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Orthopädie und Unfallchirurgie
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Publiziert am: 25.07.2023

Angeborene Erkrankungen des Schultergürtels

Verfasst von: Thomas Wirth
Kongenitale Erkrankungen des Schultergürtels gehören zu den seltenen angeborenen muskuloskelettalen Fehlbildungen und Fehlstellungen. Die drei wichtigsten, die hier besprochen werden, sind die kongenitale Schultergelenkluxation, die angeborene Claviculapseudarthrose und die kongenitale Elevation des Schulterblatts, die Sprengel-Deformität. Sehr wichtig ist die Kenntnis der klinischen Befunde, um eine sichere und frühe Diagnose stellen zu können. Die Therapie ist nur bei der angeborenen Schulterluxation zeitnah erforderlich, und hier muss man nur bei erfolgloser geschlossener Reposition operativ tätig werden. Für die angeborene Claviculapseudarthrose ist eine operative Behandlung nur in Einzelfällen sinnvoll, für die Sprengel-Deformität bei den mittelschweren und schweren Fehlstellungen und starken Funktionseinschränkungen. Besonders wichtig ist hier ein präzises Timing des Eingriffs im Kindergartenalter. Die beiden letztgenannten Pathologien kommen auch in Verknüpfung mit anderen kongenitalen Fehlbildungen vor. Eine erweiterte Diagnostik kann deshalb notwendig sein.

Einführung

Die angeborenen Erkrankungen des Schultergürtels gehören zu den sehr seltenen kongenitalen Anomalien des muskulo-skelettalen Systems. Dabei sind drei Krankheitsbilder zu beachten: die kongenitale Schulterluxation, die kongenitale Claviculapseudarthrose und die Sprengelsche Deformität, also der kongenitale Schulterblatthochstand.
Vor allem die kongenitale Claviculapseudarthrose und die Sprengelsche Deformität können innerhalb von Syndromen mit anderen angeborenen Veränderungen verknüpft sein.

Kongenitale Schulterluxation

Die angeborene Schulterluxation ist eine extrem seltene Erkrankung des Neugeborenen. Darunter versteht man eine in den ersten Lebenswochen oder -monaten diagnostizierte Subluxation oder Luxation des Schultergelenks, die nicht auf andere Ursachen zurückgeführt werden kann. Beim Neugeborenen treten Schultersubluxationen und -luxationen außerdem noch als paralytisch, traumatisch und spastisch bedingte Gelenkfehlstellungen auf und unterliegen somit einer primären Grunderkrankung (Kuhn und Rosman 1984; Schmelzer-Schmied et al. 2005). Paralytische Schulterluxationen werden mit der Plexuslähmung in Verbindung gebracht und sind entweder mit der Geburt präsent oder entstehen sekundär im Verlauf. In einer größeren Serie wurden innerhalb der ersten 6 Lebensmonate bei 8% der Säuglinge hintere Schulterluxationen festgestellt (Moukoko et al. 2004). Außerdem wird über geburtstraumatisch entstandene Schulterluxationen berichtet. Ein erhöhtes Risiko scheint bei großen und schweren, also makrosomen Neugeborenen zu bestehen (Kuhn und Rosman 1984; Schmelzer-Schmied et al. 2005). Die traumatische Schulterluxation des Neugeborenen darf aber nicht mit der sogenannten Pseudoluxation verwechselt werden, bei der eine Epiphyseolyse mit Dislokation in der Wachstumsfuge eine Luxation vortäuscht (Abb. 1). In Einzelfallberichten wurden die Zusammenhänge einer spastisch bedingten Schulterluxation mit Tetraparesen aufgezeigt (Schmelzer-Schmied et al. 2005).
Das klinische Erscheinungsbild ist von einer typischen Armhaltung in Außenrotation und Abduktion charakterisiert (Heilbronner 1990; Slattery et al. 2018). Die passive Beweglichkeit ist nicht eingeschränkt und auch nicht schmerzhaft. Allerdings lässt sich eine Instabilität in alle Richtungen nachweisen. Eine tiefe Hautfalte am lateralen proximalen Oberarm zeigt die lange vorbestehende Fehlposition in Abduktion an (Heilbronner 1990; Slattery et al. 2018). Je später diese Luxation postpartal diagnostiziert wird, desto fixierter ist die Deformität. Eine Adduktion des Armes ist dann nicht mehr möglich (Sudesh et al. 2010). Das hier geschilderte klinische Bild beschreibt die Dislokation nach vorne unten. Die Dislokation nach posterior führt zu einem eher umgekehrten Untersuchungsbefund.
Unbehandelt kommt es zu einer schweren schmerzhaften Einschränkung der Schulterbeweglichkeit und Gelenkdeformierung mit Verkürzung des Skapulahalses, Abflachung von Glenoid und Humeruskopf (Savarese et al. 2011). Folglich ist eine frühzeitige Diagnosestellung für die Therapie entscheidend. In der überwiegenden Mehrzahl der publizierten Fälle der wahren kongenitalen Schulterluxation ohne Grunderkrankung war eine konservative Therapie erfolgreich. Bei der anterior-inferioren Luxationsrichtung ist eine geschlossene Reposition in Narkose mit Einstellung des Oberarms in Innenrotation und Neutralstellung, also am Körper anliegend, durch einen geeigneten Verband für 2 bis 4 Wochen erfolgreich (Heilbronner 1990; Slattery et al. 2018). Liegen lediglich Subluxationen vor oder ist die Ursache eine neurologische, führt oft die krankengymnastische Behandlung allein zum Erfolg (Schmelzer-Schmied et al. 2005). In manchen Fällen, meistens bei vollständiger Luxation, ist ein Schulterabduktionsgips nach geschlossener Reposition für vier Wochen eine sehr gute Option (Schmelzer-Schmied et al. 2005). Dieses Therapieverfahren wird auch bei der traumatischen Genese bevorzugt. Bei erfolgloser konservativer Therapie oder Versagen der geschlossenen Reposition ist eine offene Reposition angezeigt. Es werden in der Literatur verschiedene chirurgische Verfahren angegeben, ein Standard lässt sich kaum ableiten. Es kommt aber darauf an, dass man durch Kapselraffung die Luxationstasche beseitigt und das Schultergelenk auf diese Weise stabilisiert (Sudesh et al. 2010; Schmelzer-Schmied et al. 2005). In den in der Literatur aufgeführten Fällen werden die Resultate nach konservativer oder operativer Therapie überwiegend als sehr gut und gut angegeben. In Einzelfällen sind aber Reluxationen oder persistierende Bewegungseinschränkungen als Komplikationen erwähnt worden.

Kongenitale Claviculapseudarthrose

Eine weitere seltene angeborene Erkrankung des Schultergürtels ist die kongenitale Pseudarthrose der Clavicula. Sie wurde 1910 von Fitzwilliams (Fitzwilliams 1910) als Bestandteil des zur kleidokranialen Dysplasie zählenden Symptomenkomplexes beschrieben. Neben dieser Begleiterkrankung kommt sie auch noch im Zusammenhang mit der Neurofibromatose und idiopathisch als singuläre Pathologie vor (Cadilhac et al. 2000). Die mit der Neurofibromatose in Zusammenhang stehende Claviculapseudarthrose wird aber nicht zum Formenkreis der kongenitalen Claviculapseudarthrosen gerechnet (Cadilhac et al. 2000). In der Literatur finden sich viele Fallserien und Fallberichte, deren Gesamtzahl gut 200 Patienten umfassen. Fast alle unilateralen Fälle treten rechts auf, und etwa in 10 Prozent ist isoliert die linke Seite betroffen. Beidseitige kongenitale Claviculapseudarthrosen kommen vor, sind außergewöhnlich selten, und werden auffällig oft im Kontext familiärer Häufungen gefunden (Abb. 2a und b) (Price und Price 1996).
Als Ursache für die Entstehung einer angeborenen Claviculapseudarthrose wurde eine ausbleibende Fusion der beiden Knochenkerne der Clavicula angesehen (Fawcett 1913). Andere Überlegungen betrafen das Vorliegen anatomischer Varianten der Arteria subclavia, eine These, die vor allem bei Beidseitigkeit wenig Unterstützung erhält (Padua et al. 1999). Gibson und Caroll (1970) zogen die These der ausbleibenden Fusion der beiden Knochenkerne in Zweifel, da sie in ihren Untersuchungen nur einen Knochenkern fanden. Gomez-Brouchet wies hingegen zwei Knochenkerne nach und fand auch Säulenknorpel an den Enden beider nicht vereinigten Knochenkerne, sodass man heute die aus 1913 stammende Theorie der zwei Knochenkerne, die nicht miteinander fusionieren, als ursächlich ansieht (Gomez-Brouchet et al. 2004).
Die Kinder zeigen im Säuglings- und Kleinkindalter sehr diskrete Symptome. Am auffälligsten ist eine schmerzlose Prominenz über dem ventralen Schultergürtel im Verlauf der Clavicula. Beim Abtasten fällt dann der federnde Charakter der knöchernen Resistenz auf. Mit etwas Geduld lässt sich auch das von der anderen Seite her kommende Gegenstück ertasten. Die gegenseitige Verschieblichkeit zueinander beweist das Vorliegen der Claviculapseudarthrose. Mit zunehmendem Alter entwickelt sich eine Asymmetrie des Schultergürtels, der auf der betroffenen Seite ventral eine Verkürzung zeigt. Manche Patienten äußern eine gestörte Schultergelenksbeweglichkeit, nur wenige geben Schmerzen an. Bei beidseitiger Betroffenheit können beide Schultern vor dem Körper einander stark angenähert werden. In der Literatur finden sich nur vereinzelt Berichte über vaskuläre oder neurologische Komplikationen. Fälle mit einem Thoracic-Outlet-Syndrom sind nachgewiesen, wobei dies eher im Erwachsenenalter manifest zu werden scheint (Watson et al. 2013). Das radiologische Bild ist charakteristisch. Die Kontinuität der Clavicula ist im mittleren Drittel unterbrochen, und es besteht eine eindeutige Lücke zwischen den beiden Fragmentenden. Diese sind wiederum verplumpt, oft etwas vergrößert und ähneln einer Elefantenfußpseudarthrose. Eine Diagnose kann auch sonografisch gestellt werden (Abb. 3a). Das mediale Ende liegt typischerweise oberhalb des lateralen (Abb. 3b). Differenzialdiagnostisch ist eine klassische posttraumatische Pseudarthrose auszuschließen. Morphologisch mag das schwierig sein, jedoch weisen das Fehlen einer Traumaanamnese und auch das typische Alter, in dem eine kongenitale Claviculapseudarthrose entdeckt wird, also das frühe Kleinkindalter, auf die Diagnose hin.
Die Therapie der angeborenen Claviculapseudarthrose ist bis auf wenige Ausnahmen konservativ. Letztendlich besteht die Behandlung in einer ausführlichen Aufklärung der Familien, vor allem der Eltern, über den in aller Regel unproblematischen Verlauf der Fehlbildung. Selten kommt es zu rezidivierenden oder dauerhaften Beschwerden, selten werden Kraftminderung und Einschränkungen der Gebrauchsfähigkeit der oberen Extremitäten im Alltag angegeben. Eine störende Instabilität der Schulterpartie wird von den Patienten im Allgemeinen nicht beklagt. Sie bemerken zwar die Verschmälerung der betroffen Schulterregion, haben aber nur selten damit kosmetische Probleme. Damit bleibt das Abwarten und die Beobachtung ohne spezifische Therapie die Behandlungsmaxime der Wahl. In wenigen Fällen stört der laterale Claviculaanteil durch seine Prominenz dicht unter der Haut, und manchmal droht eine Durchspießung. Gelegentlich werden lokale belastungsabhängige Beschwerden und auch eine gewisse Schwäche im betroffenen Arm geäußert. Dann ist die Rekonstruktion der Clavikula angezeigt. Die Operationsmethode besteht aus einer Resektion der Pseudarthroseenden an beiden Fragmenten und einer Knocheninterposition mit einem kortikospongiösen Span, eventuell zusätzlicher Spongiosaplastik und Plattenosteosynthese oder Stabilisierung mit einem intramedullären Draht (Abb. 4). Die Ergebnisse sind ganz überwiegend sehr gut. Vergleichende Untersuchungen zur Fixationsmethode haben einen Trend zur Plattenosteosynthese erkennen lassen (Chandran et al. 2011).
In seltenen Fällen und in der Regel verknüpft mit einer Dysostosis cleidocranialis kommt auch eine partielle oder komplette Claviculaaplasie vor. Sie zeigt sich in einer starken Verkürzung des ventralen Schultergürtels und in einer Hypermobilität, wie wir sie auch von Kontorsionisten her kennen (Abb. 5).

Sprengel-Deformität

Unter der Sprengelschen Deformität versteht man die angeborene Elevation des Schulterblatts, die erstmalig von Eulenburg und dann später durch Sprengel beschrieben wurde (Abb. 6a) (Eulenberg 1863; Sprengel 1891). Sie ist die häufigste der an sich seltenen kongenitalen Malformationen des Schultergürtels. Ursächlich ist ein Ausbleiben des Schulterblattdeszensus in seine originäre Position während der Embryonalperiode. Vermutlich sistiert die Abwärtsmigration des Schulterblatts aus der in Höhe von C4 oder C5 liegenden Extremitätenknospe. In einem durch ein sehr komplexes Zusammenspiel von vielen endokrinen und zellulären Signalen gesteuerten Entwicklungspfad kommt es zwischen der 3. und 5. Fetalwoche zur Wanderung der Skapula nach caudal (Harvey et al. 2012). Ab der 6. Fetalwoche vergrößert sich das Schulterblatt und wandert weiter nach unten bis zu seiner endgültigen Position in Höhe des 7. Thorakalwirbels. Bei der Sprengeldeformität wird dieser Differenzierungsprozess ursprünglich pluripotenter mesenchymaler Zellen in skelettales Gewebe gestoppt. Die Gründe dafür sind weiter unklar. Diskutiert werden vaskuläre oder auch genetische Faktoren (Harvey et al. 2012). Sprengel schrieb damals, „dass man sagen könnte, das Schulterblatt sitzt den Kindern im Nacken“ (Sprengel 1891). Man geht davon aus, dass es sich bei der Extremitätenknospe und der Skapula um zum gleichen Zeitpunkt auftretendes Gewebe mesodermalen Ursprungs handelt. Damit wird auch die Koexistenz häufiger Begleitanomalien, wie Blockwirbel an der Halswirbelsäule (Klippel-Feil-Syndrom), oder von Rippen und Wirbelkörperfehlbildungen erklärt (Abb. 6b) (Walstra et al. 2013). Sehr häufig findet man eine Verbindung zwischen der Halswirbel- oder seltener auch Brustwirbelsäule und dem Schulterblatt. Diese in der Regel von der unteren Halswirbelsäule zum Margo medialis superior ziehenden Gewebeanteile können bindegewebiger, knorpeliger und knöcherner Natur sein. Die knöcherne Verbindung wird os omovertebrale genannt und kommt in etwa 20–50 % der Fälle vor (Abb. 6c) (Harvey et al. 2012). Deutlich seltener sind Verbindungen zwischen dem Margo medialis der Skapula und tiefer gelegenen Anteilen der Brustwirbelsäule.
Das weibliche Geschlecht scheint dreimal häufiger betroffen zu sein als das männliche (Cavendish). Eine Seitenbevorzugung wurde nicht bestätigt, obwohl Sprengel selbst nur über linksseitig aufgetretene Fälle berichtet hat (Cavendish 1972; Sprengel 1891).
Der klinische Hauptbefund ist die Schulterasymmetrie. Die betroffene Schulterpartie ist unilateral hochgezogen, das Schulterblatt liegt entsprechend deutlich höher als die gesunde Gegenseite. Gleichzeitig ist das Schulterblatt so gedreht, dass die glenoidale Gelenkfläche nach außen unten rotiert und sich der medio-kraniale Pol der Skapula, je nach Schweregrad, der Halswirbelsäule oder dem Okziput annähert. Eine beidseitige Betroffenheit kommt vor. Dann imponiert eine sehr kurze Hals-Nackenpartie. Bei den unilateralen Sprengel-Deformitäten kommt es abhängig vom Schweregrad zu einseitig kurzem Nacken und nicht selten zu einem teilfixierten Schiefhals. Mit dieser Deformität sind (Teil-) Aplasien oder Hypoplasien der an der Skapula inserierenden Muskulatur vergesellschaftet. Betroffen sind der M. pectoralis major, der M. trapezius und die Mm. rhomboidei, seltener der M. serratus anterior und M. latissimus dorsi. Der M. levator scapulae ist als Teil der vorliegenden Pathologie immer verkürzt. Die aktive Elevation des Armes ist in Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung eingeschränkt. In der von Cavendish (Cavendish 1972) publizierten Serie von 100 Fällen war die Elevation uneingeschränkt in 37 Fällen, zwischen 180 und 135 Grad möglich in 26 Fällen und auf Werte von 90 bis 135 Grad reduziert bei 37 Patienten. Auch die Schulterabduktion ist bei den Patienten stark eingeschränkt und übersteigt oft die 90°-Marke nicht (Harvey et al. 2012). Die mangelnde Rotationsmöglichkeit der Skapula während der Elevation und Abduktion des Arms ist ursächlich für diese Bewegungseinschränkung und hat drei Hauptursachen: der über den Apex des Thorax gekrümmte medio-kraniale Rand, das Anstoßen des medialen Rands der Skapula an benachbarten Dornfortsätzen und das Os omovertebrale (Cavendish 1972). Cavendish hat basierend auf seinen Untersuchungen eine Einteilung in vier klinische Schweregrade vorgenommen (Abb. 7, Cavendish 1972).
Es gibt eine ganze Anzahl mit der Sprengelschen Deformität assoziierte Deformitäten. Mit einer Prävalenz von 35 bis 55 % ist die Skoliose dabei die häufigste begleitende Pathologie, gefolgt von Rippenanomalien (16–48 %), dem Klippel-Feil-Syndrom (16–27 %) und dem Nachweis einer Spina bifida (20–28 %) (Harvey et al. 2012). Ein überwiegender Teil der Patienten mit einer Begleitskoliose weist eine early onset Skoliose mit kongenitalen Wirbelkörperanomalien oder unilateralen Fusionen auf (Abb. 6b) (Cavendish 1972).
Die bildgebende Diagnostik umfasst die konventionelle Röntgenuntersuchung, die CT und MRT-Untersuchung. In der konventionellen Röntgenuntersuchung werden die Position der elevierten Skapula definiert, insbesondere im Hinblick auf die Höhe des supero-medialen Poles zur Wirbelsäule (Rigault et al. 1976), und Begleitpathologien wie eine Skoliose oder Rippenanomalien sowie die Präsenz eines Os omovertebrale beurteilt. Das CT dient zum besseren dreidimensionalen Verständnis der Gesamtpathologie und auch dem Nachweis eines Os omovertebrale oder anderer knöcherner Verbindungen zur Wirbelsäule. Mit dem MRT lässt sich die Position der Skapula sehr gut beschreiben, aber man kann auch alle knöchernen, knorpeligen und bindegewebigen Verbindungen zwischen Schulterblatt und Wirbelsäule darstellen. Rigault et al. (1976) hat eine sehr gebräuchliche konventionell radiologische Klassifikation entwickelt, die sich an der Beziehung des mediokranialen Pols zum Wirbelsäulenabschnitt orientiert (Abb. 7).
Die Therapie der Sprengelschen Deformität orientiert sich am klinischen und auch radiologischen Bild und an den damit verknüpften funktionellen Einschränkungen. Leichtere Einschränkungen wie bei den Schweregraden Cavendish 1 und 2 können konservativ therapiert werden. Durch Physiotherapie werden die Schulterfunktion auf der einen Seite, aber auch die Auswirkungen auf den Schiefhals, die allgemeine Asymmetrie der Schulterpartie und auf die Wirbelsäule behandelt. Es werden jährliche Verlaufskontrollen empfohlen. Als realistischen Therapieerfolg kann man die Beibehaltung des initialen Bewegungsausmaßes und die Erhaltung der anfänglichen Funktion bis zum Wachstumsabschluss und darüber hinaus ansehen (Farsetti et al. 2003).
Die operative Therapie wird Patienten mit erheblichen Einschränkungen der Schulterfunktion, das sind meistens Patienten mit Cavendish 3 und 4 Deformitäten, empfohlen. Die Operation soll früh, am besten zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr vorgenommen werden (Woodward 1961), um die Komplikationsrate, insbesondere die Gefahr für eine neurologische Komplikation durch Einengung des Plexus brachialis und der Begleitgefäße zu minimieren. In unseren Händen haben sich zwei, in meinen Augen gleichwertige, Operationsverfahren etabliert. Die Operationsmethode nach Green, im Jahre 1957 vorgestellt (Green 1957) und später leicht modifiziert (Leibovic et al. 1990), hat sich über viele Jahre sehr bewährt und gute funktionelle Resultate erbracht. Die im Jahre 1961 von Woodward eingeführte Operationstechnik hat ähnlich gute Resultate zu verzeichnen, sie ist ebenfalls sehr gut etabliert (Woodward 1961). Eine weitere Operationstechnik, die sich an einem von König (1914) beschriebenen Verfahren orientiert, ist die vertikale Skapulaosteotomie mit Resektion des superomedialen Pols, die ebenfalls gute klinische Resultate erbringen kann (McMurtry et al. 2005). Früher propagierte stärker eingreifende Operationsmethoden, die eine mehr oder minder ausgedehnte partielle Skapulektomie favorisierten, werden heute nicht mehr angewendet (Schrock 1926; McFarland 1948).
Die Ziele der Operation sind neben der Verbesserung des kosmetischen Erscheinungsbildes in erster Linie eine Verbesserung der klinischen Funktion. Hierzu sind eine Exzision der die Skapula an der Wirbelsäule fixierenden Strukturen und eine Distalisierung des Schulterblatts mit Rotation zur korrekten Positionierung des nach kaudal gedrehten Glenoids erforderlich. Eine perfekte Symmetrie lässt sich in den wenigsten Fällen erreichen. Das liegt einerseits an der Hypoplasie der betroffenen Skapula und auch an einem nicht selten postoperativ zu beobachtenden teilweisen Korrekturverlust im Verlauf.
Bei der Distalisierung der Skapula in der Technik nach Green werden alle an der Skapula inserierenden Muskeln extraperiostal abgelöst. Das Os omovertebrale wird, wenn vorhanden, exzidiert, oder auch die knorpeligen oder bindegewebigen Verbindungen zur Hals- oder oberen Brustwirbelsäule als Äquivalent. Außerdem wird die Fossa supraspinata entfernt, was im Prinzip der Entfernung der kranialsten Anteile der Skapula entspricht. Die Skapula wird distalisiert und rotiert, und sämtliche abgelöste Muskeln werden am Schulterblatt in der korrigierten Position wieder reinseriert und zu kurze Muskeln verlängert (Green 1957). Die Ausrichtung der neuen Lage der Skapula wird nicht an deren unteren Pol, sondern entweder an der Spina scapulae oder dem superomedialen Pol vorgenommen, da das betroffene Schulterblatt oft hypoplastisch ist. Diese originale Methode ist später dadurch modifiziert worden, dass man den distalen Pol der Skapula in ein aus Anteilen des M. latissimus dorsi geformtes Nest eingebettet hat (Leibovic et al. 1990). Die mittel- und langfristigen Ergebnisse dieser Operationsmethode sind gut bis sehr gut. Die kosmetische Verbesserung erreicht eine Korrektur von mindestens einem Cavendish-Grad in 88,5 % der Fälle (Di Gennaro et al. 2012). Auch die radiologische Position nach Rigault kann zuverlässig verbessert werden (Andrault et al. 2009). Die durchschnittliche Verbesserung der Schulterfunktion, gemessen an den Abduktions- und Elevationsausmaßen, variiert in den Studien zwischen 20° und 65° mit erheblichen individuellen Abweichungen (Di Gennaro et al. 2012; Wada et al. 2014; Leibovic et al. 1990).
Die Operation nach Woodward (1961) weicht in der Operationstechnik von der Greenschen Methode ab, beherzigt aber die allgemeinen Grundprinzipien in der gleichen Weise. Über eine Längsinzision über der Dornfortsatzreihe von etwa C4 bis Th12 wird zunächst der Unterrand des M. trapezius aufgesucht und in einer muskulären Grenzschicht unterfahren. Der Trapezius wird dann von der Wirbelsäule abgelöst, in der kranialen Hälfte zusammen mit den darunterliegenden Mm. rhomboidei. Die Verbindungen zur Hals- oder kranialen Brustwirbelsäule (Os omovetebrale oder knorpelige bzw. bindegewebige Anteile) werden nach Ablösung des M. levator scapulae reseziert. Der superomediale Pol, der ja sehr oft nach ventral gekrümmt ist wird ebenfalls entfernt. Dies entspricht aber bereits der von Borges ergänzten Modifikation der Woodward-Operation (Borges et al. 1996). Dann kann die Skapula mobilisiert und nach kaudal verlagert werden. In der Originalmethode wird der Trapezius in deutlich kaudalisierter Position wieder an der Wirbelsäule reinseriert (Abb. 8). Eine Augmentation dieser Nähte durch eine temporäre transossäre Fixation der Skapula an einer oder zwei Rippen mit resorbierbaren Nähten hat sich in den eigenen Händen nicht als nachteilig erwiesen.
Die klinischen und kosmetischen Ergebnisse sind mit denen nach der Greenschen Operation vergleichbar. Die Verbesserung in der Cavendish-Klassifikation betrug ein bis zwei Grade (Öner et al. 2020). Die funktionelle Verbesserung wird von Woodward (1961) mit 20° bis 70° angegeben. In anderen Studien beträgt die Verbesserung der Abduktion zwischen 30° und 57° (Borges et al. 1996; Walstra et al. 2013; Öner et al. 2020) und die der Elevation gut 40° (Öner et al. 2020).
Die Nachbehandlung ist bei beiden Methoden ähnlich. Einer Immobilisation der operierten Schulter in einem Gillchrist-Verband für 2 bis 4 Wochen folgt dann eine zunächst passive, spätestens nach der 6. post-operativen Woche auch aktive Mobilisation des Schultergelenks. Die Physiotherapie muss langfristig angelegt sein, da sich Erweiterungen des Bewegungsumfanges auch noch viele Monate nach dem Eingriff erreichen lassen.
Die operative Distalisierung der Skapula birgt einige Gefahren in sich, die beiden hier beschriebenen und letztlich allen das Schulterblatt kaudalisierenden Operationsmethoden gemein sind. An erster Stelle stehen die neurovaskulären Komplikationen, die mit der Distalisierung verknüpft sein können, also die Einengung des Plexus brachialis und der den Arm versorgenden Gefäße. Deshalb wird sowohl von Green als auch von Woodward und allen Autoren der Modifikationen eine Claviculaosteotomie zur Prävention dieser Komplikation erwähnt (Green 1957; Woodward 1961). Wir führen die Operation seit Jahren immer unter Neuromonitoring durch und können auf diese Weise die beste noch tolerable Position der Skapula einstellen (Shea et al. 2010). Eine Claviculaosteotomie musste in keinem der Fälle erfolgen. Die in der Literatur beschriebenen Fälle von neurologischen Komplikationen waren in der überwiegenden Zahl temporär. Weitere Komplikationen betreffen den Korrekturverlust, der bei schweren Fehlstellungen eher eintritt als bei geringen und mittleren. Im präoperativen Aufklärungsgespräch muss auf diesen Korrekturverlust aufmerksam gemacht werden. Er wirkt sich in aller Regel nicht auf die Funktionalität des Schultergelenks aus, dessen postoperativ erreichter Bewegungsumfang im weiteren Verlauf entweder noch geringfügig verbessert oder aber erhalten werden kann (Abb. 9) (Andrault et al. 2009; Harvey et al. 2012; Öner et al. 2020). Weniger häufige und auch weniger bedeutsame Komplikationen betreffen die Ausbildung eines Narbenkeloids und die Entstehung einer Scapula alata.
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