Skip to main content
Erschienen in: InFo Neurologie + Psychiatrie 11/2017

22.11.2017 | Akupunktur | editorial

Schmerztherapie: Lasst die Placebos ran!

verfasst von: Springer Medizin

Erschienen in: InFo Neurologie + Psychiatrie | Ausgabe 11/2017

Einloggen, um Zugang zu erhalten

Auszug

Für die Zulassung und Erstattung von Medikamenten, Medizingeräten oder bestimmten Prozeduren werden Placebo- beziehungsweise Sham-kontrollierte Studien gefordert. Dies ist für viele Bereiche der Medizin sinnvoll und gerechtfertigt. Denken wir an die Therapie maligner Tumoren oder die Behandlung und Prophylaxe vaskulärer Krankheiten, muss eine neue Therapie signifikant besser wirksam sein als eine Placebotherapie. Die Situation ist allerdings völlig verschieden, wenn es um die Schmerztherapie geht. Hier gibt es eine Vielzahl von Studien, die belegen, dass eine Placebotherapie wirksam sein kann und über ähnliche Mechanismen wirkt wie ein klassisches Analgetikum wie Aspirin oder ein Opioid. Warum setzen wir dann Placebos nicht routinemäßig in der Schmerztherapie ein?
1.
Der Nachweis der Wirksamkeit eines neuen Medikamentes ist in der Schmerztherapie häufig schwierig, wenn sich das neue Medikament von Placebo, das eine eigenständige schmerztherapeutische Wirksamkeit hat, unterscheiden soll. So wussten wir aus dem klinischen Alltag, dass Botulinumtoxin A bei mehr als 50 % aller Patienten mit chronischer Migräne wirksam ist. Jedoch gelang es lange Zeit nicht, die Überlegenheit gegenüber Placebo nachzuweisen. Erst durch zwei randomisierte Studien mit 1.384 Patienten konnte der therapeutische Vorteil gegenüber Placebo belegt werden [1]. Der therapeutische Unterschied zu Placebo war gering. Die Wirksamkeit der Placebotherapie war sehr eindrucksvoll.
 
2.
Vor einigen Jahren führten wir und andere große randomisierte Studien zur prophylaktischen Wirksamkeit der Akupunktur bei Migräne und beim Spannungskopfschmerz durch [2, 3, 4]. Wir verglichen bei 951 Patienten die chinesische Akupunktur mit einer Scheinakupunktur (Placebo) und einer medikamentösen Therapie mit einem Betablocker. Es ergaben sich keine Unterschiede in der Wirksamkeit der drei Therapiearme. In der Scheinakupunkturgruppe besserte sich die Migräne bei 39 % der Patienten um mehr als 50 %. Das Gesundheitsministerium entschied damals (den gemeinsamen Bundesausschuss gab es noch nicht), dass die Akupunktur bei Migräne nicht zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verschrieben werden durfte. Diese Entscheidung war sicher falsch. Die Akupunktur hat keine Nebenwirkungen. Eine Responderrate von fast 40 % rechtfertigt meiner Meinung nach den Einsatz der Akupunktur. Wenn sie nicht wirkt, kann man immer noch auf die klassischen Medikamente zur Migräneprophylaxe zurückgreifen.
 
3.
Ähnliche Beobachtungen gibt es bei der atraumatischen Neurostimulation: Die transkutane Stimulation des N. vagus und die Stimulation der Nervenaustrittspunkte des 1. Trigeminusastes (Cephaly) zeigten nur minimale Unterschiede gegenüber einer Scheinstimulation [5, 6, 7]. Auch hier wäre ein klinischer Einsatz gerechtfertigt, da beide Methoden keine Nebenwirkungen haben. Das Geschäftsmodell der Herstellerfirmen sieht vor, dass Patienten das jeweilige Gerät kaufen können. Bei mangelnder Wirksamkeit wird es zurückgenommen und der Kaufpreis zu einem erheblichen Anteil erstattet.
 
4.
Völlig verschieden ist die Situation bei der interventionellen Neurostimulation, also die bilaterale Stimulation des N. occipitalis oder die Implantation von Reizelektroden in das Ganglion sphenopalatinum (SPG). Es handelt sich um extrem teure Verfahren mit einer nicht unerheblichen Komplikationsrate und beide sind daher Patienten mit chronischem, therapierefraktären Clusterkopfschmerz vorbehalten. Leider wird aber in Deutschland die Stimulation des SPG bei Migräne propagiert, obwohl es dazu eine negative randomisierte Studie gibt [8].
 
5.
Ein weiteres Beispiel stellt eine kürzlich publizierte Studie zum Einsatz von Topiramat, Amitriptylin und Placebo bei Kindern und Jugendlichen mit Migräne dar [9]. Es ergab sich kein Unterschied zwischen den drei Therapiearmen. Die Responderrate unter Placebo betrug 61 %! Die Studie zeigt also keineswegs, dass Topiramat oder Amitriptylin unwirksam sind, sondern dass es bei Kindern und Jugendlichen einen exorbitant großen Placeboeffekt gibt. Diesen sollte man durchaus therapeutisch nutzen.
 
Metadaten
Titel
Schmerztherapie: Lasst die Placebos ran!
verfasst von
Springer Medizin
Publikationsdatum
22.11.2017
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
InFo Neurologie + Psychiatrie / Ausgabe 11/2017
Print ISSN: 1437-062X
Elektronische ISSN: 2195-5166
DOI
https://doi.org/10.1007/s15005-017-2375-y

Weitere Artikel der Ausgabe 11/2017

InFo Neurologie + Psychiatrie 11/2017 Zur Ausgabe

Neu in den Fachgebieten Neurologie und Psychiatrie

Niedriger diastolischer Blutdruck erhöht Risiko für schwere kardiovaskuläre Komplikationen

25.04.2024 Hypotonie Nachrichten

Wenn unter einer medikamentösen Hochdrucktherapie der diastolische Blutdruck in den Keller geht, steigt das Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse: Darauf deutet eine Sekundäranalyse der SPRINT-Studie hin.

Frühe Alzheimertherapie lohnt sich

25.04.2024 AAN-Jahrestagung 2024 Nachrichten

Ist die Tau-Last noch gering, scheint der Vorteil von Lecanemab besonders groß zu sein. Und beginnen Erkrankte verzögert mit der Behandlung, erreichen sie nicht mehr die kognitive Leistung wie bei einem früheren Start. Darauf deuten neue Analysen der Phase-3-Studie Clarity AD.

Viel Bewegung in der Parkinsonforschung

25.04.2024 Parkinson-Krankheit Nachrichten

Neue arznei- und zellbasierte Ansätze, Frühdiagnose mit Bewegungssensoren, Rückenmarkstimulation gegen Gehblockaden – in der Parkinsonforschung tut sich einiges. Auf dem Deutschen Parkinsonkongress ging es auch viel um technische Innovationen.

Demenzkranke durch Antipsychotika vielfach gefährdet

23.04.2024 Demenz Nachrichten

Wenn Demenzkranke aufgrund von Symptomen wie Agitation oder Aggressivität mit Antipsychotika behandelt werden, sind damit offenbar noch mehr Risiken verbunden als bislang angenommen.