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Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Publiziert am: 10.03.2021

Elektromyogramm

Verfasst von: Friedhart Raschke
Als Elektromyogramm (EMG) werden die aufgezeichneten summierten Aktionspotenziale der Muskeln mittels Ableitung von der Hautoberfläche oder vom Muskel selbst bezeichnet. Das EMG ist fester Bestandteil jeder Polysomnographie. Für Schlafuntersuchungen ist das EMG im Kinnbereich Indikator des basalen Muskeltonus zur Klassifizierung des Stadiums REM und das EMG der Extremitätenmuskulatur im Bereich des M. tibialis anterior die wichtigste Messgröße zur Ermittlung unruhiger Beine und periodischer Extremitätenbewegungen. Die Lokalisation und Befestigung der Elektroden ist standardisiert. Weitere Ableitungen an der Muskulatur des Halte- und Stützapparats, der Atemhilfsmuskulatur oder des Bewegungsapparats werden für Schlafuntersuchungen verwendet. Es können Oberflächen-, Nadel- oder Drahtelektroden eingesetzt werden. Zur Auswertung werden die EMG-Signale elektronisch aufbereitet und mit Methoden der Zeitreihenanalyse analysiert. Die Auswertestandards befinden sich in der Weiterentwicklung.

Synonyme

EMG; Muskelstromkurve

Englischer Begriff

EMG; Electromyogram

Definition

Als Elektromyogramm (EMG) werden die aufgezeichneten summierten Aktionspotenziale der Muskeln mittels Ableitung von der Hautoberfläche oder vom Muskel selbst bezeichnet. Das Elektromyogramm ist neben „Elektroenzephalogramm“, „Elektrookulogramm“ und „Elektrokardiogramm“ fester Bestandteil jeder Polysomnographie („Polysomnographie und Hypnogramm“). Für Schlafuntersuchungen ist das Elektromyogramm im Kinnbereich Indikator des basalen Muskeltonus zur Klassifizierung des Stadiums REM und das Elektromyogramm der Extremitätenmuskulatur im Bereich des M. tibialis anterior die wichtigste Messgröße zur Ermittlung unruhiger Beine und periodischer Extremitätenbewegungen. Als Muskeltonus gilt der Spannungszustand eines Muskels mit seinen viskös-elastischen Eigenschaften, der sich aus dem Dehnungsgrad und einer durch aktive Kontraktion überlagerten Komponente zusammensetzt. Die Lokalisation und Befestigung der Elektroden ist standardisiert. Weitere Ableitungen an der Muskulatur des Halte- und Stützapparats, der Atemhilfsmuskulatur oder des Bewegungsapparats werden für Schlafuntersuchungen verwendet. Es können Oberflächen-, Nadel- oder Drahtelektroden eingesetzt werden. Zur Auswertung werden die EMG-Signale elektronisch aufbereitet und mit Methoden der Zeitreihenanalyse analysiert. Die Auswertestandards befinden sich in der Weiterentwicklung.

Messverfahren

Das Elektromyogramm wurde zur funktionellen Diagnostik bereits vor ca. 50 Jahren zur Untersuchung neurogener und myopathogener Veränderungen der Skelettmuskelfunktion eingesetzt. Seit den 1970er-Jahren diente es auch der Beanspruchungsanalyse für die Arbeitsphysiologie beziehungsweise Ergonomie unter den Bedingungen der statischen Haltearbeit und einseitig-dynamischer Arbeit. Die Muskelpotenziale werden dabei stets nahe oder direkt über dem interessierenden Agonisten mittels Oberflächenelektroden abgeleitet. Mittels Nadelelektroden können auch spezielle einzelne motorische Einheiten oder tiefer gelegene Muskeln selektiv erfasst werden. Dabei werden auch höhere Frequenzanteile (>100 Hz) differenziert betrachtet. Die Signalamplitude wächst mit dem Abstand der Elektroden, die Bandbreite dagegen fällt bei größerem Abstand. Daher haben unipolare Ableitungen in der Regel größere Potenziale als bipolare. Bipolare Ableitungen sind geeignet, bestimmte Muskelgruppen topographisch gezielt abzuleiten, während unipolare Ableitungen eher matrixartig für die präzise Erfassung von Aktivitätsverläufen (Muskelmapping) eingesetzt werden.
Die Positionierung der Elektroden in den verschiedenen Arealen eines Muskels wie der Innervationszone, der motorischen Endplatte, dem Muskelbauch oder dem Muskelhalteapparat hat unterschiedliche Spektren in Amplitude und Frequenz zur Folge. Die nervalen Spikes setzen sich dabei aus Endplattenpotenzialen, Fibrillationspotenzialen, Faszikulationspotenzialen und myotonen Entladungen zusammen, die alle ihren eigenen spezifischen Zeitverlauf bezüglich Dauer, Form und Amplitude aufweisen, aber in situ lediglich als Überlagerung abgeleitet werden können. Exakt reproduzierbare Muskelableitungen sind daher allein mit Oberflächenelektroden äußerst schwer zu gewinnen. Die Rekrutierung und Aktivierung von motorischen Einheiten ist ebenfalls sehr vielfältig, sodass eine unmittelbare Zuordnung von Muskeltonus und Spannungszustand, die über die Kontraktilität informieren, mit quantitativen Angaben unmöglich ist. Dennoch sind die Potenziale mit gemessenen relativen Einheiten als Goldstandard zur Ermittlung des Funktionszustands von Muskeln und Muskelgruppen in der Schlafmedizin anzusehen. Kleine Elektrodenflächen vergrößern ebenso wie ein schlechter Hautkontakt den Eingangsübertragungsfehler, der außerdem von der Eingangsimpedanz des Verstärkers (typischerweise Impedanz >40 MOhm, 500 pF) abhängt. Die Filtereinstellung beträgt 0,1 oder 0,03 Sekunden und die Grenzfrequenz ist 100 Hz oder höher.
Für den Schlaf relevante Ableitungen sind in Tab. 1 dargestellt.
Tab. 1
EMG-Ableitungen in der Schlafmedizin. EMG-Ableitungen von relevanten Muskeln beziehungsweise Muskelgruppen mit Angabe der Lokalisation der Elektroden und der Funktion in der schlafmedizinischen Diagnostik. Mit Stern versehene Ableitungen (1 und 2) sind in ihrer Lokalisation und Funktion für die Schlafstadiendetektion und für die Beurteilung der Krankheitsbilder PLMD und Restless-Legs-Syndrom vorgeschrieben
Muskel
Lokalisation
Funktion
1a*. M. mentalis
Oberhalb Kinnspitze, 3–4 cm auseinander/symmetrisch
REM-Detektion
1b*. M. submentalis
Unterhalb Kinn, 2–3 cm Abstand zum Unterkiefer; 3–4 cm auseinander
REM-Detektion
2*. M. tibialis anterior
4 Finger breit unter Fibulakopf, 4–5 cm auseinander
RLS-Detektion, PLM-Detektion
3. M. masseter, M. temporalis
Kaumuskel/Jochbogen, Unterkiefer, Schläfe mittig
Bruxismusdetektion
Vordere Brustwand unterhalb letztem Rippenbogen
Zwerchfellaktivität rippennah, respiratorischer Effort
5. Mm. intercostales interni/externi
Rippenbogen (zum Beispiel 8. Interkostalraum)
Respiratorischer Effort, paradoxe Atmung
6. M. alae nasi
Nasenflügel
Nasale Klappenfunktion
7. M. genioglossus
Zungengrund (mit Nadel/Drahtelektroden)
Zungenprotrusion, OSA
8. M. tensor veli palatini
Weicher Gaumenrand (mit Nadel/Drahtelektroden)
Pharyngeale Dilatation
9. Mm. quadriceps femoris
Oberschenkel
Kataplexien, Myoklonien
10. Mm. flexor/extensor carpi ulnaris/radialis
Unterarm
Verschiedene Myoklonien
11. Varia
Verschiedene Positionen: Gliedmaßen/Schultergürtel Hals/Rücken
Myoklonien/Jaktationen, Verspannungen/Anfallsleiden, Bewegungsstörungen
Zur Charakterisierung von Schlafstadien nach Rechtschaffen und Kales beziehungsweise nach „AASM-Manual“ (2016) ist die Kinnableitung (1a* oder 1b*) unabdingbar, die nach den neuen Kriterien aus 3 Elektroden besteht, die 2 alternative Ableitungen ermöglicht. Dabei ist sowohl eine Ableitung oberhalb der Kinnspitze (1a*) möglich als auch unterhalb des Kinns (1b* häufig bei Bartträgern). Für die genaue Diagnostik des Syndroms der unruhigen Beine („Restless-Legs-Syndrom“) und des „Periodic Limb Movement Disorder“ (PLMD) sind Ableitungen an beiden Beinen erforderlich (2*). Alle anderen in dieser Tabelle aufgeführten Ableitungen sind nicht vorgeschrieben, können aber je nach Bedarf und Diagnosestellung optional verwendet werden, um unterschiedliche schlafbezogene Krankheitsbilder näher aufzuschlüsseln. Hierzu gehören Ableitungen der Atemhilfsmuskulatur bei Schlafbezogenen Atmungsstörungen, die auch nach inspiratorischer Muskelaktivität im Bereich der Thorakalmuskulatur und exspiratorischer Muskelaktivität im Bereich der Abdominalmuskulatur differenziert werden können. Weiterhin ist die Extremitätenmuskulatur zur Ableitung geeignet zwecks Erkennung von nächtlichen Myoklonien und Bewegungsstörungen, beispielsweise beim Parkinson-Syndrom (siehe „Parkinson-Syndrome“), der Huntington-Chorea, Dystonien (siehe „Dystonie“) und motorischen Tics oder zwecks Verifizierung von Kataplexien bei Verdacht auf „Narkolepsie“. Schließlich können auch Verspannungszustände des Stütz- und Halteapparats im Bereich von Rücken- und Nackenmuskulatur ermittelt werden. Diese haben für die Verhaltensregulation und Ganzkörperpositionierung, Lagerung und Anordnung der Gliedmaßen im Bett eine große Bedeutung, wenn Schlafstörungen zugrunde liegen, die durch orthopädische Beschwerden verursacht sind.

Auswerteverfahren, Bewertung

Ziel der Messung und der anschließenden Auswertung ist die Bestimmung der Zeitabhängigkeit. Wann, wie lange und mit welchem Tonus kontrahiert der Muskel? Dazu muss das Rohsignal weiterverarbeitet werden (Bischoff et al. 2005). Es wird in der Regel gleichgerichtet, summiert, normiert oder integriert und dann als transformiertes Originalsignal, als Hüllkurve oder als verrechnetes Signal, beispielsweise unter Angabe der Anzahl der Resets nach Integration, für die weitere Auswertung bereitgestellt. Die Schwierigkeit der REM-Detektion aus der Kinnmuskelaktivität besteht darin, dass der minimale Tonus beurteilt werden muss, der lediglich in relativer Form vorliegt. Zur Bioeichung beziehungsweise Kalibrierung derjenigen Amplitudenhöhe, die als REM gewertet werden soll, ist es daher unabdingbar, die EMG-Amplitude aus dem Stadium Wach beziehungsweise während angespannter Kinnmuskulatur unter willentlicher Innervation bewerten zu können. Hierzu dient willkürlich herbeigeführtes Zähneknirschen im Rahmen der Bioeichung der Aktivität der Musculi masseteres mit „Übersprechen“ dieses Muskels in die mentalen Muskelgruppen, auch als „cross talking“ bezeichnet. Diejenigen EMG-Phasen werden gewertet, die in der EMG-Amplitude der vollständigen Nachtableitung die relativ geringste Höhe verglichen mit dem Stadium Wach aufweisen. Relative Amplituden liegen auch der Ermittlung der Bewegungsaktivitäten der Extremitätenmuskulatur zugrunde, die aber insofern wesentlich einfacher zu detektieren sind, da sie sich als echte Spike-Ereignisse, die sogenannten Twitches, vom EMG-Untergrund abheben. Zur sauberen Detektion benötigt man jedoch auch hier die Aktivitäten der Mm. tibiales anteriores, die während Dorsal- und Plantarflexion von linker und rechter Großzehe und linkem und rechtem Fuß im Wachzustand simuliert werden, um Beinbewegungen im Rahmen von Restless-Legs-Syndrom oder PLMD von Ruhephasen abzugrenzen.
Weiterführende Auswerteverfahren verwenden zumeist ein Leistungsdichtespektrum, das sogenannte Powerspektrum, um die EMG-Potenziale in ihrer quadrierten Amplitudenausprägung über der Frequenz zu betrachten. Die gesamte Leistungsdichte wird aus Zeitfenstern von 1, 2, 5 oder 10 Sekunden Dauer ermittelt, und die darin gemessenen Zahlenwerte werden als Zeitreihe dargestellt. Medianfrequenz, Schwerpunktfrequenz oder mittlere Frequenz der Leistungsdichte werden als Maß der Muskelermüdung verwendet. Vereinbarungen zu einer standardisierten Auswertung gibt es jedoch bislang nicht.

Apparative Umsetzung, Geräte

Die EMG-Verstärkung ist hoch, sie soll 5 μV/cm oder 2 μV/cm am Bildschirm betragen. Elektrodenartefakte und durch Grobmotorik bedingte Bewegungsartefakte können die Verstärker daher leicht übersteuern, während Netzartefakte durch steile Notch-Filter (50 Hz oder 60 Hz) leicht zu eliminieren sind. Die Bandbreite eines Original-EMG-Signals reicht je nach Ableitung, Elektrodenabstand und Elektrodengröße von 1–10 Hz als untere Frequenzgrenze bis mindestens 500 Hz als obere Grenze. Die Abtastraten von Polysomnographen müssten daher für eine hinreichende Abbildung von nativen EMG-Potenzialen mindestens 1000 Hz betragen (Penzel et al. 1993). Dies ist in der Regel nicht der Fall. Typische Abtastraten sind 100, 200 oder 500 Hz. Für die Praxis verwendet man daher entweder vorgefilterte EMG-Verläufe, oder es wird wegen der Elektrodenfläche von 5 mm2 und mehr von vornherein eine reduzierte Bandbreite in Kauf genommen. Die Elektroden befinden sich in der Weiterentwicklung, um in Zukunft frei von störenden Kabeln mit implementierten Sendern Signale telemetrisch übertragen zu können. Auch die Nanotechnologie wird zur Verbesserung der Kontaktübergänge Muskel – Haut – Elektrolyt – elektrischer Leiter beitragen.

Indikationen

Das mentale Elektromyogramm gehört zu einer Schlafableitung nach AASM (2016) und Rechtschaffen und Kales, und das Elektromyogramm der Mm. tibiales anteriores von beiden Beinen gehört zur Polysomnographie (PSG) nach den Qualitätskriterien der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM). Weitere EMG-Ableitungen bei der PSG sind optional.

Grenzen der Methode

Für Bewegungsmessungen wäre es das Ziel, den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Elektromyogramm samt seiner hieraus abgeleiteten Zahlenwerte und der aufgewandten Kraft darstellen zu können beziehungsweise den Muskeltonus zu quantifizieren. Auch die Biomechanik würde hiervon profitieren, und unter ergonomischen Fragestellungen könnten Energieaufwand, Arbeitsleistung und Ermüdungsfaktoren während Arbeitsbedingungen ermittelt werden, die den Erholungsfunktionen der Muskulatur in Gestalt der Entspannungsfähigkeit im Schlaf gegenübergestellt werden können. Genau darin liegen derzeit die Grenzen der Elektromyographie. Solange Elektromyogramme lediglich als relative Maßzahlen vorliegen, werden Angaben zum Schweregrad bei Verspannungen nicht möglich sein. Lediglich Aussagen zur Zeitabhängigkeit sind hinreichend präzise. Auch die Muskelermüdung lässt sich bislang nicht praxisrelevant ermitteln.
Literatur
American Academy of Sleep Medicine (2016) AASM manual for the scoring of sleep and associated events: rules, terminology and technical specifications vers 2.3. Darien, Illinois
Bischoff C, Schulte-Mattler WJ, Conrad B (2005) Das EMG-Buch. EMG und periphere Neurologie in Frage und Antwort. Thieme, Stuttgart
Penzel TG, Hajak RM, Hoffmann RL et al (1993) Empfehlungen zur Durchführung und Auswertung polygraphischer Ableitungen im diagnostischen Schlaflabor. Z Elektroenzephalogr Elektromyogr Verwandte Geb 2:65–70