Bis zu 70 % der Epilepsiepatienten können mit medikamentösen Therapien eine zufriedenstellende Anfallskontrolle bei guter Verträglichkeit der Medikation erreichen. Bei den verbleibenden mindestens 30 % gilt die Epilepsie als pharmakoresistent, und es stellt sich die Frage nach den Aussichten einer kurativen epilepsiechirurgischen Behandlung. Da nach zwei ausgereizten medikamentösen Therapien der ersten Wahl die Chance auf Anfallsfreiheit durch weitere Antikonvulsiva auf einen Wert von maximal 10 % absinkt (Kwan und Brodie
2000), wird die Pharmakoresistenz pragmatisch bereits nach dem Scheitern zweier medikamentöser Therapien konstatiert. Die Gesamtheit der Untersuchungen, die über die chirurgische Behandlungsoption Aufschluss geben sollen, wird als „prächirurgische Epilepsiediagnostik“ bezeichnet. Diese Diagnostik ist technisch und inhaltlich komplex, ihre Durchführung sollte daher spezialisierten epilepsiechirurgischen Zentren vorbehalten bleiben. Altersgrenzen für epilepsiechirurgische Eingriffe bestehen prinzipiell nicht, allerdings ist bei älteren Personen (über 70 Jahre) und bei Neugeborenen und Säuglingen bis zum 6. Lebensmonat das u. U. deutlich erhöhte allgemeine Komplikationsrisiko zu bedenken, das derzeit sehr alte Patienten faktisch von der Epilepsiechirurgie weitgehend ausschließt. Die pädiatrische prächirurgische Epilepsiediagnostik ist nicht Thema der vorliegenden kurzen Übersicht.
Eine prächirurgische Diagnostik
sollte bei sämtlichen pharmakoresistenten Epilepsien
zumindest erwogen werden, auch bei Patienten, bei denen eine fokale kurative Resektion nicht möglich erscheint, also z. B. bei Vorliegen einer pharmakoresistenten, aber mutmaßlich idiopathischen generalisierten Epilepsie
(IGE) oder bei Verdacht auf Vorliegen einer multifokalen, evtl. gar multiläsionellen Epilepsie. Dies aus zwei Gründen:
1.
führt eine gründliche Diagnostik nicht selten noch zu einer Revision der initialen Einschätzung der Epilepsie oder sogar der Syndromdiagnose (z. B. IGE-imitierende Frontallappenepilepsien), und
2.
können bei nicht kurativ resektablen Epilepsien in einigen Fällen palliative chirurgische Verfahren eine relevante Besserung erbringen.
Am aussichtsreichsten ist eine prächirurgische Diagnostik jedoch bei Patienten mit monofokalen Epilepsien. Die prächirurgische Diagnostik hat, allgemein gesprochen, die Aufgaben,
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das epileptogene Areal – also dasjenige Hirnareal, dessen Resektion zu Anfallsfreiheit führt – so präzise wie möglich einzugrenzen, und
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zu überprüfen, ob durch eine Resektion alltagsrelevante postoperative Defizite zu antizipieren wären.
Auf der Grundlage dieser Informationen kann der Patient gemeinsam mit dem Arzt eine gut begründete Entscheidung für oder gegen eine Operation treffen.
Fallbeispiel
Eine typische Krankengeschichte eines epilepsiechirurgischen Patienten sei als Fallbeispiel kurz referiert. In diesem Fall einer Frontallappenepilepsie konnte die Operationsindikation schon mit einer nichtinvasiven Diagnostik gestellt werden.
Ein 30-jähriger arbeitsloser gelernter Koch wird seit dem 20. Lebensjahr wegen einer fokalen Epilepsie behandelt. Die Erkrankung ist pharmakoresistent: Behandlungen mit Valproat,
Carbamazepin und
Levetiracetam haben in Mono- und Kombinationstherapien nicht zu einer durchgreifenden Besserung der Anfallssituation geführt. Der Patient entschließt sich zu einer prächirurgischen Diagnostik.
Semiologisch wird für die Anfälle ein fokaler Ablauf mit gyratorischen Automatismen oder hypermotorischen Phänomenen geschildert, ferner Vokalisationen und glossale Automatismen, fakultativ auch ein Übergang in einen generalisierten tonisch-klonischen Anfall.
Das interiktale
EEG zeigt epilepsietypische Aktivität links frontolateral, teils auch bifrontal links betont. Das iktale EEG lässt bei Aufzeichnung von 5 patiententypischen Anfällen initiale rhythmische Beta-Spikes links frontal erkennen.
MR-tomografisch wird bei sonst unauffälligem intrakraniellem Befund eine kortikale Signalanhebung mit Ausziehung nach subkortikal (sog. „transmantle sign“) im anterioren Sulcus frontalis superior links gesehen, also das typische Zeichen einer fokalen kortikalen Dysplasie (FCD).
Somit kann bei deckungsgleichen lokalisatorischen Befunden aus Semiologie,
EEG und MRT die Diagnose einer läsionellen Epilepsie mit Anfallsursprung im Bereich der links frontalen FCD gestellt werden. Eine erweiterte Läsionektomie links frontal wäre mit einer guten Chance auf Anfallsfreiheit verbunden.
Zu möglichen Risiken einer solchen Operation: Der Patient ist Linkshänder, zeigt aber gemäß fMRI eine linkshemisphärische Sprachdominanz. Das epileptogene Areal liegt jedoch nicht in der Nähe möglicher eloquenter Areale (Broca-Areal, motorisches Areal). Neuropsychologisch sind frontale Einbußen (v. a. exekutive Funktionen) bereits vorbestehend. Ein erhöhtes Risiko postoperativer Defizite ist somit nicht gegeben.
Es wird die Indikation zur Operation gestellt, der Patient wünscht den Eingriff. Ein postoperatives MRT zeigt eine regelrechte, allenfalls knapp erweiterte Läsionektomie. Histologisch zeigt sich eine FCD Typ II. Postoperativ besteht Anfallsfreiheit, zusätzliche Einbußen treten nicht auf.
Bereits 3 Monate nach dem Eingriff setzt der Patient aus eigenem Entschluss die antikonvulsive Medikation aus
Levetiracetam und
Carbamazepin schlagartig ab. Die Anfallsfreiheit besteht dennoch dauerhaft für bislang 5 Jahre fort, dies wird auch mittels Langzeit-EEG-Untersuchung überprüft. Der Patient erwirbt im Verlauf einen Fahrausweis und findet in den ersten Arbeitsmarkt zurück mit einer beruflichen Neuorientierung.
Facharztfragen
1.
Wann gilt eine Epilepsie als pharmakoresistent?
2.
Aus welchen drei Quellen stammen die Informationen für die Lokalisation eines epileptogenen Areals?
3.
Benennen Sie mindestens drei resektive und nichtresektive epilepsiechirurgische Eingriffe.
4.
Welche Ziele sind durch eine Epilepsiechirurgie zu erreichen?
5.
Wie ist die Komplikationsrate der Epilepsiechirurgie?