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Open Access 05.04.2024 | Wochenbett | Originalien

Versorgung von Familien im Wochenbett – eine qualitative Studie

verfasst von: Joana Knobloch-Maculuve, Jost Steinhäuser

Erschienen in: Zeitschrift für Allgemeinmedizin

Zusammenfassung

Hintergrund

Durch den Hebammenmangel in Deutschland ist eine flächendeckende Grundversorgung für junge Familien im Wochenbett nicht immer gewährleistet. Es liegt daher nahe, dass Fachärzte/Fachärztinnen für Allgemeinmedizin (FÄAM), die als erste Ansprechpartner für alle gesundheitlichen Fragen in unserem System fungieren, zukünftig häufiger mit Fragestellungen zum Thema Wochenbett konsultiert werden. Ziel dieser qualitativen Studie war es daher, zentrale Kompetenzen für die Versorgung von Familien im Wochenbett zu explorieren.

Methoden

Hebammen wurden zur ihrer Wochenbetttätigkeit mithilfe eines semistrukturierten Fragebogens befragt. Anschließend wurden die Interviews nach Mayring ausgewertet.

Ergebnisse

Es wurden Interviews mit 25 Hebammen durchgeführt, die durchschnittlich 45 Jahre alt waren. Wissen über die (patho)physiologischen Vorgänge von Mutter und Kind während der Wochenbettzeit, eine supportive Grundhaltung und Zeit sind wichtige Elemente der Arbeit mit jungen Familien im Wochenbett. Darüber hinaus sind Kompetenzen zu psychosozialen Themen zu erlangen.

Schlussfolgerung

Ein Kompetenzerwerb für die Wochenbettarbeit erscheint für FÄAM sinnvoll. Dabei sollte u. a. eine gute Vernetzungsstruktur mit anderen Gesundheitsberufen aufgebaut werden.
Hinweise
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Hinführung

Jede gesetzlich versicherte Frau hat einen Anspruch auf Hebammenhilfe während Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit [1]. In einigen Regionen scheint es allerdings schwerer zu sein, eine Hebamme für die Versorgung während der Wochenbettzeit zu finden [2]. Fachärzte/Fachärztinnen für Allgemeinmedizin (FÄAM) sollten – wenn möglich – einen Zugang zur Hebammenversorgung ebnen, bevor sie selbst in der Wochenbettversorgung tätig werden. Bei kürzeren stationären Liegezeiten findet die Betreuung zunehmend in der Häuslichkeit statt. Trotz des steigenden Bedarfs an Wochenbetthilfe denken freiberuflich tätige Hebammen häufig über einen Berufsausstieg oder eine Arbeitszeitreduzierung nach. Gründe hierfür sind hohe Arbeitsbelastung, mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf [3] sowie steigende Berufshaftpflichtprämien für geburtshilflich tätige Hebammen [4]. Unter anderem deswegen arbeiten Hebammen oft nur 4–7 Jahre in ihrem Berufsfeld [5]. Die Inanspruchnahme von Hebammenhilfe ist mit 74,3 % in Schleswig-Holstein am geringsten [6].
Vor dem Hintergrund dieser Umstände liegt es nahe, dass FÄAM zukünftig häufiger mit Fragen zum Wochenbett konsultiert werden. Zudem ist die ganzheitliche Betrachtungsweise der Familie eine der Kernkompetenzen von FÄAM und ist im Curriculum [7] und den Zukunftspositionen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin fest verankert [8].
Ziel dieser Studie war es, Kompetenzen zu identifizieren, die von FÄAM erlangt werden müssten, um eine Familie, die sich im Wochenbett befindet, in dieser sensiblen Phase hinsichtlich ihrer somatischen und psychosozialen Umstellungsprozesse begleiten zu können.

Studiendesign

Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde ein qualitativer Zugang gewählt. Dabei wurden Einzelinterviews mit Hebammen als Expertinnen für das Wochenbett geführt. Hebammen aus dem Raum Schleswig-Holstein wurden dabei zu Erfahrungen, Einstellungen und Zukunftsvorstellungen in Bezug auf die Wochenbettarbeit und die Versorgung junger Familien während dieser Zeit befragt. Die Interviews wurden anhand eines semistrukturierten Fragebogens durchgeführt, anschließend transkribiert und nach der Inhaltsanalyse von Mayring ausgewertet. Die Richtlinien der „consolidated criteria for reporting qualitative research“ (COREQ) wurden hierbei berücksichtigt.

Leitfragenerstellung

Vor dem Hintergrund einer Vorarbeit [9] und der Erfahrungen der Autoren wurden Leitfragen entwickelt. Anschließend wurden Probeinterviews durchgeführt. Informationen aus diesen Interviews flossen nicht in die weitere Datenanalyse ein. Aus den Erkenntnissen der Probeinterviews wurde ein semistrukturierter Fragebogen mit 10 finalen Leitfragen erstellt.
Die Leitfragen lauteten:
  • Ihrer Erfahrung nach: Mit welchen Beratungsanlässen werden Sie im Zusammenhang mit der Versorgung von Familien im Wochenbett konfrontiert?
  • Welche Erfahrungen haben Sie bei der Versorgung von Familien im Wochenbett gemacht, die unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben?
  • In welchen Bereichen der Versorgung junger Familien im Wochenbett sehen Sie für die Zukunft Herausforderungen?
  • Welche Kompetenzen sollte Ihrer Meinung nach ein Arzt/eine Ärztin in Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin für die Betreuung im Wochenbett erlernen?
  • In 100 Jahren, was meinen Sie, wie dann die Betreuung im Wochenbett aussehen wird?
  • Inwiefern decken sich die Beratungsanlässe mit den Themen, die Sie für die Betreuung der Wochenbettzeit während ihrer Ausbildung erlernt haben?
  • Was denken Sie, wie die Versorgung von Familien während des Wochenbetts in Zeiten des Hebammenmangels gelöst werden könnte?
  • Müssen Sie die Betreuung von Familien im Wochenbett ablehnen und wenn ja warum?
  • Gibt es in der letzten Zeit eine Entwicklung bezüglich Komplikationen im Wochenbett, mit denen Sie die von Ihnen betreute Familien an ärztliche Fachrichtungen weiterschicken müssen?
  • Hat Ihnen ein Aspekt in unserem Gespräch gefehlt?

Rekrutierung

Die Rekrutierung erfolgte über das Portal Hebammensuche Schleswig-Holstein des Hebammenverbands Schleswig-Holstein. Es wurde darauf geachtet, ländlich gelegene Gebiete Schleswig-Holsteins abzudecken.
Die Hebammen wurden telefonisch oder per E‑Mail von der Erstautorin (JKM, Hebamme, zum Zeitpunkt der Interviews Medizinstudierende) kontaktiert. Anschließend wurden sie vor den Interviews sowohl schriftlich als auch mündlich über die Studie informiert.

Ethikvotum

Die Studie wurde am 27.04.2016 von der Ethikkommission der Universität zu Lübeck bewilligt (Nr.:16-014).

Ablauf

Die Interviews wurden im Zeitraum von Juli 2019 bis Mai 2020 von JKM geführt. Die Gespräche wurden dabei mit einem digitalen Tonbandgerät aufgezeichnet. Die Interviews wurden einzeln wörtlich transkribiert. Es wurden die Transkriptionsregeln des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Lübeck berücksichtigt.

Datenanalyse

Das Material wurde inhaltsanalytisch nach Mayring ausgewertet [10]. Die transkribierten Daten wurden vollständig in die Analyse einbezogen.
Die gesamte Analyse wurde von 2 Forschenden unabhängig voneinander durchgeführt (JKM und RM, Professorin für Hebammenwissenschaft). In einem Konsensmeeting mit JS (Facharzt für Allgemeinmedizin, erfahren mit qualitativen Studien) wurden die finalen Kodierungen festgelegt.

Ergebnisse

Insgesamt wurden telefonisch 25 Interviews mit examinierten Hebammen aus dem Raum Schleswig-Holstein geführt. Alle Gespräche sind in die Datenanalyse einbezogen worden. Sämtliche Teilnehmerinnen waren weibliche Hebammen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung, die ambulante Wochenbettbetreuungen durchführen und ihre berufliche Tätigkeit in Schleswig-Holstein ausüben. Die durchschnittliche Berufserfahrung lag bei 20 Jahren (min. 2, max. 41 Jahre). Das durchschnittliche Alter der Hebammen betrug 45 Jahre (min. 26, max. 63 Jahre).
Es wurden 8 Interviews mit Hebammen aus dem Kreis Ostholstein inkl. der Insel Fehmarn geführt. Zudem wurden 12 Interviews mit Hebammen aus dem Kreis Nordfriesland aufgezeichnet, wovon 3 Hebammen auf den Inseln Amrum oder Sylt tätig waren. Fünf Interviews wurden mit Hebammen geführt, die ihre Wochenbetttätigkeit im städtischen Bereich, d. h. in Kiel oder in Lübeck, ausgeführt haben.
Die Gesprächsdauer der geführten Interviews betrug minimal 27:56 min und maximal 43:26 min. Die durchschnittliche Gesprächsdauer lag bei 32 min.

Beratungsschwerpunkte in der Wochenbettarbeit

Die Teilnehmerinnen gaben an, dass die Aufnahme der Stillbeziehung und die Ernährung des Säuglings häufige Beratungsanlässe seien. Als Beratungsschwerpunkte bezüglich des Kinds wurden das Handling und Gedeihen des Säuglings, der Beziehungsaufbau und die Pflege des Neugeborenen, die Sudden-infant-death-syndrome(SIDS)-Prophylaxe sowie das Deuten oder Interpretieren des Verhaltens des Säuglings und Wissensvermittlung in Bezug auf die Bedürfnisse des Neugeborenen genannt. Die Entwicklung im ersten Lebensjahr, Kindervorsorgeuntersuchungen, Impfungen und Aufklärung über den Neugeborenenikterus wurden ebenfalls als Beratungsthemen erwähnt.
Die Wöchnerinnen wurden bezüglich ihrer Rückbildungsvorgänge sowie der Naht- und Wundkontrolle beraten und körperlich untersucht. Darüber hinaus wurden die Hebammen bei den Themen allgemeine Hygieneberatung, Familienplanung, Sexualität, Organisation der Kinderbetreuung, Mediennutzung während der Wochenbettzeit, Kindergeld, Elterngeld, Geburtsurkunden, Kinderbetreuungsplätze und Kaufentscheidungen rund um das erste Lebensjahr mit dem Kind beratend tätig.
Die Hebammen gaben an, dass die psychosoziale Begleitung und Beratung bezüglich der neuen Familienkonstellation, Elternwerdung, neuer Geschwisterkonstellationen, Paarbeziehung und -konflikte, Wochenbettverstimmung und -depression, Nachbesprechung der Geburt und Unterstützung der Eltern bezüglich des Umgangs mit dem Neugeborenen einen Großteil der Beratung einnehmen würde.
„Ja, also früher war es sehr nur das Messbare und heutzutage ist es eben auch sehr viel mehr psychisch. […] Ich habe zwar früher auch schon darüber gesprochen, aber jetzt stößt man mehr auf offene Ohren […] Und wenn sie dann ihre Heultage haben oder sonst was, dass man dann nicht einfach sagt, ich guck mir kurz den Bauch an und gehe wieder, so nach der Devise, sondern da muss man einfach dann auch sich Zeit nehmen und einfach mal zu hören.“ (HL 101)
Neugeborene müssen nach Angaben der Teilnehmerinnen mehr „funktionieren“ und sich in den Familienalltag einfügen. Begründet wurde diese Entwicklung mit mangelnden oder den eigenen Vorstellungen nichtentsprechenden Vorbildern, fehlender Unterstützung im Familienalltag, häufigem Medienkonsum, Technikglauben, frühem Zurückstreben in den Beruf und der damit einhergehenden Doppelbelastung, einem allgemeinen Perfektionsstreben innerhalb der Familien sowie mangelnder Frustrationstoleranz gegenüber nichtplanbaren Geschehnissen.
„Ja ich glaub, dass viele Netzwerke nicht mehr so greifen, wie es vor ein paar Jahren noch war […] dass da ein hoher Erwartungsdruck da ist, also ganz viel richtig zu machen […]. Auch die Erwartung an uns Hebammen, irgendwie viel da zu sein, früher haben wir die Frauen 2‑, 3‑mal zuhause besucht und die hat sich gemeldet, wenn was war und das ist schon nochmal verändert inzwischen.“ (HL4)
Gleichzeitig wurden die Informationen, die die Familien über Medien wie das Internet erhalten, nicht nur als negativ bewertet. Es wurde teilweise ein besseres „Informiertsein“ durch das Onlineangebot angegeben.
„Ich glaube da kriegen sie inzwischen Informationen, die ich ihnen auch geben würde. […] Sondern mein Gefühl ist wirklich, dass die Fachforen besser werden und vielleicht auch einfach mehr davon gibt, dass man die schneller findet.“ (HL 8)
Zudem wurden Wochenbettverläufe in der Versorgung als einfacher bewertet, wenn eine Kontaktaufnahme mit der Schwangeren schon vor der Geburt des Kinds stattgefunden hat und einige Beratungsthemen schon vor dem Wochenbett besprochen wurden.
„Dazu treffe ich mich aber auch schon mit den Frauen in der Schwangerschaft, um ihnen da viel im Voraus schon zu erklären und zu zeigen, damit es gar nicht so weit kommt. Und seitdem […] habe ich sehr viel leichtere Wochenbettverläufe. Also sehr viel komplikationsloser, als wenn ich jetzt zum Bespiel eine Vertretung habe für eine Kollegin und da so reinstolpere in die Familie, dann sehe ich eben auch, wie andere Kolleginnen arbeiten, die vielleicht nicht die Kapazitäten haben, sich in der Schwangerschaft schon um die Frauen zu kümmern.“ (HL 1)
Die Wochenbettbesuche bei Familien, die ihr erstes Kind bekommen haben, seien deutlich betreuungs- und zeitintensiver als bei Geschwisterkindern, gaben die Teilnehmerinnen an. Die Familien seien unsicherer im Umgang mit dem Säugling und im Deuten von dessen Verhalten. Es wurde angeben, dass auf Vorwissen innerhalb der Familie aufgebaut werden könne. Bei Folgekindern werde der Fokus der Beratung mehr auf die neue Geschwisterkonstellation gelegt und orientiere sich zunehmend weg vom Baby auf die gesamte Familiendynamik.
„Naja, ich brauch ja bei den Zweitgebärenden nicht mehr viel über Handling und Neugeborenenpflege erzählen, was ich jetzt bei der Erstgebärenden, also es ist wesentlich zeitintensiver. […] das sind halt ganz andere Themen, also ja. Bei Erstgebärenden ist halt komplette Unsicherheit, also da muss man ja wirklich von vorn bis hinten alles abgrasen, also gerade was diesen Umgang mit dem Säugling angeht. Und das Stillen auch.“ (HL 3)

Grundvoraussetzungen für die Arbeit mit jungen Familien im Wochenbett

Nach Angabe der Teilnehmerinnen sollten sich FÄAM mit den Rückbildungsvorgängen, der Wundheilung und den somatischen Umstellungsprozessen der Wöchnerinnen sowie der physiologisch-körperlichen und mentalen Entwicklung eines Neugeborenen auskennen, wenn sie eine Familie im Wochenbett zur Nachsorge begleiten. Des Weiteren wurde ausgeführt, dass ihnen das Erkennen, Diagnostizieren und Behandeln aller üblichen medizinischen Komplikationen, die im Wochenbett auftreten können, vertraut sein sollte. Zudem sollte die Varianz der physiologischen Normabweichungen ohne pathologischen Charakter in dieser Phase bekannt sein.
Darüber hinaus müssten sie Kompetenzen in allen Fragen rund um das Stillen, von Stillkomplikationen und der Ernährung eines Säuglings erlernt haben.
Gleichzeitig wurde aus den Gesprächen deutlich, wie vordergründig psychosoziale Themen bei der Versorgung von Familien im Wochenbett sind, die die gesamte Stillzeit und das erste Lebensjahr des Säuglings betreffen. Zudem wurde erwähnt, dass die psychische und mentale Verfassung der frisch entbundenen Frau beachtet werden sollte und Tage von emotionaler Labilität von einer behandlungsbedürftigen Wochenbettdepressionen abgegrenzt werden müssen.
„Also der müsste natürlich vom Stillen und Rückbildung eine Ahnung haben und der müsste auch von den psychischen Dingen eine Ahnung haben und auch auf was vielleicht einfach bindungsmäßig abgeht zwischen Mutter und Kind oder Vater und Kind und auch vielleicht Beziehungsprobleme […] dass der nicht nur begrenzt sein darf auf körperliche Geschichten, weil eigentlich das Meiste an Veränderung auch in der Paarbeziehung ist und dass jeder zu seinem Recht kommt oder erstmal nicht kommt.“ (HL14)
Von den Teilnehmerinnen wurde herausgestellt, dass es neben dem inhaltlichen Wissen Grundvoraussetzungen gäbe, die vorhanden sein müssten, um eine Familie im Wochenbett betreuen zu können. Hierzu gehörten ausreichend Zeit, eine offene, vertrauenswürdige und empathische Grundhaltung gegenüber der jungen Familie sowie eine Hinwendung von der pathologisch zentrierten Arbeitsweise des Arztes/der Ärztin zur Physiologie. Gleichzeitig wurde eine kooperative Zusammenarbeit mit Hebammen und anderen Fachrichtungen als wichtiges Element erwähnt.
„Ich denke, dass er keinerlei Fortbildung braucht Richtung Nahtbeobachtung oder so. Das ist ja alles schon im Studium erfolgt oder in der Ausbildung. Ja, ich denke eher, da geht es noch mehr ums Stillen. […] die Kindsentwicklung auch im Hinterkopf, aus dieser Richtung würden sicherlich Fragen kommen. Ja, ich denke hauptsächlich geht es ums Stillen, um Bonding, um eine gute Familienbeziehung. […] …er müsste Zeit mitbringen, um auch ein offenes Ohr haben zu können und nicht schon mit einem Fuß wieder in der Tür stehen.“ (HL 1)
Die Erfüllung dieser Grundvoraussetzungen sahen einige Teilnehmerinnen als problematisch an. So wurde häufig die fehlende Zeit der FÄAM angemerkt und eine daraus resultierende mangelnde Aufmerksamkeit für die Belange der Familie. Ebenso sei das wichtige Thema des Stillens und dessen Beratung ein zeitintensiver Vorgang, bei dem es häufig vonnöten sei, einen gesamten Stillvorgang zu beobachten und anschließend zu beraten.

Diskussion

Durch die qualitative Analyse der Interviews mit Hebammen wurden Hypothesen generiert, über welche Kompetenzen FÄAM verfügen müssten, die eine Familie in der Wochenbettsituation beraten und medizinisch betreuen. Neben dem Fachwissen über die pathophysiologischen Rückbildungs- und Entwicklungsvorgänge von Mutter und Neugeborenem müssten bestimmte zeitliche Grundvoraussetzungen erfüllt sein, damit sich die Familien mit ihren Fragen und Nöten an sie wenden können.
Zu den relevanten Kompetenzen gehört es, die Bedürfnisse eines Neugeborenen und Säuglings jungen Eltern vor dem Hintergrund der jeweils aktuellen Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie erklären zu können sowie die Familie darin zu unterstützen, diese Anzeichen zu deuten, um in altersgerechte, bindungsorientierte Interaktion mit dem Kind gehen zu können. Zudem sollten die individuellen Bedürfnisse und Lebenssituationen der gesamten Familie beurteilt werden können [11].
Durch die guten hygienischen Bedingungen und Lebensstandards ist die Morbidität und Mortalität in der Wochenbettphase gesunken, wodurch psychosoziale Beratungskomponenten eine höhere Relevanz bekommen haben [12]. Aus den Interviews wird deutlich, dass neben dem Blick auf die physische Gesundheit von Mutter und Kind Belange der Familienentstehung relevant sind. Die Veränderung der Beratungsanlässe bestätigen auch die Ergebnisse der Studie „Die ambulante Wochenbettbetreuung“ von S. Simon. Darin wurde festgestellt, dass die Organisation des Alltags mit Kind, der frühe Einstieg in das Berufsleben, mangelnde Copingstrategien der Eltern sowie das Aufklären über kindliche Bedürfnisse häufige Beratungsanlässe in der Wochenbettarbeit sind [13]. Dies lässt vermuten, dass der Beratungsbedarf sich hinsichtlich dieser Aspekte weiter verstärken wird.
In einer 2021 durchgeführten Forschungsarbeit gaben 41 % der befragten FÄAM an, innerhalb eines Jahrs Frauen mit einer postpartalen Depression in ihrer Praxis behandelt zu haben. Gleichzeitig fühlten sich 46 % der Befragten nicht ausreichend über die postpartale Depression informiert [14]. Dies zeigt zum einen, dass postpartal depressiv Erkrankte zum Patientinnenkollektiv von FÄAM gehören, und zum anderen, dass Informationsdefizite bezüglich psychiatrischer Themen bestehen.
Da von den Teilnehmerinnen mangelnde Vorbilder und Unterstützung als Problemfelder in der Wochenbettarbeit identifiziert wurden, sollten Vernetzung von Familien und Einbezug von unterstützenden Ressourcen, wie beispielsweise das Verordnen von Haushaltshilfen, Kurse in Familienbildungszentren und weitere Beratungsangebote, Themen in der Wochenbettberatung sein. Dass bereits Säuglinge im Schlafverhalten stark von der Mediennutzung ihrer Eltern geprägt werden, ist bereits Gegenstand der Forschung [15]. Dementsprechend sollten Nutzen und Risiken von Medienkonsum während der Neugeborenenperiode in der Wochenbettbetreuung erwähnt werden.
FÄAM, die die Familie meist schon seit Jahren begleiten, können aufgrund ihrer Informationen über den sozialen Hintergrund der Familie Beratungsthemen identifizieren und vorrauschauend tätig werden. Der präventive Ansatz der Wochenbettarbeit könnte somit durch die frühe Aufnahme von Beratungsthemen unterstützt werden. Beim Planen von Betreuungsressourcen für die Wochenbettarbeit kann vermutet werden, dass die Arbeit bei Erstlingseltern zeitintensiver sein wird.
Zur Erlangung dieser Kompetenzen bedarf es eines Inputs über regelmäßig auftretende Beratungsanlässe und deren Regelwidrigkeit im Wochenbett [9]. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Stillen bzw. Ernährung im ersten Lebensjahr ist darüber hinaus von Nöten, da es sich hierbei um einen der häufigsten Beratungsanlässe im Wochenbett handelt neben gesundheitlichen Fragen zum Kind [6]. Gleichzeitig ist die Stillförderung ein zentraler Punkt für die Verbesserung der Gesundheit von Mutter und Kind [16]. FÄAM können durch eine kompetente und evidenzbasierte Beratung einen wesentlichen Beitrag zu einer intakten Stillbeziehung leisten [17]. Um den präventiven Ansatz der Wochenbettbesuche zu erhalten, müssten FÄAM zudem ein Grundverständnis der physiologischen Umstellungsprozesse der Wöchnerinnen und der Neugeborenen sowie der gesamten Familie haben.

Stärken und Schwächen

Eine der Stärken dieser Arbeit ist die Beteiligung von Hebammen aus ländlichen wie städtischen Regionen inklusive von Hebammen, die auf Inseln oder in Großstädten arbeiten. Gleichzeitig konnte eine Hebammenwissenschaftlerin als Zweitkodiererin gewonnen werden.
Eine Schwäche dieser Arbeit ist, dass methodisch bedingt die Ergebnisse nicht ohne Limitationen generalisiert werden können. Es ist nicht auszuschließen, dass vor allem hochmotivierte Hebammen an der Studie teilgenommen haben, weswegen ein Selection Bias möglich ist. Des Weiteren wurden lediglich Hebammen aus dem Raum Schleswig-Holstein befragt.

Fazit für die Praxis

  • Angehende Fachärzte/Fachärztinnen für Allgemeinmedizin sollten im Rahmen ihrer Facharztweiterbildung Kenntnisse über Rückbildungsvorgänge der Mutter sowie die Entwicklung und Ernährung des Kinds im ersten Lebensjahr erhalten, z. B. über Seminare der Kompetenzzentren Weiterbildung Allgemeinmedizin.
  • Psychosoziale Beratungsanlässe machen ein Großteil der Wochenbettberatung aus und könnten z. B. im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung mit thematisiert werden.
  • Eine wertschätzende Grundhaltung, Zeit, Empathie sowie eine gute Zusammenarbeit mit Hebammen und anderen Fachrichtungen sind Grundvoraussetzungen für die Versorgung von Familien im Wochenbett.

Danksagung

Wir bedanken uns recht herzlich bei allen interviewten Hebammen. Ein weiterer Dank geht an Prof. Dr. Ruth Martis (Hebammenwissenschaftlerin) für die Unterstützung bei der Analyse der Interviews.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

J. Knobloch-Maculuve und J. Steinhäuser geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Studie wurde am 27.04.2016 von der Ethik-Kommission der Universität zu Lübeck bewilligt (Nr.:16-014).
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

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Fußnoten
1
Die Pseudonymisierung wurde durch die Merkmale L für Land oder S für Stadt ergänzt, um den Ort der Wochenbetttätigkeit deutlich zu machen.
 
Literatur
9.
Zurück zum Zitat Maculuve J, Steinhäuser J (2016) Versorgung von Familien im Wochenbett-was ein Hausarzt wissen sollte. Z Allg Med 92:408–413 Maculuve J, Steinhäuser J (2016) Versorgung von Familien im Wochenbett-was ein Hausarzt wissen sollte. Z Allg Med 92:408–413
10.
Zurück zum Zitat Mayring P (2022) Qualitative Inhaltsanalyse, Grundlagen und Techniken, 13. Aufl. Beltz, Weinheim Basel, S 49–107 Mayring P (2022) Qualitative Inhaltsanalyse, Grundlagen und Techniken, 13. Aufl. Beltz, Weinheim Basel, S 49–107
12.
Zurück zum Zitat Büthe K (2023) Evidenzbasierte Wochenbettpflege, Eine Arbeitshilfe für Hebammen im Praxisalltag, 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart, S 15CrossRef Büthe K (2023) Evidenzbasierte Wochenbettpflege, Eine Arbeitshilfe für Hebammen im Praxisalltag, 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart, S 15CrossRef
17.
Zurück zum Zitat Bruni C, Steinhäuser J (2014) Beratungsanlass „Fragen zum Stillen“-was jeder Hausarzt wissen sollte. Z Allg Med 90:424–427 Bruni C, Steinhäuser J (2014) Beratungsanlass „Fragen zum Stillen“-was jeder Hausarzt wissen sollte. Z Allg Med 90:424–427
Metadaten
Titel
Versorgung von Familien im Wochenbett – eine qualitative Studie
verfasst von
Joana Knobloch-Maculuve
Jost Steinhäuser
Publikationsdatum
05.04.2024
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Zeitschrift für Allgemeinmedizin
Print ISSN: 1433-6251
Elektronische ISSN: 1439-9229
DOI
https://doi.org/10.1007/s44266-024-00184-x

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