Das Elektromyogramm wurde zur funktionellen Diagnostik bereits vor ca. 50 Jahren zur Untersuchung neurogener und myopathogener Veränderungen der Skelettmuskelfunktion eingesetzt. Seit den 1970er-Jahren diente es auch der Beanspruchungsanalyse für die Arbeitsphysiologie beziehungsweise Ergonomie unter den Bedingungen der statischen Haltearbeit und einseitig-dynamischer Arbeit. Die Muskelpotenziale werden dabei stets nahe oder direkt über dem interessierenden Agonisten mittels Oberflächenelektroden abgeleitet. Mittels Nadelelektroden können auch spezielle einzelne motorische Einheiten oder tiefer gelegene Muskeln selektiv erfasst werden. Dabei werden auch höhere Frequenzanteile (>100 Hz) differenziert betrachtet. Die Signalamplitude wächst mit dem Abstand der
Elektroden, die Bandbreite dagegen fällt bei größerem Abstand. Daher haben unipolare Ableitungen in der Regel größere Potenziale als bipolare. Bipolare Ableitungen sind geeignet, bestimmte Muskelgruppen topographisch gezielt abzuleiten, während unipolare Ableitungen eher matrixartig für die präzise Erfassung von Aktivitätsverläufen (Muskelmapping) eingesetzt werden.
Die Positionierung der
Elektroden in den verschiedenen Arealen eines Muskels wie der Innervationszone, der motorischen Endplatte, dem Muskelbauch oder dem Muskelhalteapparat hat unterschiedliche Spektren in Amplitude und Frequenz zur Folge. Die nervalen Spikes setzen sich dabei aus Endplattenpotenzialen, Fibrillationspotenzialen, Faszikulationspotenzialen und myotonen Entladungen zusammen, die alle ihren eigenen spezifischen Zeitverlauf bezüglich Dauer, Form und Amplitude aufweisen, aber in situ lediglich als Überlagerung abgeleitet werden können. Exakt reproduzierbare Muskelableitungen sind daher allein mit Oberflächenelektroden äußerst schwer zu gewinnen. Die Rekrutierung und Aktivierung von motorischen Einheiten ist ebenfalls sehr vielfältig, sodass eine unmittelbare Zuordnung von Muskeltonus und Spannungszustand, die über die Kontraktilität informieren, mit quantitativen Angaben unmöglich ist. Dennoch sind die Potenziale mit gemessenen relativen Einheiten als
Goldstandard zur Ermittlung des Funktionszustands von Muskeln und Muskelgruppen in der Schlafmedizin anzusehen. Kleine Elektrodenflächen vergrößern ebenso wie ein schlechter Hautkontakt den Eingangsübertragungsfehler, der außerdem von der Eingangsimpedanz des Verstärkers (typischerweise Impedanz >40 MOhm, 500 pF) abhängt. Die Filtereinstellung beträgt 0,1 oder 0,03 Sekunden und die Grenzfrequenz ist 100 Hz oder höher.
Zur Charakterisierung von Schlafstadien nach Rechtschaffen und Kales beziehungsweise nach „AASM-Manual“ (
2016) ist die Kinnableitung (1a* oder 1b*) unabdingbar, die nach den neuen Kriterien aus 3
Elektroden besteht, die 2 alternative Ableitungen ermöglicht. Dabei ist sowohl eine Ableitung oberhalb der Kinnspitze (1a*) möglich als auch unterhalb des Kinns (1b* häufig bei Bartträgern). Für die genaue Diagnostik des Syndroms der unruhigen Beine („Restless-Legs-Syndrom“) und des „Periodic Limb Movement Disorder“ (
PLMD) sind Ableitungen an beiden Beinen erforderlich (2*). Alle anderen in dieser Tabelle aufgeführten Ableitungen sind nicht vorgeschrieben, können aber je nach Bedarf und Diagnosestellung optional verwendet werden, um unterschiedliche schlafbezogene Krankheitsbilder näher aufzuschlüsseln. Hierzu gehören Ableitungen der Atemhilfsmuskulatur bei
Schlafbezogenen Atmungsstörungen, die auch nach inspiratorischer Muskelaktivität im Bereich der Thorakalmuskulatur und exspiratorischer Muskelaktivität im Bereich der Abdominalmuskulatur differenziert werden können. Weiterhin ist die Extremitätenmuskulatur zur Ableitung geeignet zwecks Erkennung von nächtlichen Myoklonien und
Bewegungsstörungen, beispielsweise beim Parkinson-Syndrom (siehe „Parkinson-Syndrome“), der Huntington-Chorea,
Dystonien (siehe „Dystonie“) und motorischen Tics oder zwecks
Verifizierung von
Kataplexien bei Verdacht auf „Narkolepsie“. Schließlich können auch Verspannungszustände des Stütz- und Halteapparats im Bereich von Rücken- und Nackenmuskulatur ermittelt werden. Diese haben für die Verhaltensregulation und Ganzkörperpositionierung, Lagerung und Anordnung der Gliedmaßen im Bett eine große Bedeutung, wenn
Schlafstörungen zugrunde liegen, die durch orthopädische Beschwerden verursacht sind.