In der ambulanten Patientenversorgung in Deutschland besteht bei Antibiotikaverordnungen für gängige Infektionskrankheiten Optimierungspotenzial, um der Entwicklung von Antibiotikaresistenzen und Risiken durch Nebenwirkungen entgegenzuwirken. Dies betrifft auch Hausarztpraxen. Ein Verordnungsfeedback zeigte in internationalen Studien Potenzial, ist aber in Deutschland kaum etabliert. Ziel dieser qualitativen Studie war es, die Einflüsse von situativen und systembedingten Faktoren auf das Antibiotikaverordnungsverhalten von deutschen Hausärztinnen und Hausärzten zu untersuchen. Ein Fokus lag dabei auf Leitlinien sowie dem Einsatz von Verordnungsfeedbacks.
Methoden
Es wurden 11 Leitfadeninterviews geführt, transkribiert und in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz ausgewertet. Zur Qualitätssicherung wurde sich an den COREQ-Kriterien („consolidated criteria for reporting qualitative research“) von Tong et al. orientiert.
Ergebnisse
Die Ergebnisse weisen auf eine Diskrepanz zwischen Absicht und tatsächlichem Handeln („intention–behaviour gap“) als mögliche Ursache inadäquater Verordnungen trotz eines hohen Problembewusstseins hin. Diese wird durch unterschiedliche im Praxisallalltag auftretende Spannungsfelder begünstigt. Es wurde eine hausärztliche Kultur der Autonomie deutlich, die bei bestehenden Freiheiten und Belastungen über verschiedene innere Prozesse und Erfahrungen eine Ambivalenz zum Verordnungsfeedback zu begünstigen scheint. Davon lassen sich auch Ansatzpunkte zur Begegnung von Resistenzen sowie Implikationen für Akzeptanzkriterien eines möglichen Feedbacks ableiten. Insbesondere die Skepsis gegenüber Vergleichsdarstellungen im Sinne einer „peer comparison“ verdeutlicht eine Assoziation externer Rückmeldungen mit Maßregelungen und legt einen ein „Peer-based“-Ansatz mit Betonung der kollegialen und individuellen Unterstützung nahe.
Schlussfolgerungen
Künftige Untersuchungen sollten beide Ansätze gegenüberstellen und eine mögliche Integration prüfen. Ferner sollte das Ausmaß tatsächlicher auffälliger Verordnungen und der „intention–behaviour gap“, z. B. in gemischt quantitativ-qualitativen Untersuchungen, genauer abgeschätzt werden.
Die Verordnung von Antibiotika muss notwendigerweise sorgfältig und passgenau erfolgen, um einerseits den gewünschten Behandlungserfolg zu erzielen und andererseits die Induktion unerwünschter Nebenwirkungen und Resistenzentwicklungen zu vermeiden. In Deutschland, wie weltweit, gilt es daher, die Anwendung von Antibiotika auf das notwendige Minimum zu begrenzen und ihre Einnahmepraxis zu optimieren.
Hintergrund
Ein großer Teil (etwa 65 %) der in der ambulanten Humanmedizin in Deutschland verordneten Antibiotika entfallen auf den hausärztlichen Bereich. Trotz eines im europäischen Vergleich eher niedrigen Antibiotikaverbrauchs bestehen auch in dieser Facharztgruppe Hinweise auf weiteres Verbesserungspotenzial [1]. Dieses wird für die gängigen, in Hausarztpraxen vorkommenden Infektionserkrankungen beschrieben, darunter die akute Bronchitis, Rhinosinusitis, Tonsillopharyngitis, akute Otitis media [2] sowie Harnwegsinfektionen [3]. Der unsachgemäße Einsatz von Antibiotika begünstigt einerseits die Zunahme von Antibiotikaresistenzen, laut World Health Organisation (WHO) eine der größten Bedrohungen für die globale Gesundheit. Für den ambulanten Bereich konnten teils nachhaltige Resistenzentwicklungen im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Antibiotika gezeigt werden [4]. Andererseits sind die Patienten einem erhöhten Risiko von Nebenwirkungen ausgesetzt, z. B. bei dem Gebrauch von Fluorchinolonen (u. a. Sehnenrupturen) und Cephalosporinen (u. a. Clostridium-difficile-Infektionen; [5]).
Zahlreiche internationale Studien weisen auf eine komplexe Beeinflussung des Verschreibungsverhaltens hin. Identifiziert wurden dabei Einflussfaktoren sowohl auf individueller, interpersoneller, organisatorischer und politischer Ebene [6]. Insbesondere die Arzt-Patient-Interaktion und der Umgang mit Erwartungshaltungen, aber auch Verschreibungsdruck, Unsicherheiten auf Seiten des Arztes, ökonomische Anreize und wahrgenommene Spannungen zwischen Leitlinienempfehlungen und Praxisalltag wurden identifiziert [7‐9]. Übersichtsarbeiten zu verschiedenen Interventionen zur Optimierung des Verschreibungsverhaltens, wie Schulungen für Ärzte, Informationsmaterial für Patienten oder Verordnungsfeedback, zeigten insgesamt kein eindeutiges Bild zugunsten einer einzelnen Intervention [10, 11]. Einzig der Einsatz multimodaler gegenüber Einzelinterventionen scheint überlegen zu sein [10]. Gleichzeitig geben qualitative Studien Hinweise auf eine hohe Skepsis von Hausärztinnen und Hausärzten gegenüber Leitlinien bei gleichzeitiger Angabe einer häufigen Nutzung [12].
Verordnungsfeedback als mögliche Intervention zur Rückmeldung der eigenen Leitlinienadhärenz wird in einigen jüngeren Arbeiten Potenzial zugeschrieben [13], ist aber in Deutschland auch mangels verfügbarer Rückmeldesysteme bislang kaum etabliert. Weiterhin fehlen im ambulanten Setting routinemäßige Angebote im Sinne einer „Antibiotic Stewardship“.
Trotz der zahlreichen Studien zu Einflussfaktoren auf das Verschreibungsverhalten und zur Begegnung der Resistenzproblematik, lassen sich mit Blick auf den hausärztlichen Alltag in Deutschland keine eindeutigen Ansatzpunkte und Strategien zur Begegnung der Resistenzproblematik identifizieren. Insbesondere die Sicht von Hausärztinnen und Hausärzten selbst auf die Thematik ist hier von Wichtigkeit, die bislang existierenden qualitativen Erhebungen stammen meist aus dem englischsprachigen Raum und decken insbesondere das Thema Verordnungsfeedback unzureichend ab. Ziel dieser Studie war es, weitere Meinungen, Erfahrungen und Einschätzungen zu Einflüssen von situativen und systembedingten Faktoren bei Antibiotikaverordnungen, Leitlinien sowie insbesondere zum Einsatz von Verordnungsfeedbacks als mögliche Intervention zu erhalten. Sie wurde im Kontext der REDARES-Studie (www.redares.de) durchgeführt und eine qualitative Studie zur Machbarkeit und Akzeptanz im Vorfeld der Intervention hatte ein heterogenes Bild bezüglich der Perzeption eines Verordnungsfeedbacks ergeben. Daher waren zur Entwicklung des Verordnungsfeedbacks der Intervention zielgerichtete Untersuchungen nötig [14].
Methodik
Ein positives Ethikvotum wurde im Februar 2020 (Ethikkommission Freiburg 55/20) erteilt. Es wurden 11 leitfadengestützte Interviews durchgeführt und in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz ausgewertet [15].
Leitfaden
Der Leitfaden beinhaltete neben Fragen zum Verordnungsfeedback auch Fragen zu Strategien und zum Vorgehen bei Antibiotikaverschreibungen, der Einstellung zu Leitlinien und Ideen zum Umgang mit dem Thema Antibiotikaresistenzen (Annex 1 im Zusatzmaterial online). Die Interviewten erhielten außerdem ein Dokument mit grafischen Beispielen von Verordnungsfeedbacks (Annex 2 im Zusatzmaterial online). Die darin enthaltenen Beispiele wurden eigens für das Interview erstellt und orientierten sich an Mustern von Verordnungsfeedbacks aus Schweden, Deutschland und Großbritannien. Der Leitfaden wurde im Rahmen eines Probeinterviews getestet und für die weiteren Interviews modifiziert.
Stichprobe
Eingeschlossen wurden Ärztinnen und Ärzte mit Berufserfahrung in der allgemeinmedizinischen Praxis. Die Rekrutierung erfolgte schrittweise per E‑Mail über einen Verteiler an die etwa 200 Lehrpraxen des Instituts für Allgemeinmedizin sowie durch persönliche Kontakte. Es konnten auf diese Weise 11 Probandinnen und Probanden mit heterogenen Merkmalen bezüglich Geschlechts, Alter, Berufserfahrung und aktueller Tätigkeit rekrutiert werden (Tab. 1).
Tab. 1
Verteilung soziodemografischer Merkmale in der Stichprobe bei n (gesamt) = 11
Geschlecht
Weiblich
5
Männlich
6
Alterskategorie
30–39 Jahre
1
40–49 Jahre
3
50–59 Jahre
3
60–70 Jahre
4
Dauer der Tätigkeit als Arzt
< 5 Jahre
1
10–14 Jahre
2
> 20 Jahre
8
Ärztliche Tätigkeit in
Eigener Praxis
5
Gemeinschaftspraxis
3
Sonstiges
3 (Anstellung, Arzt in Weiterbildung, Praxistätigkeit in Planung)
Dauer der Tätigkeit in der Niederlassung
< 5 Jahre
2
5–9
1
10–14
1
15–19
3
> 20
4
Interviewdurchführung
Den Probandinnen und Probanden wurde eine Interviewdurchführung in Präsenz oder per Telefon angeboten, von allen wurde eine telefonische Durchführung bevorzugt. Die digital aufgezeichneten Interviews fanden zwischen April und Mai 2020 statt und hatten eine durchschnittliche Dauer von 52 min. Das Probeinterview konnte aufgrund seiner Qualität in die Auswertung eingeschlossen werden. Nach Feststellung einer theoretischen Sättigung wurde auf eine Nachrekrutierung verzichtet.
Transkription und Auswertung
Transkribiert wurde mit Transkriptionsregeln im Sinne einer inhaltlich-semantischen Transkription in Anlehnung nach Drehsing und Pehl [16] sowie Kuckartz [15]. Anschließend erfolgte eine Auswertung in Anlehnung an die qualitative Inhaltanalyse nach Kuckartz [15]. Es erfolgte eine gemischt deduktiv-induktive Kategorienbildung mit Codierung der Transkripte sowie mit mehrfachem Überprüfen, Umstellen und Erweitern des bestehenden Kategoriensystems und Rückbezug auf den Originaltext. Transkription und Textarbeit wurden mithilfe des Programmes MAXQDA (VERBI, Berlin, Deutschland) durchgeführt. Eine vorläufige Version des Kategoriensystems wurde mit 2 weiteren Forscher*innen diskutiert, von denen eine die kompletten anonymisierten Transkripte gelesen hatte. Nach einer weiteren Ausdifferenzierung und Schärfung des Abstraktionsgrads erfolgte die endgültige Festlegung auf das Kategoriensystem sowie die Ergebnisdarstellung. Zur Qualitätssicherung orientierten sich die Autoren während des gesamten Forschungsprozesses an der COREQ-Checkliste von Tong et al. [17].
Ergebnisse
Es wurden im Rahmen der Auswertung mehrere Hauptkategorien und daran 2 übergreifende Hauptthemen identifiziert, die aufgrund der offenen Herangehensweise des qualitativen Ansatzes nicht nur Antworten auf die ursprüngliche Fragestellung geben, sondern auch weitere Aspekte beleuchten:
Problembewusstsein und Hürden sowie „intention–behaviour gap“
Es zeigte sich ein hohes Bewusstsein hinsichtlich der Ernsthaftigkeit der Resistenzproblematik und der Notwendigkeit einer rationalen Antibiotikatherapie. Leitlinien wurden überwiegend als Aspekt der evidenzbasierten Medizin ernst genommen. Gleichzeitig wurden verschiedene Spannungsfelder deutlich, die im situativen Handeln des Praxisalltags eine leitliniengerechte Entscheidung erschweren können. Dazu gehört die Anforderung, oft unter pragmatischen Gesichtspunkten verantwortungsvolle Lösungen für die Versorgung individueller Patienten zu finden. Ferner wurden kontraproduktive Bedingungen in Bezug auf Gesprächszeit, Vergütungsfragen und Labordiagnostik verdeutlicht.
Des Weiteren können im Umgang mit Erwartungshaltungen Spannungen in der Arzt-Patient-Interaktion entstehen, die auf Grenzen von Kommunikationsstrategien stoßen. Verordnungen entgegen der Leitlinie können so auch als Ergebnis einer „intention–behaviour gap“ eingeordnet werden, wenn sie trotz des grundsätzlichen Willens zur rationalen Therapie, möglicherweise teils auch entgegen der eigenen Überzeugung, getätigt werden (Abb. 1).
×
Kultur der Autonomie und Einstellung zum Verordnungsfeedback
Autonomie als Kulturmerkmal der meist selbständig tätigen deutschen Hausärztinnen und Hausärzte reflektiert nicht nur einen Arbeitsmodus und eine Voraussetzung für Freiheiten, sondern auch für Herausforderungen und Belastungen (Abb. 2). Dies bedingt ein Handeln im Konflikt zwischen sich teilweise widersprechenden Interessen: medizinische und wissenschaftliche Aspekte, Patientenwunsch, ökonomischer Druck und Verantwortlichkeit. So entsteht stellenweise auch der Eindruck des „Alleingelassenwerdens“. Zur Schonung eigenen Ressourcen (ökonomisch, zeitlich oder Widerstandskraft/psychisch) können so Entscheidungen, wie das Ausstellen von Rezepten trotz unklarer oder fehlender Indikation, aufgrund von Pragmatismus, Zeitdruck oder mangelnder Vergütung begünstigt werden. Das auf sich selbst gestellte Arbeiten scheint weiterhin eine Bildung von nichthinterfragten Verordnungsgewohnheiten zu fördern.
×
Dies wurde beispielsweise an einer beklagten Unverbindlichkeit hinsichtlich der Qualitätssicherung einer rationalen Antibiotikatherapie oder bei den auf Freiwilligkeit basierenden Fortbildungen deutlich. Während umgekehrt der ärztlichen Eigenverantwortung eine umso höhere Rolle zukommt, scheint diese ein selbstbewusstes Agieren zu fordern und zu fördern. Letzteres erklärt einen Teil der gezeigten ambivalenten Haltung der Teilnehmenden zum Thema Verordnungsfeedback gemeinsam mit dem Umstand, dass ein Verordnungsfeedback in Deutschland bislang am ehesten von Krankenkassen oder der kassenärztlichen Vereinigung bekannt und mit wirtschaftlichen Interessen oder Regressandrohungen assoziiert ist.
Auch bei vielen grundsätzlich offenen Einstellungen gegenüber einem Verordnungsfeedback zeigte sich dennoch eine Ambivalenz anhand von Skepsis und Kritikpunkten, die auf einen hohen Anspruch hinsichtlich eines möglichen Verordnungsfeedbacks hinweisen. Es zeigten sich Zweifel an der angemessenen und glaubwürdigen Erfassbarkeit der komplexen Entscheidungen der Alltagsrealität als Grundlage für ein Verordnungsfeedback, wofür in Deutschland entsprechende Strukturen und Messinstrumente fehlen. Die Skepsis hinsichtlich einer „fairen“ Rückmeldung bestätigt sich auch in tendenziell kritischen Äußerungen zu Feedbackdarstellungen mit Vergleichseinordnungen. Hier wurde unter anderem angezweifelt, ob diese der Unterschiedlichkeit der Hausarztpraxen mit ihren verschiedenen Spezialisierungen und Patientenstrukturen oder einer tatsächlich rationalen Verordnungspraxis gerecht werden könnten. Auch datenschutzrechtliche Aspekte wurden, insbesondere bei Beispielen ohne Anonymisierung, die bewusst in die Grafikbeispiele integriert wurden, kritisiert. Diese werden eindeutig abgelehnt. Weiterhin wurde eine Konzentration auf die Verbesserung eigener Fertigkeiten unabhängig vom Verhalten der Kollegen betont. Ferner wird deutlich, dass Grafiken mit schneller und eindeutiger Erfassbarkeit sowie mit Lehrinformationen/Verbesserungsvorschlägen bevorzugt würden.
Eine Verpflichtung zur Teilnahme bzw. zum Erhalt eines Verordnungsfeedbacks wurde wegen bereits vorhandener Verpflichtungen, Druck und Zeitrestriktionen, der Ablehnung von Maßregelungen sowie der Annahme, davon nicht profitieren zu können, überwiegend abgelehnt.
Diskussion
Die Ergebnisse legen nahe, dass inadäquate Verordnungen trotz eines hohen Problembewusstseins als Ergebnis einer „intention–behaviour gap“ eingeordnet werden können, die durch unterschiedliche im Praxisallalltag auftretende Spannungsfelder begünstigt wird. Es wurde eine hausärztliche Kultur der Autonomie deutlich, die neben Freiheiten auch Belastungen hervorbringt und durch verschiedene innere Prozesse und Erfahrungen eine Ambivalenz zu Verordnungsfeedback zu begünstigen scheint.
Limitationen dieser Studie ergeben sich vor allem aus der kleinen und überwiegend akademisch angebundenen Zahl befragter Ärztinnen und Ärzte, die nur für einen kleinen Teil der hausärztlichen Grundgesamtheit sprechen. Weiterhin fehlte mit der Beschränkung auf eine rein qualitative Untersuchung die Möglichkeit, die Ergebnisse in Verbindung mit dem tatsächlichen Verordnungsverhalten zu bringen. Ferner wurde die Perspektive von weiteren Beteiligten (Patienten oder weitere Berufsgruppen) nicht berücksichtigt.
Die beschriebenen Spannungsfelder (insbesondere im Arzt-Patient-Umgang sowie durch problematische finanzielle Bedingungen) wurden bereits in mehreren qualitativen Studien beschrieben und finden sich auch in den zuvor aus internationalen Studien bekannten komplexen Einflussfaktoren auf das Verschreibungsverhalten wieder [7]. In dieser Studie fiel vor allem das Thema „intention–behaviour gap“ ins Auge. Ähnliches zeigte sich in einer qualitativen Erhebung von Poss-Doering et al. [18]. Es stellt sich also die Frage, worauf das beschrieben Optimierungspotenzial bei Antibiotikaverordnungen bei gleichzeitig hohem Problembewusstsein zurückzuführen sein könnten. Möglicherweise könnte der Effekt der „intention–behaviour gap“ unterschätzt werden oder es entfällt ein Großteil der Verordnungen auf einen Anteil weniger pflichtbewusster Praxen, sog. Hochverschreiber, wie von Zweigner et al. ausgeführt [19]. Möglicherweise werden die beschriebenen hohen Verordnungszahlen der hausärztlichen Realität nicht gerecht und es wären detaillierte Untersuchungen zur Objektivierung von tatsächlich laut Leitlinien (nicht) korrekten Verordnungen nötig, beispielsweise in Form von direkten Beobachtungsstudien oder in Mixed-methods-Ansätzen.
Die dargestellte Kultur der Autonomie findet auch anderenorts Beschreibung, scheint in Deutschland unter anderem historisch begründet und gerade erst im Rollenwandel begriffen zu sein [20]. Auch die in dieser Studie gezeigte Skepsis gegenüber Leitlinien und evidenzbasierter Medizin ist hiermit in Verbindung zu bringen. Weiterhin wird an den gezeigten Belastungen der Entscheidungsfindung, teils gepaart mit diagnostischer Unsicherheit, teils an den Grenzen des „Shared Decision-Making“, ein Bedarf an Unterstützung deutlich, hier wurden in der Vergangenheit Kommunikationstrainings vorgeschlagen [21]. Diese Studie erlaubt, das Ausmaß einer solchen Kultur der Autonomie auf das Verordnungsverhalten, die Einstellung zu Leitlinien sowie die Haltung gegenüber einem Verordnungsfeedback und weiteren Maßnahmen zur Begegnung der Resistenzproblematik zu verstehen und Zusammenhänge einzuordnen.
Innerhalb der gezeigten Ambivalenz gegenüber einem Verordnungsfeedback, den Zweifeln an der Erstellbarkeit eines glaubwürdigen Feedbacks und der Ablehnung von Vergleichen spiegelt sich auch ein Misstrauen gegenüber extern erstellten Maßnahmen zum Qualitätsmanagement innerhalb einer von Autonomie geprägten Arbeitskultur. Es ergeben sich Hinweise auf eine Kultur innerhalb der hausärztlichen Versorgung in Deutschland, die aus dem Blickwinkel der Selbstständigkeit zunächst die Schädigung des Individuums (finanziell/Image) durch ein Verordnungsfeedback befürchten lässt und ein „Schonen der eigenen Reserven“ im Sinne eines Selbstschutzes bedeutsam macht. Ein Verordnungsfeedback müsste also am ehesten mit Rücksicht auf diese Kultur gestaltet werden, um akzeptiert und ernst genommen zu werden. Denkbar ist dazu ein „Peer-based“-Ansatz, bei dem ein Verordnungsfeedback auf kollegialer, möglicherweise auch lokaler Eben erstellt würde (z. B. im Rahmen von Qualitätszirkeln). Ein solcher Ansatz war beispielsweise bei Vervloet et al. in einer multimodalen Intervention bereits erfolgreich [22]. Die Wichtigkeit des Einbezugs von Hausärztinnen und Hausärzten bei Interventionen für ihre Akzeptanz zeigte sich bei Kuehlein et al. [23]. Ein „Peer-based“-Ansatz scheint allerdings in Kontrast zu jüngst erfolgreichen Interventionen zu stehen, die die hier abgelehnte „peer comparison“ nutzten [13, 24]. Weiterhin stellt sich die die Frage, ob gerade innerhalb dieser autonomen Kultur ein Verordnungsfeedback als Rückmeldung neben anderen Maßnahmen nötig wäre.
Basierend auf der Erkenntnis, dass multimodale Interventionen aufgrund der komplexen Einflussfaktoren auf das Verschreibungsverhalten als erfolgsversprechender gelten als Einzelinterventionen [10], sollte ein Verordnungsfeedback idealerweise Teil multimodaler Konzepte im Sinne einer „Antibiotic Stewardship“ sein [25]. Dieses Vorgehen zeigte sich beispielsweise in Australien bereits erfolgsversprechend und enthält das Konzept des „nudge“, unter dem man Maßnahmen versteht, die das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern können, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen.
Fazit für die Praxis
Zukünftige Studien sollten das Ausmaß tatsächlicher auffälliger Verordnungen und der „intention–behaviour gap“ genauer abschätzen, z. B. in gemischt quantitativ-qualitativen Untersuchungen.
Multiperspektivische Untersuchungen sollten die Ansichten von Patientinnen und Patienten sowie weiterer Berufsgruppen einschließen.
Ein „Peer-based“-Ansatz beim Verordnungsfeedback sollte den jüngst erfolgreichen Ansätzen mit „peer comparison“ gegenübergestellt und eine Integration beider Ansätze geprüft werden.
Idealerweise sollte das Feedback in multimodale Konzepte im Sinne einer „Antibiotic Stewardship“ integriert werden.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
A. Mentzel und A. Maun geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen oder an menschlichem Gewebe wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Ein positives Ethikvotum wurde im Februar 2020 (EK Freiburg 55/20) erteilt. Von allen beteiligten Patient/-innen liegt eine Einverständniserklärung vor.
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