte eine arthroskopische Arthrolyse, in 2 (4,2 %) Fällen wurde eine inverse Schulterprothese implantiert und in einem Fall erfolgte die komplette Implantatentfernung (2,1 %).

Diskussion

Frakturen des Processus coracoideus sind komplexe Verletzungen, die nicht isoliert betrachtet werden können. Zum einen sind die zu behandelnden Patienten aufgrund des zumeist energiereichen Traumamechanismus schwer verletzt. Zum anderen treten häufig Begleitverletzungen auf, die zum Teil erst im Zusammenspiel des SSSC erhebliche Auswirkungen auf die Prognose und langfristige Funktion des Schultergürtels haben.
Über zwei Drittel (68,8 %) der Patienten in unserem Kollektiv wurden initial über den Schockraum hospitalisiert. Mehr als die Hälfte dieser Patienten wurde nach Abschluss der Diagnostik als Polytrauma mit einem ISS von ≥ 16 klassifiziert.
Die in unserer Patientenkohorte erhobene Prävalenz von Mehrfachverletzungen unterschiedlicher Körperregionen von 58,3 % deckt sich mit der von Lantry et al. [12] in der Literatur beschreibenden Rate von 60 %. Die Frakturversorgung von Korakoidfrakturen bei schwerverletzten Patienten hat eine Reihe von Implikationen, die in der Behandlung berücksichtigt werden müssen. Die Priorisierung der Verletzungen führt häufig zu einer späteren Ausversorgung als andere Frakturen. In unseren Daten zeigt sich dieses an der Versorgung am im Schnitt 9. Tag nach dem Unfallereignis (8,6 ± 7,6; 0–36 Tagen). Zusätzlich können Begleitpathologien wie Weichteilschäden erheblichen Einfluss auf die Art der operativen Versorgung und die Komplexität der Operationsplanung haben. Beispielhaft sind 2 Fälle, in denen eine traumatische Dissektion der A. subclavia ein interdisziplinäres Management durch Gefäß- und Unfallchirurgie erforderte. Zusätzlich beachtet werden muss das inhomogene Patientengut. Allein das Alter der analysierten Patienten zwischen 19 und 88 Jahren (minderjährige Patienten wurden nicht eingeschlossen) gibt Hinweise auf die unterschiedlichen Herausforderungen bezüglich Funktionsanspruch, Komorbiditäten und Belastbarkeit.
Die Indikationsstellung erfolgte in unserer Klinik nach den in Tab. 4 aufgelisteten Kriterien. Aufgrund der unterschiedlichen Verletzungsmuster und Begleitverletzungen wurden diese in einigen Fällen patientenindividuell modifiziert.
Tab. 4
Operationsindikationen bei Korakoidfraktur. (Nach [10])
Frakturdislokation von > 0,5–1 cm, insbesondere bei den Frakturtypen IV und V nach Eyres sowie Typ I nach Ogawa
Begleitverletzung mindestens einer weiteren Struktur des „superior shoulder suspensory complex“ (SSSC)
Offene Frakturen
Symptomatische Pseudarthrose
Frakturbeteiligung des Glenoids mit Gelenkstufe > 2 mm
Hoher funktioneller Anspruch, u. a. Überkopfarbeiter und Sportler (relativ)
Die Integrität des SSSC ist für die Behandlung von Korakoidfrakturen von essentieller Bedeutung. Über den SSSC ist die obere Extremität lateral am Schultergürtel aufgehängt. Bei einer 2fachen Unterbrechung des ringförmigen knöchern-ligamentären Komplexes durch eine Verletzung („double disruption“) liegt eine deutliche Instabilität des Schultergürtels vor, da die Kraftübertragung zwischen knöchernem Thorax und oberer Extremität unterbrochen ist [5]. Biomechanisch konnte durch Reynolds et al. [21] bei gleichzeitig vorliegender Skapulahalsfraktur anhand der Veränderung des glenopolaren Winkels die vermehrte Instabilität bei SSSC-Unterbrechung gezeigt werden. Die doppelte Unterbrechung führt u. a. zu einer Heilungsverzögerung und schlechteren funktionalen Outcome [16]. In der Literatur wird daher diese Art der Verletzung in den meisten Fällen, ebenso wie in dieser Fallserie, operativ therapiert [2].
Bei Korakoidfrakturen Ogawa Typ I und Eyres Typ IV und V liegt der Frakturspalt proximal der korakoklavikulären Bänder, sodass der SSSC bereits an einer Stelle unterbrochen ist. Im untersuchten Patientenkollektiv trat dieser Frakturtyp (Ogawa Typ I) in 45,8 % der Fälle auf. Die Kombination dieser Fraktur mit einer lateralen Klavikulafraktur nach Jäger und Breitner Typ I, einer Akromionfraktur nach Kuhn Typ II oder einer AC-Gelenkverletzung nach Rockwood Typ II ist als eine „double disruption“ des SSSC zu werten [8, 11]. In der Fallserie zeigte 18 Patienten (37,5 %) ein solches Verletzungsmuster. Instabilität im Bereich des SSSC ist ein Risikofaktor für die Bildung einer Pseudarthrose nach Fraktur des Korakoids [17].
Die operative Versorgung des Korakoids erfolgte in einem Großteil der Fälle über eine offene Reposition und eine Osteosynthese mit mindestens zwei Schrauben. Aufgrund der hakenförmigen Struktur des Processus coracoideus ist besonders auf die vorliegenden Frakturtyp nach Eyres et al. [3] zu achten. Je nach Verlauf des Bruchspalts ist eine unterschiedliche Ausrichtung der Bohrung und damit der Schraubenosteosynthese notwendig (Abb. 2 und 3). In der Literatur ist die Schraubenosteosynthese ebenfalls als das weiteste verbreitete Verfahren beschrieben. Anders als in unserer Kohorte wird von Ogawa et al. [16]eine Osteosynthese mit einer einzelnen Schraube als präferiertes Verfahren beschrieben.
Aufgrund der unterschiedlichen Begleitverletzungen bedarf es bei einem Großteil der untersuchten Fälle eine patientenindividuelle Operationsplanung. Aufgrund von Mehrfachverletzungen wurde häufig der Zugang angepasst (Abb. 4). Ebenfalls ist bereits an der durchschnittlichen Operationszeit von 152 ± 51 (47–221) min für die Versorgung der Schulterverletzungen die unterschiedliche Komplexität zu erkennen.
Zwei der ausgewerteten Frakturen waren iatrogenen Ursprungs. Bei diesen Patienten trat nach minimalinvasiver korakoklavikulären Bandrekonstruktion mit Doppelbuttonfixationssystem eine Fraktur des Processus coracoideus scapulae ([9]; Abb. 5) auf. Unter Laborbedingungen konnte gezeigt werden, dass die Bohrung von Knochentunneln zu einer Schwächung der hakenförmigen knöchernen Struktur führt [14]. In einer retrospektiven Auswertung von Panarello et al. [19] trat bei 12 von ca. 900 Patienten nach primärer korakoklavikulären Bandrekonstruktion eine Fraktur des Processus coracoideus auf. Da diese Patienten mit unterschiedlichen Operationsmethoden und daher z. T. ohne Knochentunnel versorgt worden sind, ist davon auszugehen, dass die Inzidenz in Gruppen mit Bohrung insgesamt höher liegt.
Neben den Frakturen nach korakoklavikulären Bandrekonstruktion ist eine weitere Sonderform der Korakoidfraktur in der Literatur beschrieben. Bei der 2017 durch Plachel et al. [20] beschriebenen „triple dislocation fracture“ nach glenohumeraler Luxation kommt es neben der Verrenkung zu einer Fraktur des anterioren Glenoidrandes, des Tuberculum majus und des Korakoids. Ein Patient in unserem Kollektiv wies dieses Verletzungsmuster auf. Bei der Korakoidfraktur handelte es sich um eine Typ-I-Verletzung nach Eyres, sodass das Korakoid konservativ behandelt wurde. Die Humerusfraktur und Fraktur des Pfannenrandes wurden operativ versorgt.
Eine Pseudarthrosenbildung kam es bei den untersuchten Fällen nicht vor. Hierbei ist aber darauf hinzuweisen, dass nach der postoperativen Röntgenkontrolle keine Verlaufskontrolle bei Beschwerdefreiheit erfolgte. Die Diagnostik von Pseudarthrosen des Korakoid ist aufgrund des häufig beschwerdearmen Verlaufs erschwert [17].
Unsere Studie weist einige Limitationen auf. Aufgrund des rein retrospektiven Studiendesigns der Fallserie sind keine Aussagen zur Funktionsweise nach der operativen oder konservativen Behandlung zu treffen. Ein statistischer Gruppenvergleich ist ebenfalls aufgrund einer fehlenden Kontrollgruppe nicht möglich. Aufgrund der unterschiedlichen Begleitverletzungen, sowohl an anderen Körperregionen wie auch an der Schulter, ist zusätzlich die standardisierte Auswertung erschwert, da das Behandlungskonzept stark einzelfallabhängig war und mitunter Empfehlungen wie die vorgestellten Operationsindikationen abgeändert wurden.

Fazit für die Praxis

  • Frakturen des Processus coracoideus scapulae sind komplexe osteoligamentäre Verletzungen, die selten isoliert auftreten und daher umfassende Diagnostik benötigen.
  • Basisnahe oder grob dislozierte Frakturen werden mittels Schraubenosteosynthese operativ versorgt.
  • Eine Korakoidfraktur und eine weitere Verletzung des SSSC stellen eine Operationsindikation dar.
  • Arthroskopische Verfahren können bei der Reposition von Korakoidfrakturen mit Gelenkbeteiligung unterstützen.

Förderung

Die Finanzierung dieser Studie wurde von der Klinik für Unfall‑, Hand- und Wiederherstellungschirurgie des Universitätsklinikums Münster getragen. Es wurden keine externen Mittel in Anspruch genommen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

K.J. Sander, J.C. Katthagen, M.J. Raschke und P.A. Michel geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethik-Kommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Patienten liegt eine Einverständniserklärung vor. Ein Ethikvotum der Ethikkommission Westfalen-Lippe wurde eingeholt unter dem Aktenzeichen 2023-608-f‑S.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
3.
Zurück zum Zitat Eyres KS, Brooks A, Stanley D (1995) Fractures of the coracoid process. J Bone Jt Surg Br 77:425–428CrossRef Eyres KS, Brooks A, Stanley D (1995) Fractures of the coracoid process. J Bone Jt Surg Br 77:425–428CrossRef
5.
Zurück zum Zitat Goss T (1993) Double disruptions of the superior shoulder suspensory complex. J Orthop Trauma 7:99–106CrossRefPubMed Goss T (1993) Double disruptions of the superior shoulder suspensory complex. J Orthop Trauma 7:99–106CrossRefPubMed
8.
Zurück zum Zitat Jäger S, Breitner M (1984) Therapiebezogene Klassifikation der lateralen Claviculafraktur. Unfallheilkunde 87:467–473PubMed Jäger S, Breitner M (1984) Therapiebezogene Klassifikation der lateralen Claviculafraktur. Unfallheilkunde 87:467–473PubMed
20.
Metadaten
Titel
Konservative und operative Therapiemöglichkeiten bei Frakturen des Processus coracoideus scapulae – Fallserie
verfasst von
Dr. Karl J. Sander
J. Christoph Katthagen
Michael J. Raschke
Philipp A. Michel
Publikationsdatum
22.04.2024
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Obere Extremität
Print ISSN: 1862-6599
Elektronische ISSN: 1862-6602
DOI
https://doi.org/10.1007/s11678-024-00800-z

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