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Konventionen und Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Verfasst von: Jörg M. Fegert
Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Convention on the Rights of the Child, CRC) wurde am 20. November 1989 von der UN-Generalversammlung beschlossen und trat am 02. September 1990 in Kraft. Es markiert eine neue Ära im weltweiten Umgang mit Kinderrechten. Das Kapitel gibt einen Überblick über die historische Entstehung von Kinderrechten und erläutert Kinderrechte mit dem besonderen Blick auf die Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, so zum Beispiel Artikel 25 der UN-Kinderrechtskonvention, in welchem die Rechte von Kindern auf Überprüfung der Unterbringung außerhalb der Familie festgeschrieben sind, oder die Beteiligungsrechte von Kindern und die Rechte auf Information. Gleichzeitig wird erläutert, dass entwicklungspsychologische Basisbedürfnisse von Kindern in den einzelnen Artikeln der UN-Kinderrechtskonvention weltweit normiert wurden. Die UN-Kinderrechtskonvention hatte auch eine besondere Bedeutung für die Einführung der gewaltfreien Erziehung in zahlreichen Mitgliedsstaaten. In Deutschland erfolgte diese Einführung zur Jahrtausendwende. Die Nachhaltigkeitsziele der UN (Sustainable Development Goals) umreißen im Nachhaltigkeitsziel 16.2 das Recht auf gewaltfreies Aufwachsen aller Kinder. Die Staatengemeinschaft empfiehlt ein regelmäßiges Monitoring von drei Indikatoren in Bezug auf körperliche und seelische Gewalt gegen Kinder, in Bezug auf sexuellen Missbrauch und in Bezug auf Menschenhandel von Kindern. Die UN-Behindertenrechtskonvention umfasst das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (convention on the rights of persons with disabilities). VNBRK wurde am 13. Dezember 2006 von der UN-Generalversammlung in New York verabschiedet und trat am 03. Mai 2008 international in Kraft. Diese Konvention hat für die Debatte um Inklusion und eine Neuordnung des deutschen Sozialrechts im Rahmen des Bundesteilhabegesetztes eine zentrale, wegweisende Bedeutung, die die Praxis in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den letzten Jahren stark beeinflusst hat.

Einleitung

Historisch war die Abschaffung der Kinderarbeit ein Ausgangspunkt der Kindeswohl- und Kinderrechtedebatte. 1915 wurden die letzten „Kindermärkte“ in Deutschland abgeschafft.1 Bis dahin wurden z. B. Kinder aus den armen Alpendörfern ins reiche Oberschwaben gebracht (Schwabenkinder), um in den bürgerlichen Haushalten als „Verdingkinder“ zu arbeiten. Erst unter nationalsozialistischer Herrschaft wurde 1939 ein Mindestalter für Kinderarbeit bestimmt und die Kinderarbeitszeit reguliert, jedoch nur, laut damaliger Gesetzesbegründung, zur Erhaltung und Verbesserung der Wehrkraft von jungen Menschen. Diese Verhältnisse liegen nur ein Jahrhundert zurück, und wir müssen uns dies immer wieder verdeutlichen, wenn wir über kulturelle Unterschiede und untragbare Zustände in der Dritten Welt reden. Es war ein langer Weg von der Verrechtlichung des Kindeswohlgedankens im deutschen BGB (1900) bis zur gewaltfreien Erziehung im BGB (2000). International entstanden Kinderschutzbewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so z. B. 1874 die „Society for the Prevention of Cruelty to Children“. Skandalfälle im Kinderschutz wie der Fall Mary Ellen hatten schon damals die Bedeutung für ein moralisches Agendasetting (King 1999), indem sie die Gesellschaft aufrüttelten und an die Verantwortungsgemeinschaft der Gesellschaft gegenüber Kindern appellierten. Ellen Key (1849–1926) bezeichnete hoffnungsvoll das 20. Jahrhundert als das „Jahrhundert des Kindes“. Sie beschrieb die Errettung der Kinder als oberste gesellschaftliche Pflicht und postulierte ein Recht von Kindern auf gewaltfreie und liebevolle Erziehung. 1924 verabschiedete der Völkerbund die „Genfer Deklaration der Rechte des Kindes“. Wobei diese Schutzrechte von Kindern in den Vordergrund stellte und noch keine Selbstbestimmungsrechte für Kinder und Jugendliche enthielt. Nach dem 2. Weltkrieg verabschiedete die UN 1959 die „Erklärung der Rechte der Kinder“ nach dem Vorbild der Genfer Deklaration. Kindern wurden von der Staatengemeinschaft somit eigene, spezifische Rechte zuerkannt. Im Jahr 1979 legte Polen aus Anlass des proklamierten „Jahr des Kindes“ Entwürfe für eine Kinderrechtskonvention vor, die nach einer 10-jährigen Debatte und Auseinandersetzung letztendlich zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 führten.

Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen

Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Convention on the rights of the Child, CRC) wurde am 20. November 1989 von der UN-Generalversammlung beschlossen und trat am 2. September 1990 in Kraft, nachdem 20 Mitgliedsländer die Konvention ratifiziert hatten. Im allgemeinen Sprachgebrauch in Deutschland hat sich, entgegen der amtlichen Übersetzung „VN-Kinderrechtskonvention“, eine Mischung aus der englischen Abkürzung für United Nations (UN) und der Deutschen Abkürzung für Kinderrechtskonvention (KRK) eingebürgert (UN-KRK).
Mittlerweile ist die UN-KRK das weltweit am meisten ratifizierte Menschenrechtsübereinkommen (Quelle: www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/kinderrechtskonvention-crc/). Abgesehen von den USA haben alle Staaten der Welt dieses Übereinkommen ratifiziert und die Inhalte der Konvention damit für verbindlich erklärt. Die UN-KRK hat direkte Geltung für Deutschland und gilt in vollem Umfang, seit Vorbehalte der Bundesregierung in Bezug auf Rechte Geflüchteter zurückgenommen wurden (Cremer 2012). Gekennzeichnet ist die Konvention einerseits dadurch, dass individuelle Grundrechte von Kindern dargestellt werden und gleichzeitig Basisbedürfnisse von Kindern durch Verantwortungsbereiche der Erwachsenen und der staatlichen Gemeinschaften beschrieben werden (Marthaler 2010; Maywald 2007).
Im Kontext der Debatte um Hilfeplanung in der Jugendhilfe hat sich eine Zuordnung kindlicher Basisbedürfnisse zu einzelnen Artikeln der UN-KRK eingebürgert (Fegert 1999a, b), um deutlich zu machen, dass das von Maslow (1943) beschriebene grundlegende Konzept der Basisbedürfnisse für die kinder- und jugendpsychiatrische und psychotherapeutische Expertise in der Hilfeplanung und Behandlung für Kinder und Jugendliche von größter Bedeutung ist.
Von besonderer Bedeutung für die stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie ist Art. 25 der UN-Kinderrechtskonvention, in welchem die Rechte von Kindern auf Überprüfung der Unterbringung außerhalb der Familie festgeschrieben sind. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie hat sich nachdrücklich, auch mit Bezug auf Art. 25 UN-KRK, für die Einführung eines familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehalts für freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern in § 1666a BGB eingesetzt, um den Schutz von Kindern, die sich bei uns im Krankenhaus oder in einem Heim oder in sonstigen Einrichtungen aufhalten und denen zum Beispiel aus medizinischen Gründen die Freiheit entzogen werden soll, einen verbesserten Schutz und eine objektive Überprüfung solcher Entscheidungen zu sichern. Diese Regelung trat am 1. Oktober 2017 in Kraft. Der UN-Ausschuss gegen Folter hat 2002 ein optionales Protokoll zur Konvention gegen Folter verabschiedet. Hierrüber wurde ein internationales Gremium geschaffen, welches dem UN-Ausschuss gegen Folter untersteht und welches in unabhängigen Untersuchungen in Gefängnissen oder anderen Orten, wo auch Kinder und Jugendliche mit Freiheitsentzug festgehalten werden, überprüft, ob Kinderrechte eingehalten werden. (Über die Bedeutung dieses Mechanismus für unsere Institutionen siehe Baumann und Osterfeld 2018.)
Zentrale Kinderrechte betreffen das Recht auf Information und Partizipation. Diese haben auch für die kinder- und jugendpsychiatrische, psychotherapeutische Behandlung eine besondere Bedeutung (Rothärmel et al. 2006). Informationsrechte von Kindern werden gerade im Kontext der Aufklärung zur Krankenbehandlung oder der Aufklärung zu Forschungsstudien, entsprechend den Vorgaben und Standards von Ethikkommissionen und den für medizinische Forschung geltenden europäischen Regelungen und der Europaratskonvention, häufig in einer sehr komplexen, für Kinder jüngerer Altersgruppen nicht verstehbaren Weise gegeben. Wichtig ist, zu berücksichtigen, dass viele Kinder und Jugendliche, wenn sie erstmals in ambulante Behandlung oder Psychotherapie kommen oder auch bei der Aufnahme im stationären Bereich, kaum etwas über ihre Rechte und über die Abläufe einer Krankenbehandlung wissen. Wir haben als Behandlerinnen und Behandler eine Bringschuld, Kindern altersgerecht die Abläufe der Behandlung zu erläutern. In unserer damaligen Untersuchung waren nur 42,1 % der Kinder in einer stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung über ihre Rechte aufgeklärt worden. Demgegenüber war mit mehr als der Hälfte der Kinder (56,6 %) sehr ausführlich über die Stationsregeln gesprochen worden oder ausführlich (15,9 %). Dies zeigt, wenn wir Kinder erreichen wollen und wollen, dass sie bestimmte Regeln kennen, gelingt uns das. Für den Schutz von Kindern und die Autonomieentwicklung im Rahmen der Krankenbehandlung ist aber eine Kenntnis der eigenen Rechte und ein Gehör bei Behandlungsentscheidungen, selbst wenn Kinder und Jugendliche reifebedingt oder krankheitsbedingt nicht selbst einwilligen können, eine essenzielle Voraussetzung. Verschiedene Fälle sexuellen Missbrauchs im Krankenhaus (vgl. Broschüre Tagung am 07.06.2019 mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft; Fegert et al. 2018) sind charakterisiert durch die Täterstrategie, übergriffige Handlungen als normale medizinische Interventionen zu tarnen oder aber dadurch, dass tatsächlich normale Untersuchungsbestandteile, ohne Indikation, in besonderer Häufigkeit oder in spezifischen Settings durchgeführt wurden. Insofern braucht es einen für Kinder verständlichen Standard in der Behandlung und verständliche Informationen darüber (vgl. „Was ist schon normal?“. https://www.uniklinik-ulm.de/fileadmin/default/Kliniken/Kinder-Jugendpsychiatrie/Dokumente/WebversionWIDSN.pdf; Fegert 2016; Abb. 1).
Gerade die übliche Form der ärztlichen Kommunikation und die häufig mangelnde Bereitschaft von Angehörigen der Heilberufe, in eine triadische Kommunikation mit Eltern und Kindern einzutreten, führen zu Mängeln in der Information. Dies lässt sich in medizinischen Entscheidungssituationen, gerade unter Zeitdruck oder bei stationären Aufnahmen unter Zwang, auch nicht immer leicht realisieren (Haubl 2017; Abb. 2).

Probleme bei der Akzeptanz und Umsetzung

Nicht nur in der früheren Bundesrepublik, sondern auch im wiedervereinten Deutschland tat man sich lange schwer mit manchen Inhalten der Konvention und mit der Übertragung in nationales Recht. Vorbehalte bestanden insbesondere gegenüber der Gewährung vergleichbarer Rechte für geflüchtete Kinder und Jugendliche, aber es war auch ein langer Weg bis zur Einführung der gewaltfreien Erziehung ins BGB (Salgo 2001). Wiederholt musste das Bundesverfassungsgericht hier den Gesetzgeber mahnen. Es war die spätere Unabhängige Beauftragte sexueller Kindesmissbrauch, Dr. Christine Bergmann, die in ihrer Zeit als Bundesfamilienministerin der ersten rot-grünen Koalition, u. a. gegen den Widerstand der CDU, welche die Einführung der gewaltfreien Erziehung damals als „Symbolpolitik“ bezeichnete, die bis heute geltende Regelung im BGB dem Deutschen Bundestag vorgeschlagen hat. Die Empirie sollte ihr recht geben. Nach Bussmann (2010), der die erste empirische Untersuchung zu elterlichen Erziehungseinstellungen nach der Reform durchführte, haben gesetzliche Regelungen als gesellschaftliche Normen und Vorstellungen eine hohe Bedeutung, da von ihnen ein „Konformitätsdruck“ ausgeht, der sich dann auch auf der Ebene des Erziehungsverhaltens zeigt. Bussmann konnte im Oktober 2001, ca. ein Jahr nach Einführung der neuen Gesetzesnorm, 3000 repräsentativ ausgewählte Eltern befragen und konnte im Vergleich zu einer 1996 durchgeführten Elternstudie ein wachsendes Bewusstsein dafür feststellen, dass Körperstrafen nicht adäquat sind. Dennoch hielten zum damaligen Zeitpunkt etwa 60 % eine leichte Ohrfeige für erlaubt (Bussmann 2003). In einer 2005 durchgeführten Befragung an 1004 Eltern, dachten nun weniger als 10 % der Eltern, dass härtere, körperliche Strafen erlaubt seien, aber 56,8 % hielten einen „Klaps auf den Po“ und 47,9 % eine leichte Ohrfeige für erlaubt. 2016 führten wir eine repräsentative Untersuchung zu erlebten Erziehungsmaßnahmen und zu Erziehungseinstellungen durch (Plener et al. 2016). Einen „Klaps auf den Hintern“ fanden nur noch 44,7 % der Befragten akzeptabel, eine leichte Ohrfeige nur noch 17 %, eine Tracht Prügel mit Bluterguss 0,1 %, kräftiges Schlagen mit einem Stock 0,4 % und eine „schallende Ohrfeige“ 2 %. Von der Gesetzgebung, die durch die UN-Kinderrechtskonvention u. a. inspiriert war, ging eine nachweisbare, verhaltenssteuernde und einstellungsverändernde Wirkung aus. Dies lässt sich auch im Vergleich zur Schweiz sehen, die nach wie vor kein Gewaltverbot in der Erziehung kennt. Vielmehr dürfen, gemäß Bundesgerichtsentscheid, Eltern ihre Kinder körperlich bestrafen, „wenn es ein gesellschaftlich tolerierbares Maß nicht überschreitet“ (Urwyler et al. 2015, S. 27).

Weitere Entwicklung nach der Jahrtausendwende

2002 verabschiedete eine Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen in New York (Weltkindergipfel) den internationalen Aktionsplan „A world fit for children“. 2002 traten zusätzliche Fakultativprotokolle zur UN-Kinderrechtskonvention über Kinder in bewaffneten Konflikten und das „Protokoll betreffend den Kinderhandel, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie“ in Kraft. 2014 wurde die UN-Kinderrechtskonvention durch ein weiteres Fakultativprotokoll zu Individualbeschwerdeverfahren ergänzt. Nach den Millenniumszielen, die unter anderem weltweit deutlich zur Reduktion von Säuglingssterblichkeit beigetragen haben, haben die Vereinten Nationen nachhaltige Entwicklungsziele, sogenannte „Sustainable Development Goals“, eingeführt. Das Ziel 16.2 „End abuse, exploitation, trafficking and all forms of violence and torture against children“ betrifft das gewaltfreie Aufwachsen von Kindern und wird durch drei Indikatoren untermauert, die in allen Gesellschaften regelmäßig überprüft werden sollen. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie berücksichtigt auch in ihrer Überarbeitung von 2018 bislang das Ziel 16.2 überhaupt nicht (Interview mit J. M. Fegert zur Nachhaltigkeitsstrategie auf der Plattform Nachhaltigkeit https://www.wpn2030.de/konsultation/frage-6/). Im Jahr 2019 stellte auch die UN aus Anlass des Jubiläums der UN-Kinderrechtskonvention die Beachtung dieser Ziele in den Fokus. Für September 2019 wurde ein weltweites Treffen zu einem ersten Gipfel der Generalversammlung einberufen, um den Fortschritt bei der Implementation der Agenda 2030 zu überprüfen. Im November 2019 gedachte die Generalversammlung der Einführung der UN-KRK vor 30 Jahren und feierte auch den 10. Jahrestag des Mandats eines „special representative“.

Die UN-Behindertenrechtskonvention

Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Convention on the Rights of Persons with Disabilities; VN-BRK) wurde am 13. Dezember 2006 von der UN-Generalversammlung in New York verabschiedet und trat am 3. Mai 2008 international in Kraft. Deutschland hat die VN-BRK am 24. Februar 2009 ratifiziert (Österreich am 26. September 2008, die Schweiz am 15. April 2019). Es existiert eine amtliche gemeinsame Übersetzung von Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (https://www.behindertenbeauftragte.de/SharedDocs/Publikationen/UN_Konvention_deutsch.pdf?__blob=publicationFile&v=2). Das zentrale Prinzip, welches der UN-BRK zugrunde liegt, ist die Inklusion. Insofern adressiert die Konvention nicht nur Rechte von Menschen mit Behinderung, sondern auch Anforderungen an Gesellschaften, diese Rechte und ihre Umsetzung in Bezug auf eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu unterstützen. Dies bedeutet ein Umschwenken von einer eher medizinorientierten Beschreibung der Devianz, also einzelner Behinderungsformen und der daraus resultierenden Integrationsbedarfe einzelner Menschen, hin zu einer menschenrechtlichen Perspektive, die ein Recht auf Teilhabe für alle Menschen in einer inklusiven Gesellschaft ausformuliert. Behinderung wird als Prozess verstanden, nicht als Zustandsmerkmal von Personen. Sie entsteht also in der Wechselwirkung zwischen den Lebensverhältnissen in der staatlichen Gemeinschaft (einstellungs- und umweltbedingten Barrieren) und den individuellen Beeinträchtigungen und Teilhabewünschen von Menschen mit langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen. Zentral für eine inklusive Gesellschaft ist der sogenannte „Diversity-Ansatz“. Gesellschaften sollten also Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Begabungen uneingeschränkte Teilhabe ermöglichen. Dies hatte auch im Bereich der Medizin ein Umdenken bei der weltweiten Klassifikation von Beeinträchtigungen und Behinderungen zur Folge. War die ICIDH (International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps) der WHO noch primär am medizinischen Modell und an den Vorstellungen der Rehabilitation und Integration orientiert, bezieht sich die ICF (International Classification of Functioning) direkt auf das Zurechtkommen im Alltag in der Gesellschaft und greift Begriffe wie Barrieren und spezifische unterstützungs- und Erleichterungsmöglichkeiten (Fazilitatoren, in deutschen Texten häufig als Ressourcen etwas unzureichend übersetzt) auf. Konsequenterweise ist die ICF nicht nur auf Menschen mit Behinderung anwendbar, sondern sie kann in Bezug auf jede Person Anwendung finden. Dies stellt grundsätzliche Fragen auch z. B. für die Hilfeplanung in der Jugendhilfe, da die bislang im SGB VIII gepflegte Unterscheidung zwischen Kindern und Jugendlichen mit seelischen Behinderungen (§ 35a SGB VIII) und Kindern mit Eltern, die Hilfen zur Erziehung benötigen, dadurch infrage gestellt wird, dass alle Kinder Ansprüche auf Teilhabe in der Gesellschaft haben und Rechtsansprüche nichtdiskriminierend formuliert werden sollten. Ausgegangen wird in der ICF von Körperfunktionen und Strukturen, wobei entsprechende Defizite oder Schädigungen im Vergleich zum medizinischen Standard formuliert werden (Abweichung von der Populationsnorm in Bezug auf Gesundheits- und Krankheitsdefinitionen). Zentral für die ICF ist die Beschreibung des Zurechtkommens bei der Durchführung einer Aufgabe (Aktivität) und wie stark Menschen in verschiedenen Lebenssituationen dazugehören (Partizipation). Dabei muss betont werden, dass Teilhabe stets eine subjektive Seite hat, die die jeweiligen Teilhabewünsche von Personen miteinschließt. Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen (Diewald et al. 2016) hat die unterschiedlichen Dimensionen der Teilhabe herausgearbeitet. Teilhabe muss erreicht und aufrechterhalten werden. Teilhabe ist deshalb ein Prozess (Prozessualität der Teilhabe). Teilhabe ist per se doppelseitig konstruiert, muss deshalb von Betroffenen erwünscht und angestrebt sein (Motivation) und von der Gesellschaft ermöglicht werden (Fazilitation). Teilhabe ist in verschiedenen Kontexten durch konkreten Handlungsbezug gut operationalisierbar und kann deshalb zur empirischen Beschreibung von Handlungsbereichen, Subsystemen oder Kommunikationsprozessen dienen. Das Teilhabekonzept beschreibt den Status der Abgrenzung (Barrieren) ebenso wie deren Überwindung und Unterstützung zur Überwindung (Fazilitation). Letztendlich entspricht das Teilhabekonzept der Tradition europäischer Demokratien in der Verbindung von Rechten und Pflichten, das heißt dem Konzept der voraussetzungsvollen staatlich-gesellschaftlichen Vertragsgemeinschaft. Die Probleme bei der Umsetzung von Teilhabe im Kindes- und Jugendalter wurden vom 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (Fegert und Besier 2009) deutlich hervorgehoben.
Seit der Einführung des Bundesteilhabegesetzes wurden auch Fragen der Teilhabediagnostik im Sinne einer Ermittlung von Barrieren in der Teilhabe und daraus resultierendem Fazilitationsbedarf für Erwachsene und für Kinder und Jugendliche mit körperlicher und geistiger Behinderung im SGB IX geregelt. Konkretisiert wird das Vorgehen in den „gemeinsamen Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitationsträger“ (BAR 2019), die nun entsprechend den Vorgaben des § 26 Abs. 2 SGB IX vorliegen. Hilfen zur Teilhabe bei Kindern und Jugendlichen mit (drohender) seelischer Behinderung werden derzeit noch nach § 35a SGB VIII gewährt. Dennoch macht es Sinn, sich auch jetzt schon generell für die Hilfeplanung im Kindes- und Jugendalter mit der Operationalisierung von Teilhabedefiziten bzw. der Methodik der Hilfeplanung auseinanderzusetzen (Fegert und Kölch 2006; darauf aufbauend vgl. wiederholte Vorschläge zur systematisierten Umsetzung in der Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie z. B. auch im Klinikmanual Fegert und Kölch 2011; Fegert und Kölch 2013). Letztendlich geht es um die Definition von Kriterien, die dem Träger solcher Kriterien den Zugang zu Unterstützungsleistungen ermöglichen („eligible to benefit“ Hollenweger 2011, S. 2). Im Sinne des § 1 SGB IX bedeutet selbstbestimmte Teilhabe die „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“.
Definition von Behinderung nach § 2 SGB IX
„(1) Menschen mit Behinderung sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist“ (§ 2 SGB IX Abs. 1).
Teilhabe ist nach der ICF(-CY) „a person’s involvement in a life situation and represents the societal perspective of functioning“ (WHO 2007, S. 16) für die Kinder- und Jugendpsychiatrie und die Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe (Fegert und Kölch 2006). Auch das DIMDI hat in der für Deutschland gültigen Fassung (2005, S. 23) das biopsychosoziale Modell der ICF aufgegriffen (Abb. 3).
Die zentralen neuen Teilhabebereiche in der ICF(CY) sind:
  • Lernen und Wissensanwendung
  • Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
  • Kommunikation
  • Mobilität
  • Selbstversorgung
  • Häusliches Leben
  • Interpersonelle Interaktion und Beziehungen
  • Bedeutende Lebensbereiche
  • Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben
Teilhabeplanung muss nach diesen Dimensionen individuell erfolgen, z. B. im Rahmen eines individuellen Teilhabeplans in den von den Ländern entwickelten Instrumenten („BEI-BaWü“ oder „BEI-NRW“). Es geht also auch bei der Unterstützung der Inklusion in der Schule nicht um „gleiches Recht für alle“ (Equality), sondern darum, jedem Kind die Unterstützung zu geben, die es zur Teilhabe, in diesem Beispiel dann am Unterricht, benötigt (Equity) (Abb. 45 und 6).
Gleichzeitig bedingt der Ansatz der UN-Behindertenrechtskonvention und auch die Umsetzung im deutschen Sozialrecht, dass nicht nur über Unterstützungsmaßnahmen (Fazilitatoren) nachgedacht werden muss, sondern die Hilfeplanung muss sich auch Gedanken machen, wie generell Barrieren und Hindernisse abgebaut oder reduziert werden können (Abb. 7).
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie ist es wichtig, Teilhabeziele nicht generell zu definieren, sondern altersabhängig, in verschiedenen Altersbereichen, das entwicklungsabhängige übliche Zurechtkommen im Alltag als Maßstab zugrunde zu legen. Im Rahmen eines Kooperationsprojektes zwischen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm und dem Deutschen Jugendinstitut, gefördert vom BMFSFJ, ist ein webbasiertes Instrument zur Einschätzung der Teilhabe bei Kindern und Jugendlichen mit seelischer Behinderung in unterschiedlichen Altersspannen zwischen 3 und 16 Jahren entstanden. Auf einer vierstufigen Farbskala können relevante Aktivitäten und Kompetenzen in den Teilhabebereichen „Zuhause, Kita bzw. Schule, Ausbildung und Beruf sowie Freizeit“ bewertet werden. Zu allen Bereichen gibt es Leitfragen, welche auf der einen Seite die Beziehungsqualität und soziale Eingebundenheit des Kindes bzw. des Jugendlichen erheben, auf der anderen Seite die Fähigkeit des Kindes oder Jugendlichen thematisieren, alltägliche Anforderungen im jeweiligen Teilhabebereich zu bewältigen (Functioning) (Kindler 2019).

Inklusion

Inklusion ist ein zentraler Inhalt der UN-Behindertenrechtskonvention, neben der Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung, die ja in der deutschen Verfassung erst nach dem Zusammenschluss beider deutscher Staaten in Artikel 3 GG verankert wurde. Artikel 19 UN-BRK regelt die Einbeziehung in die Gemeinschaft und Rechte auf unabhängige Lebensführung, für die ggf. Assistenzleistungen aus der Gesellschaft erforderlich sind. Die Unterzeichnerstaaten müssen Personen mit Behinderungen einen angemessenen Lebensstandard und sozialen Schutz (Artikel 28 UN-BRK) gewähren und neben der Teilhabe an Schule oder Arbeit und Beschäftigung auch die Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport (Artikel 30 UN-BRK) gewährleisten.
Eine zentrale Bedeutung für die Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat Artikel 24 UN-BRK über integrative Bildung: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen“. Durch Achtung unterschiedlicher Begabungen und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen, also durch Berücksichtigung des „Diversity-Ansatzes“, soll u. a. durch Schulgesetzgebung der Länder Inklusion flächendeckend ermöglicht werden. Betrachtet man die Entwicklung bei der Umsetzung, kann man feststellen, dass die generelle Beseitigung von Barrieren und Hindernissen im Bereich Schule teilweise nur langsam vorankommt. Gerade deshalb hat sich Schulbegleitung oder Assistenz zunächst relativ ungeregelt ausgebreitet (Ziegenhain et al. 2012). In einer ersten systematischen Erhebung zu Schulbegleitern in Baden-Württemberg (Henn et al. 2014) wurde die Notwendigkeit einer Qualifizierung von Schulbegleiterinnen und Schulbegleitern sehr deutlich. Gleichzeitig zeigte sich, dass Unterstützung der Inklusion durch Schulbegleitung derzeit hauptsächlich in der Grundschule gelingt, dass aber der Anteil der unterstützten Schülerinnen und Schüler in weiterführenden Schulen deutlich abnimmt. Der höchste Anteil der Schulbegleitungen bezog sich auf sogenannte „seelische Behinderungen“. Eine der größten Herausforderungen für diese als individuelle Hilfe zur Teilhabe nach § 35a SGB VIII organisierten Schulbegleitungen ist die interdisziplinäre Kooperation (Henn et al. 2019).

Nachhaltige Entwicklungsziele der UN

Die Vereinten Nationen haben auf ihrer Generalversammlung 2015, d. h. auf der Basis von 193 beteiligten Staaten, 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung beschlossen. Der UN-Generalsekretär hatte diesen Prozess nach dem erfolgreichen Prozess der Millenniumsziele (MDGs; (https://www.un.org/millenniumgoals/) eingeleitet, um eine Roadmap für ein menschenwürdiges Leben („Road to Dignity“) zu schaffen. So führte z. B. das Millenniumsziel 4 „Reduce Child Mortality“ weltweit zu einer Reduktion der Kindersterblichkeit). Als zentrales Moment erwies sich dabei das Monitoring, welches die Staatengemeinschaft vereinbart hatte, sodass alle Staaten über Kindersterblichkeit berichten mussten und damit ein stärkeres Augenmerk auf mögliche Faktoren zur Reduktion der Kindersterblichkeit in ihren Staaten legten. Die Weltgesundheitsorganisation hat in ihrem Papier „From MDGs (Millennium Development Goals) to SDGs (Sustainable Development Goals)“ die Bedeutung solcher Zielsetzungen auch für das Gesundheitswesen herausgearbeitet (Übersicht „Die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen bis 2030“).
Die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen bis 2030
1.
Armut in jeder Form und überall beenden
 
2.
Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern
 
3.
Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern
 
4.
Inklusive, gerechte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle fördern
 
5.
Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen erreichen
 
6.
Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten
 
7.
Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und zeitgemäßer Energie für alle sichern
 
8.
Dauerhaftes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern
 
9.
Eine belastbare Infrastruktur aufbauen, inklusive und nachhaltige Industrialisierung fördern und Innovationen unterstützen
 
10.
Ungleichheit innerhalb von und zwischen Staaten verringern
 
11.
Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig machen
 
12.
Für nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sorgen
 
13.
Umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen* (*in Anerkennung der Tatsache, dass die UNFCCC das zentrale internationale, zwischenstaatliche Forum zur Verhandlung der globalen Reaktion auf den Klimawandel ist)
 
14.
Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen
 
15.
Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildung bekämpfen, Bodenverschlechterung stoppen und umkehren und den Biodiversitätsverlust stoppen
 
16.
Friedliche und inklusive Gesellschaften im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und effektive, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen
 
17.
Umsetzungsmittel stärken und die globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung wiederbeleben
 
Die meisten dieser Ziele haben zentrale Bezüge zur Kinder- und Jugendpsychiatrie. SDG 1 „Keine Armut“ reflektiert auch die Debatte um relative Kinderarmut, auch in reichen Ländern wie Deutschland. Politische Debatten über Lösungsversuche wie Kindergrundsicherung versus bestehende Kindergeldmodelle haben eine große Bedeutung auch für psychische Belastungen, welche mit Armut von Kindern assoziiert sind. SDG 3 „Gute Gesundheit und Wohlbefinden“ ist das zentrale Gesundheitsziel. Wichtige Erkrankungen, auch mit psychischen Auswirkungen oder Grundlagen wie Adipositas oder die Entwicklung von Sucht, sollen in den Mitgliedsstaaten regelmäßig monitoriert werden. Der deutsche Monitoringbericht enthält auch Daten zur Entwicklung der Adipositas bei Kindern und Jugendliche (https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Nachhaltigkeitsindikatoren/Publikationen/Downloads-Nachhaltigkeit/indikatoren-0230001189004.pdf?__blob=publicationFile). SDG 4 „Gute Erziehung“ zeigt zentrale Bezüge zu vielen Fragen der Zusammenarbeit mit dem Schulsystem und auch zur Umsetzung der Inklusion (s. oben und s. SDG 16). SDG 6 „Geschlechterkrankheit“ hat deshalb für die Kinder- und Jugendpsychiatrie eine besondere Bedeutung, da die Epidemiologie der Kinder- und Jugendpsychiatrie zeigt, dass bestimmte Krankheitsbilder mit deutlich erhöhtem Risiko geschlechterwendig auftreten. Dennoch adäquate Versorgung für alle Patientinnen und Patienten mit psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter und auch eine adäquate Erkennung entsprechender Störungsbilder zu gewährleisten, ist eine große Herausforderung. Die SDGs 6–9 beziehen sich auf wichtige Umweltziele wie klares Wasser, funktionierende Sanitärversorgung, bezahlbare und saubere Energie und auf industrielle Faktoren wie angemessene Arbeit, ökonomisches Wachstum, Innovation und Infrastruktur. Der digitale Wandel, die Energiewende, Umbau der Mobilität sind Herausforderungen, die Chancen und Belastungen für Kinder und Jugendliche bergen. SDG 10 thematisiert die Reduktion von Ungleichheiten. Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht muss dabei auch auf Ungleichheiten innerhalb der Familie hingewiesen werden, die in der öffentlichen Diskussion häufig nicht beachtet werden. Dazu gehören auch häufig übersehene Phänomene wie Mobbing oder Bullying unter Geschwistern (Witt und Fegert 2019). SDG 11 zu nachhaltigen Städten und Gemeinschaften unterstreicht die Tatsache, dass letztendlich soziale Systeme sich immer vor Ort bewähren. Die Ziele 12–15 befassen sich mit der Erhaltung der Schöpfung, also mit dem Leben an Land (SDG 15), dem Leben im Wasser, der zentralen Frage des verantwortlichen Konsums und der verantwortlichen Produktion (SDG 12) und Fragen des Klimas (SDG 13). Bemerkenswerterweise hat die Nichterreichung der Klimaziele in der europäischen Debatte überhaupt erst die Aufmerksamkeit auf die nachhaltigen Entwicklungsziele gelenkt. Zahlreiche junge Menschen haben sich europaweit im Jahr 2019 in der „Friday’s for Future“-Bewegung öffentlich engagiert und damit Nachhaltigkeitspolitik als Zukunftspolitik zu einer Sache junger Menschen gemacht, die man nicht einfach den bestehenden Institutionen und Entscheidungsträgern überlassen sollte. Leider wird derzeit in der öffentlichen Debatte, mit Blick auf die zentralen Umweltziele, häufig vergessen, für wen wir die Erde erhalten wollen. Insofern hat das Nachhaltigkeitsziel 16 „Friede, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ eine besondere Bedeutung z. B. bei der Schaffung inklusiver Gesellschaften, beim Zugang zu Recht, aber auch explizit im Kinderschutz. In der aktuellsten Fassung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie von 2018 wird das Ziel 16 eher stiefmütterlich behandelt. Dabei geht es darum, „friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung zu fördern und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufzubauen“, dazu findet sich aber wenig Konkretes. Das Ziel 16.2 „End abuse, exploitation, trafficking and all forms of violence and torture against children“ wird in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie überhaupt nicht behandelt. Dabei haben sich die Vereinten Nationen klar auf Indikatoren für das Monitoring in diesem Bereich geeinigt (Abb. 8).
Betrachtet man die Subgruppe der Personen zwischen 18 und 29 Jahren, die sexuelle Gewalt vor dem 18. Lebensjahr erfahren haben, in der repräsentativen Untersuchung von Witt et al. (2017), so kann man feststellen, dass auf jeden Fall über 10 % aller jungen Frauen und Männer zwischen 18 und 29 Erfahrungen mit sexueller Gewalt vor dem 18. Lebensjahr bei einer Befragung mit dem Childhood Trauma Questionnaire angaben. Es handelt sich um eine riesige Herausforderung für alle modernen Gesellschaften. Deshalb hat UNICEF eine Agenda für jedes Kind im Rahmen des Post-2015-Prozesses (www.unicef.org/agenda2030/files/Post_2015_OWG_review_CR_FINAL.pdf), also auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung bis 2030 formuliert (Agenda for Ed Every Child 2015 „… weil Gewalt gegen Kinder ein universelles Phänomen ist, müssen Investitionen in den Schutz von Kindern vor Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch global Priorität haben …“). Das erste Ziel auf der Agenda heißt ganz klar „End violence against children“, der Kinderschutz ist also ebenso ein zentrales Nachhaltigkeitsziel. Dies wird noch durch den Indikator „Vermeidung von lebensverkürzenden Gesundheitsrisiken“ in Ziel 3 „Gesundheit“ unterstrichen, da unter anderem die ACE-Studien von Felitti et al. (1998) zeigen, dass Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch und andere belastende Kindheitsereignisse (Clemens et al. 2019) zu massiven Gesundheitsfolgen und auch zu vermeidbaren lebensverkürzenden Gesundheitsrisiken führen.
In ihrem europäischen Report zur Prävention von Kindesmisshandlung (Sethi et al. 2013; http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0019/217018/European-Report-on-Preventing-Child-Maltreatment.pdf) schreibt die WHO, dass es darum gehe, die Gesundheitssysteme in diesem Bereich zu stärken, die Wahrnehmung der Problematik zu verbessern und in diesen Bereichen zu investieren, weil hier sogenannte „best buys for money“ möglich seien. Es kann also durch relativ geringe Investitionen noch gelingen, große Fortschritte in der Gesundheitsversorgung zu erreichen, während wir in anderen Bereichen des Gesundheitswesens Millionen in teilweise fragwürdige lebensverlängernde Maßnahmen bei infausten Prognosen investieren, die einzelnen Individuen nur eine minimale Verbesserung der Lebenserwartung und häufig keine Verbesserung der Lebensqualität ermöglichen.

Fazit

Die weltweite Diskussion zu Nachhaltigkeitszielen und die Errungenschaften der UN-Kinderrechtskonvention und der UN-Behindertenrechtskonvention stellen auch eine Herausforderung für die fachpolitische Entwicklung in Deutschland dar. Hilfen für junge Menschen mit psychischen Problemen und Erkrankungen sind in Deutschland durch ein differenziertes Versorgungssystem, welches in mehreren Sozialgesetzbüchern verortet ist, geregelt. Eine zentrale Herausforderung ist die Arbeit an den Schnittstellen und die Notwendigkeit der Vernetzung, z. B. zum wichtigen Bereich „Schule“, im Rahmen der Debatte um Inklusion und zum wichtigen Bereich der Jugendhilfe. Insofern brauchen wir neben disziplinärem Engagement für die bessere Versorgung kinder- und jugendpsychiatrischer Patientinnen und Patienten auch ein interdisziplinäres Engagement für die Teilhabe (vgl. Dazugehören e. V.; https://dazugehoeren.info/). Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sind Scharnierfächer, für die eine nachhaltige Teilhabeförderung ein zentrales Ziel darstellt.
Fußnoten
1
Teile dieses Beitrags zu Kinderrechten beruhen, in Absprache mit beiden Verlagen, auf identischen Manuskriptteilen, die in der Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2019) für ein eingeladenes Editorial zu „30 Jahre Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen“ genutzt wurden.
 
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