Münchhausen-Syndrom-by-Proxy
Hierbei handelt es sich um eine seltene, vermutlich unterdiagnostizierte und schwerwiegende
Sonderform der Kindesmisshandlung. Vorwiegend Mütter mit schweren
Persönlichkeitsstörungen erfinden oder produzieren aktiv schädigend auf vielfältige Weise Krankheitssymptome bei ihren gesunden Kindern. Auch können vorhandene Erkrankungen erheblich aggraviert werden. Ziel sind Aufmerksamkeit und Zuwendung zugunsten des Erwachsenen durch wiederholte ärztliche Untersuchungen des Kindes. In etwa 50 % der Fälle werden Symptome des ZNS induziert, in etwa 30 % des Magen-Darm-Traktes. Weiterhin werden unklares
Fieber, Bakteriämien, Hautausschläge, Elektrolytentgleisungen und vieles mehr beschrieben. Die Prognose ist mit einer Letalität von 9–33 % schlecht. Abzugrenzen ist ein zwar übersteigertes, aber nicht misshandelndes Inanspruchnahmeverhalten von überbesorgten, hypochondrischen Eltern, die sich immer wieder beim Arzt rückversichern möchten, dass ihr Kind an keiner ernsthaften, bedrohlichen Erkrankung leidet.
Sexueller Missbrauch
Sexueller Kindesmissbrauch tritt häufiger auf als angeborene Herzfehler,
Diabetes und Krebs im Kindesalter zusammen. Da bei 90–95 % der Opfer körperliche Normalbefunde vorliegen, ist die fachgerecht und nicht suggestiv erhobene Aussage des Kindes entscheidend für die Diagnose. Nur in einer Minderzahl der Fälle tragen akute oder chronische Verletzungen, sexuell übertragene Infektionen und forensische Befunde zur Diagnose bei. Eine sorgfältige und einfühlsame Untersuchung ist neben der gelegentlichen Erhebung hinweisender Befunde von hoher Bedeutung, um dem Kind und seinen Eltern körperliche Integrität, Gesundheit und Normalität bestätigen zu können. Die Art und Weise der ärztlichen Untersuchung bietet somit ein hohes Potenzial, nicht nur therapeutische Botschaften zu integrieren („Gut, dass Du es gesagt hast!“), sondern auch den Prozess der psychischen Gesundung durch Etablierung eines positiven, wiederhergestellten Körperselbstbildes mit zu initiieren. Dies wird als primär therapeutischer Effekt der Untersuchung bezeichnet. Das Erreichen dieses Zieles setzt voraus, dass auf jeglichen Zwang, Druck oder massive Überredung verzichtet wird.
Vernachlässigung
Kindesvernachlässigung ist die häufigste Form der
Kindesmisshandlung. Sie hat besonders gravierende Konsequenzen für die geistige und sozial-emotionale Entwicklung von Kindern durch Deprivationserfahrungen und/oder unzureichende Ernährung in den ersten Lebensmonaten bzw. -jahren. Im Gegensatz zu körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch wird sie im Allgemeinen weniger beachtet, abgesehen von spektakulären Einzelfällen wie tödliches Verhungernlassen oder Aussetzen von Neugeborenen. Diese sog. Vernachlässigung der Vernachlässigung beruht vermutlich auf der schwierigeren Diagnosestellung, da eindeutige körperliche Folgen als auch emotionale Schäden erst langfristig auftreten.
Intervention
Kinderschutz gehört grundsätzlich in den Verantwortungsbereich aller Institutionen und Fachpersonen, die beruflich mit Kindern zu tun haben. In Kinderkliniken soll er integrierter Teil des Leistungsauftrages aller dort tätigen Disziplinen sein. Die Diagnose und der nachfolgende Schutz der Opfer setzt Aufmerksamkeit, fachliche Kenntnisse, rationale Diagnostik und Differenzialdiagnostik entsprechend aktueller Leitlinien (z. B. AWMF Leitlinie Kinderschutz u. a.), ein strukturiertes, fachgerechtes Vorgehen der Verdachtsabklärung, Kompetenzen in der Erfassung und Beurteilung von familiären Risiken und Ressourcen, Rechtssicherheit und die Bereitschaft zu multiprofessionellem Handeln voraus. Zu diesem Zweck soll es als fachlichen Standard an jeder Kinder- und Jugendklinik ein den lokalen Strukturen angepasstes Vorgehen in Verdachtsfällen geben. Dieses umfasst eine strukturierte, verbindliche Leitlinie mit entsprechender Diagnostik und Dokumentation entsprechend dem von der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) und der Deutschen Akademie für Kinder- und
Jugendmedizin (DAKJ) publizierten Leitfaden für Kinderschutz in Kliniken. Die 2013 implementierte und seit 2018 erlöswirksame OPS Kinderschutz (1-945.0 und 1-945.1) erfordert bei Überprüfung durch den MDK in der Regel diese Strukturen, vorzugsweise DGKiM akkreditierte Kinderschutzgruppen, die durch zertifizierte Kinderschutzmediziner geleitet werden.
Wie interveniert wird, hängt von der aktuellen Bedrohung des Kindeswohls, dem Verdachtsgrad und der Art der Misshandlung ab. Vage Verdachtsfälle in der kinderärztlichen Praxis erfordern andere Herangehensweisen als schwerwiegende unter Umständen vital bedrohliche Misshandlungen in stationärer Behandlung, ein sexueller Missbrauch ein anderes Herangehen als ein Verdacht auf ein Münchhausen-Syndrom-by-Proxy. Kinderschutz kann grundsätzlich nur multiprofessionell verwirklicht werden und erfordert Kenntnis der lokalen bzw. regionalen Kinderschutzangebote und Fachkräfte. Außer in weniger schweren Fällen, in denen aus kinderärztlicher Sicht eine Inanspruchnahme von Beratungs- und Unterstützungsangeboten ausreichend erscheint, ist in der Regel die Einbeziehung des Jugendamtes unabdingbar.
Die Intervention zielt primär auf den Schutz des betroffenen Kindes vor weiterer Schädigung. Daneben dient sie der Verarbeitung und gegebenenfalls Rehabilitation des Opfers und dem etwaigen Schutz weiterer betroffener Geschwister. Die Planung der Intervention erfordert ein multiprofessionelles Vorgehen und gründliches Abwägen der unter Umständen widerstreitenden Rechtsgüter. Dazu zählen das Recht des Kindes auf körperliche und seelische Unversehrtheit, Förderung und Liebe, das Recht, möglichst in der Herkunftsfamilie aufzuwachsen, das Recht auf Sicherung von Ansprüchen im Schädigungsfall, Rechtsbedürfnisse und Normen der Gesellschaft, das Recht der oft selbst jungen bzw. selbst früher traumatisierten Eltern/Täter auf soziale und psychologische Hilfe und Therapie sowie ein öffentliches Interesse an Gewaltprävention.
Rechtslage
Es besteht in Deutschland keine gesetzliche Meldepflicht; der Arzt hat ein Zeugnisverweigerungsrecht. Dem Rechtsgebot der ärztlichen Schweigepflicht nach § 203 StGB ist im Sinne einer sorgfältigen Güterabwägung jedoch das gefährdete Kindeswohl gegenüberzustellen. Kann das Kindeswohl nicht anders geschützt werden, darf die Schweigepflicht gebrochen werden (§ 34 StGB – rechtfertigender Notstand). Das gefährdete Kindeswohl ist in dieser Abwägung das höhere Rechtsgut. Zudem steht der Arzt zu seinem Patienten, dem gefährdeten Kind, in einer Garanten(„Beschützer“)-Stellung. Das bedeutet, er hat durch seine berufliche Qualifikation und das Arzt-Patient-Verhältnis eine höhere Verpflichtung, aktiv einer Rechtsgutverletzung entgegenzutreten, als ein Laie. Eine Verpflichtung zur Anzeige einer
Kindesmisshandlung besteht jedoch nicht. Entsprechende Regelungen finden sich im seit Januar 2012 in Kraft getretenen Bundeskinderschutzgesetz, das ein abgestuftes Hinwirken auf die Inanspruchnahme von Hilfen vorsieht und den Bruch der Schweigepflicht im Sinne einer sog. „Befugnisnorm“ regelt.
Welches Mittel am besten geeignet ist, das Kind zu schützen, sollte bei allen Überlegungen den Ausschlag geben. Der strafrechtliche Weg ist nicht primär auf den Kinderschutz, sondern auf Verurteilung eines Täters fokussiert. Der Verzicht auf eine gesetzliche Meldepflicht von Verdachtsfällen ermöglicht, das in Deutschland weitgehend akzeptierte Konzept „Hilfe statt Strafe“ zu praktizieren, wenn dies nach einer gründlichen Bewertung der Situation des Kindes als sinnvoll und erfolgversprechend erachtet wird. Da Hilfe, einschließlich Prävention, nicht selten auch die Mitteilung von Misshandlungs-, Missbrauchs- und Vernachlässigungsfällen an staatliche Stellen bedeutet (Jugendamt, Polizei, Staatsanwaltschaft), gehört zu einem umfassenden Konzept des Umgangs mit
Gewalt gegen Kinder auch die Kenntnis einschlägiger gesetzlicher Normen und ihrer Konsequenzen für die betroffenen Kinder und ihre Familien.