Seit dem Erscheinen des ersten Hefts der Zeitschrift Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie vor rund 16 Jahren ist es gute Tradition geworden, die Hefte rund um ein aktuelles Schwerpunktthema zu gestalten. Sie bestehen gewöhnlich aus einer thematisch abgestimmten Mischung mit teilweise eingeladenen, teilweise frei eingereichten Beiträgen rund um das Schwerpunktthema, und das Ganze wird abgerundet mit einigen weiteren frei eingereichten Artikeln zu anderen Themenfeldern, den anregenden „Journal-Club“-Beiträgen und einem unterhaltsam-informativen „Blitzlicht“. Wo es Traditionen gibt, gibt es Ausnahmen. Die Gründe hierfür können vielfältig sein. Mitunter sind versäumte Deadlines eine Ursache, nicht zuletzt zu Pandemiezeiten. Gelegentlich passen auch eingeladene Beiträge dann doch nicht wie erwartet ins Themenheft, sondern besser zu einem späteren Schwerpunktthema oder sie erfordern eine umfangreichere Überarbeitung. Schließlich gibt es immer wieder Wellen frei eingereichter Manuskripte zu den unterschiedlichsten Themen. Auch sie wollen nach Peer-Review und Annahme zeitnah publiziert werden, und nicht immer passen sie zu einem der Schwerpunktthemen kommender Hefte.
Das aktuell vorliegende Haft stellt also eine Ausnahme dar, mit insbesondere frei eingereichten Beiträgen aus den unterschiedlichen Themengebieten. Es zeugt insoweit von der Breite und Vielfältigkeit bzw. der Diversität unseres Fachs. Dabei hätte man einen Schwerpunkt Vollzugsforschung formen können, stammen immerhin 6 Beiträge doch im weitesten Sinne aus dem Vollzugsbereich oder beschäftigen sich hiermit. Andererseits sind auch unter diesem Dach die Arbeiten inhaltlich sehr heterogen, sodass auch ihre Zusammenstellung eher für ihre inhaltliche Diversität steht, als dass sie ein homogenes Schwerpunktthema nahelegen würden. So widmen sich 2 Originalbeiträge der Behandlungsforschung. Hier geht die empirische Arbeit von Weber und Hosser der wichtigen Frage nach der Effizienz des auch hierzulande verbreiteten Reasoning-and-Rehabilitation-Programms (R&R) nach und reduziert damit eine Lücke der deutschsprachigen Evaluationsforschung spezifischer Behandlungsprogramme. Hartenstein et al. adressieren hingegen den Behandlungsauftrag an die Maßregel der Sicherungsverwahrung. Am Beispiel des Vorgehens in Sachsen ist ihr Vorschlag eine systematische Behandlungsevaluation auf der Grundlage der sorgfältigen Dokumentation individuell zugeschnittener Behandlungsziele, -pläne und -methoden. Die empirische Originalarbeit von Pülschen und Endres hat hingegen Gefangene mit Tötungsdelikten im Fokus und vergleicht aus verschiedenen theoretischen Blickwinkeln Täter mit weiblichen Opfern („Femizidtäter“) mit jenen, die männliche Opfer hatten („Virizidtäter“). Auch der Beitrag von Boksán et al. widmet sich Vergleichen von Teilgruppen strafgefangener Menschen. Hier stehen Opioidkonsumentinnen und -konsumenten im Zentrum, die im Hinblick auf mögliche Geschlechtsspezifika analysiert werden. Die Studie von Langenstück et al. untersucht das auch hierzulande in deutschsprachiger Adaption verbreitete Level of Service Inventory – Revised (LSI-R) in einem Sample von Maßregelvollzugspatienten in Entziehungseinrichtungen und vergleicht die Befunde mit den deutschen Strafgefangenennormen. In gewisser Weise ein Novum stellt schließlich der Debattenbeitrag von Thalmann dar, der sich der Frage widmet, ob und inwieweit der Behandlungsgedanke im Vollzug nicht mittlerweile Anzeichen von Überfrachtung und Übertreibung aufweist und eine Eigendynamik in Richtung einer zunehmend einseitigen Pathologisierung der Täter entfaltet. Es handelt sich insoweit um eine ältere soziologische Kriminaltheorien aufgreifende Streitschrift, und man darf auf die Reaktionen unserer Leser gespannt sein.
Immerhin 3 im weiteren Sinne eher kriminalpsychologisch bzw. kriminologisch ausgerichtete Heftbeiträge widmen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln dem aktuellen Thema Kinderpornografie. Die Übersichtsarbeit von Lehmann et al. bietet hier zunächst einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des Konsums von Missbrauchsabbildungen, die bisherigen Vorschläge ätiologischer Modelle hierzu und die bislang vorliegenden empirischen Befunde zum Phänomen. Die empirische Arbeit von Biedermann et al. zielt hingegen auf die Untersuchung von Alterseinflüssen der Täter auf verschiedene Hintergrundmerkmale in Fällen von internetbasiertem Kindesmissbrauch und Kinderpornografiekonsum. Körner et al. widmeten sich schließlich im Rahmen einer Online-Befragung dem Rechtswissen über den (aktuellen) Rechtstatbestand der Herstellung, des Besitzes und der Verbreitung kinderpornografischen Materials. Die Ergebnisse bestätigen internationale Erfahrungen, demnach das Rechtswissen im genannten Bereich auch in der deutschen Bevölkerung defizitär und die Verunsicherung entsprechend verbreitet ist.
Das Themenspektrum des vorliegenden Heftes wird abgerundet durch eine aussagepsychologische Übersichtsarbeit von Pfundmair und Gamer, die sich kritisch mit der immer wieder diskutierten These beschäftigt, inwieweit neurobiologische Befunde der Traumaforschung aussagepsychologische Methoden der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ergänzen, möglicherweise gar ersetzen können oder sollten. Den Abschluss bildet dann eine polizeipsychologische Arbeit, die das mathematische Modell stochastischer Prozesse auf die mögliche Entstehung von Gewalt im Rahmen der Interaktion zwischen Bürgern und Polizei überträgt. Analysiert werden vor diesem Hintergrund insbesondere polizeiimmanente potenziell gewaltfördernde Kommunikationsstile und -inhalte, auf deren Grundlage die Möglichkeiten einer theoretisch fundierten Prävention ausgelotet werden.
Das aktuelle Heft ist somit gut gefüllt, das Spektrum der behandelten Themen breit, die Inhalte sind nicht ganz ohne Kontroversen. Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre und einen erkenntnisreichen Streifzug durch die Breite unseres Fachs.
Klaus-Peter Dahle
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