Trotz vieler Jahre Diskussion und Erforschung des Konstrukts Wohlbefinden in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen existiert keine einheitliche und allgemeingültige Definition des Begriffs Wohlbefinden. So besteht kein Konsens darüber, aus welchen Komponenten sich das Wohlbefinden zusammensetzt (für eine ausführliche Diskussion und Herleitung des Konstrukts Wohlbefinden s. insbesondere [
19]). Allgemein wird das Wohlbefinden als ein subjektives, mehrdimensionales Konstrukt definiert [
19], welches positive Kognitionen, d. h. Einstellungen, Haltungen, Meinungen und Bewertungen (bspw. Zufriedenheit) und Emotionen wie Gefühle und Empfindungen (bspw. Freude, Optimismus) sowie die Abwesenheit von negativen Kognitionen (bspw. sich Sorgen zu machen), Emotionen (bspw. Traurigkeit, Ärger) und psychosomatischer und/oder körperlicher Beschwerden (bspw. Bauchschmerzen im Unterricht), umfasst [
19,
21]. Einzelne Komponenten des Wohlbefindens sind teilweise aber nicht ausschließlich kognitiven bzw. affektiven Anteilen des Wohlbefindens zuzuordnen. Dabei ist Wohlbefinden immer kontextbezogen, different nach Lebensphasen, habituell sowie temporär [
19]. Kontextbezogen bedeutet, dass je nach Lebensbereich (bspw. Schule, Familie oder Freunde) das Wohlbefinden unterschiedlich ausgeprägt sein kann, da die eigene Erlebnisqualität in unterschiedlichen Lebensbereichen variiert [
19]; bspw. stellt die allgemeine Lebenszufriedenheit die kognitive Bewertung der gesamten Lebensqualität dar und Schulzufriedenheit die kognitive Bewertung der schulischen Situation. Das schulische Wohlbefinden umfasst ebenso wie das allgemeine Wohlbefinden sowohl positive, d. h. eine positive Gefühlshaltung gegenüber der Schule, Empfinden von Freude im Schulalltag und schulisches Selbstbewusstsein der Schüler*innen, als auch negative Komponenten, d. h. Sorgen, physische Beschwerden und soziale Probleme aufgrund bzw. in der Schule [
21]. Das Selbstkonzept ist ebenfalls ein multidimensionales Konstrukt, welches kognitiv-evaluative sowie affektive Aspekte (Selbstwertgefühl) umfasst [
37], und hinsichtlich einzelner Aspekte Überschneidungspunkte zum Konstrukt des Wohlbefindens aufweist [
12]. Im Allgemeinen bezieht sich das Selbstkonzept auf die individuelle Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, welche im Wesentlichen durch einen Vergleich mit anderen entwickelt wird [
37]. Das akademische Selbstkonzept wird insbesondere durch sog. Referenzgruppeneffekte beeinflusst, bei welchen Schulkinder ihre selbst wahrgenommenen Leistungen oder Schulnoten mit den Schulnoten und wahrgenommenen Leistungen anderer Schulkinder in einzelnen Leistungsbereichen vergleichen [
38]. Außerdem ist es wahrscheinlich, dass soziale Vergleiche Schulkinder dazu veranlassen, ihre akademischen Kompetenzen in Frage zu stellen, sich in ihrem Selbstwertgefühl bedroht zu fühlen und ihre schulischen Leistungen im Vergleich zu Schulleistungen Gleichaltriger als weniger kompetent einzuschätzen [
59]. Dieser Effekt, dass Schulkinder – trotz ihrer gleichen individuellen Leistungsfähigkeit – ein geringeres akademisches Selbstkonzept in Schulklassen haben, in denen das durchschnittliche Leistungsniveau der Klassenkamerad*innen hoch ist bzw. ein höheres Selbstkonzept in Schulklassen haben, in denen das durchschnittliche Leistungsniveau niedriger ist, wird auch als Big-fish-little-pond-Effekt bezeichnet [
37].
Klassenwiederholung als kritisches Ereignis für das Wohlbefinden
In Deutschland geben 18,1 % der 15-jährigen Schulkinder an, eine Klasse wiederholt zu haben [
44]. Die Rate an Klassenwiederholungen unterscheidet sich zwischen den Schulformen deutlich zu Ungunsten von Haupt- und Realschulen (2016/17: 4,7 % Hauptschule, 4,3 % Realschule, 3,4 % Schulen mit mehreren Bildungsgängen, 2,1 % Gymnasium [
57]).
Eine Klassenwiederholung erfolgt u. a. aufgrund einer Nichtversetzung wegen des Nichterreichens der grundlegenden Lernziele eines Jahrgangs in mehreren Schulfächern [
53] oder einer freiwilligen Wiederholung [
56]. Eine Rückversetzung ist das Jahr vor der eigentlichen Klassenwiederholung, in welcher bspw. die Lernziele nicht erreicht wurden und folglich die Entscheidung der Klassenwiederholung getroffen wird. Weiterhin besteht die Option eines Schul
formwechsels in Form einer Auf- oder Abwärtsmobilität, um die früh getroffene Entscheidung über die weiterführende Schulform am Ende der Grundschule korrigieren zu können und Kindern bei verändertem Leistungsverhalten andere Bildungswege offen zu halten [
43].
Die Lebenslauf- und schulische Transitionsforschung bezeichnet normative Übergänge als kritische Ereignisse [
14,
15], an denen sich ge- oder misslingende Schulkarrieren von Schulkindern manifestieren können [
17]. Als kritisch werden solche Ereignisse bezeichnet, welche durch Veränderungen der (sozialen) Lebenssituation gekennzeichnet sind [
15]. So stellt auch der Wechsel von der Grund- zur weiterführenden Schule eine Veränderung des (sozialen) schulischen Umfeldes dar, welches bspw. durch neue Peers, Lehrpersonen aber auch andere Lehr-Lern-Methoden geprägt ist [
41]. Die Bewältigung des Ereignisses bedingt, ob der Übergang zum kritischen Ereignis wird, d. h. wie die Person den Anforderungen begegnet, das Ereignis wahrnimmt, bewertet und bewältigt [
15]. Eine positive Affektivität in der Auseinandersetzung mit kritischen Ereignissen kann die Bewältigung des Ereignisses erleichtern und auf der anderen Seite kann negative Affektivität als ein Risikofaktor bei der Bewältigung wirken [
15]. Kritische Ereignisse, wie auch eine nicht-normative Transition, gehen meist mit Anpassungsaufgaben
1 [
18,
55], aber auch Entwicklungs- und Lernchancen
2 einher [
4,
36]. So kann bspw. eine Schullaufbahnentscheidung, eine Klassenwiederholung, eine Auf- bzw. Abschulung und ein damit einhergehender Wechsel des schulischen Umfeldes einen Karrieresprung oder Abstieg markieren [
10]. Es zeigt sich, dass Schulkinder mit bestimmten vertikalen und horizontalen Ungleichheitsmerkmalen widerstandsfähiger (resilienter)
3 oder verletzlicher (vulnerabler) hinsichtlich der Auseinandersetzung mit potenziell entwicklungsprägenden, also kritischen Ereignissen, sind [
5,
35]. Diese (erfolgreichen) Adaptionsprozesse an ein neues (soziales) schulisches Umfeld, sind bedeutend für die individuelle Bildungsbiografie von Schulkindern [
15,
17]. Darüber hinaus kann der Übergang auch langfristig (d. h. über die Schulzeit hinweg) für das Wohlbefinden Heranwachsender von Bedeutung sein [
51,
64].
Die Bedeutung des Übergangs für das Wohlbefinden ist insofern relevant, da neben der schulischen Leistung das Wohlbefinden im Schulalter als eine zentrale Einflussgröße für das Gelingen in der Schule gilt [
47]. So gehen positive Emotionen häufig mit einer Leistungssteigerung sowie Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Informationen einher und scheinen zu einer „Aufwärtsspirale des Wohlbefindens“ beizutragen [
15]. Ebenso kann bspw. eine hohe Lebenszufriedenheit, als Teil des allgemeinen Wohlbefindens, als eine Art Resilienzfaktor gegenüber auffälligem Verhalten des Kindes dienen [
45]. Schüler*innen, welche die Schule mit positiven Emotionen verbinden, können eher die schulischen Anforderungen erfüllen [
19]. Folglich hat das Wohlbefinden aus einer salutogenetischer Perspektive heraus eine Präventionsfunktion, denn es kann als eine Ressource für den Umgang mit Schule verstanden werden [
20]. Weiterhin ist das Wohlbefinden ein Indikator für eine positive Bewertung des schulischen Umfelds [
20]. Zwar ist das Wohlbefinden kein Prädiktor für schulische Leistungen, jedoch – im Sinne einer Bildungsfunktion – eine notwendige kognitive und emotionale Grundlage, durch welche erfolgreiches Lernen möglich ist [
20].
Für die schulischen Leistungen zeigte sich, dass eine Klassenwiederholung nur in geringem Maße und kurzfristig zu einer Verbesserung der Schulleistung des Schulkindes führt [
54,
65]. Andere Evidenz deutetet darauf hin, dass eine Klassenwiederholung keine oder sogar negative Effekte für die Leistungen der wiederholenden Schulkinder hat [
13,
27,
29]. Des Weiteren kam eine Studie auf Basis des Nationalen Bildungspanels (NEPS) zu dem Schluss, dass Klassenwiederholungen sich weder langfristig positiv auf die Leistungsentwicklung, noch negativ auf die weitere Schul- und Berufsbiografie auswirken [
9].
Ergebnisse zur Bedeutung der Klassenwiederholung für das Wohlbefinden sind heterogen [
40,
65]. Für das allgemeine Wohlbefinden von Schulkindern zeigt sich ein Anstieg unmittelbar nach dem Ereignis der Klassenwiederholung [
39,
65]. Für das schulische Engagement und das Selbstwertgefühl der Schulkinder wurden negative Effekte nach einer Klassenwiederholung in der Sekundarstufe I aufgezeigt [
39,
40]. Erste Längsschnittanalysen zur Veränderung der Schul- und Lebenszufriedenheit um Rückversetzung und Klassenwiederholung verdeutlichen einen kurzfristigen negativen Effekt im Jahr der Rückversetzung, jedoch wurde in den ersten Jahren danach im Schnitt ein besseres Wohlbefinden als zuvor berichtet [
50,
62].
Schulkinder an Schulformen mit niedrigerem Bildungsabschluss wie der Hauptschule weisen – basierend auf deskriptiven Ergebnissen – ein durchschnittlich schlechteres Wohlbefinden auf als Gymnasiast*innen [
25] und wiederholen häufiger eine Klasse [
57]. Jedoch ist bei Schulkindern nach dem Übergang von der Grundschule an die Hauptschule im Gegensatz zu Gymnasiast*innen eine positive Veränderung in der Schulfreude [
61] und ein Anstieg der Schulzufriedenheit zu beobachten [
60]. Die Unterschiede zwischen den Schulformen verschwinden teilweise bei dem Versuch sie mittels Kompositions- und Institutionseffekten zu erklären [
2], unter Anwendung von Propensity-Score-Matching [
30] oder auch bei der längsschnittlichen Betrachtung mit Wachstumskurven im Laufe der Sekundarstufe 1 [
25]. Der Übergang an das Gymnasium ist in Deutschland weiterhin an die soziale Herkunft der Eltern geknüpft [
48] und zudem zeigen sich soziale Disparitäten in den schulischen Leistungen sowie der Bildungsaspiration [
3]. So weisen Gymnasiast*innen eine höhere Leistungsorientierung und Bildungsansprüche auf als Schulkinder anderer Schulformen [
32]. Der Umgang mit kritischen Ereignissen kann u. a. mit der Unterstützung durch das häusliche Umfeld zusammenhängen [
15]. So könnte die stärkere außerschulische Unterstützung, wie sie insbesondere an Realschulen, aber auch Gymnasien zu finden ist [
52], sich positiv auf die Bewältigung des Ereignisses der Klassenwiederholung auswirken.
Für Schulkinder, die bereits von einer weiterführenden Schule an eine andere Schule mit niedrigerem Bildungsabschluss wechselten, kann vermutet werden, dass diese weniger in der neuen Klasse überfordert sind und sich weniger mit Vergleichen sowie Konkurrenz zu sog. Referenzgruppen konfrontiert sehen [
7]. Denn das Wohlbefinden wird durch Faktoren des Umfelds, wie bspw. Unter- und Überforderung der Schulkinder, bestimmt und wie bereits ausgeführt, geht das Erleben von kritischen Lebensereignissen mit Anpassungsleistungen einher [
15,
21]. Bei Schulkindern, welche die Anpassungen an eine neue Lernumgebung bereits erlebt haben, könnte sich folglich das Wohlbefinden nach der Klassenwiederholung verbessern. In Bezug auf psychosomatische Beschwerden (u. a. Kopf- und Magenschmerzen, Nervosität) konnte im Sinne des Big-fish-little-pond-Effekts [
37] gezeigt werden, dass Schulkinder mit einem durchschnittlich schlechteren akademischen Selbstkonzept eine höhere Wahrscheinlichkeit für psychosomatische Beschwerden aufweisen, wenn sie eine Klasse mit einem höheren Anteil von Schulkindern mit einem guten bis sehr guten akademischen Selbstkonzept besuchen [
46]. So könnte vermutet werden, dass Schulkinder durch eine Klassenwiederholung ihr akademisches Selbstkonzept, als Teil des Wohlbefindens, im Umfeld der neuen Klasse besser einschätzen. Es ist jedoch anzunehmen, dass eine Abwärtsmobilität aufgrund oft langanhaltender Erfahrungen des Schulversagens sich negativ auf das Wohlbefinden von Schulkindern auswirken kann [
26].
Ziel dieses Beitrags ist es, anhand der Daten des NEPS längsschnittlich zu untersuchen, ob das Ereignis der Klassenwiederholung mit einer Veränderung im Wohlbefinden, differenziert nach Schulform sowie Ab- und Aufwärtsmobilität, einhergeht. Dabei verfolgt der Beitrag folgende Fragestellungen:
1.
Wie verändert sich das Wohlbefinden von Schulkindern vor, während und nach der Klassenwiederholung differenziert nach der besuchten Schulform?
2.
Wie verändert sich das Wohlbefinden von Schulkindern mit einem zusätzlich erlebten Wechsel der Schulform vor, während und nach der Klassenwiederholung?