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Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Publiziert am: 22.02.2020

Schlafbezogene Essstörung

Verfasst von: Kai Spiegelhalder und Magdolna Hornyak
Die Schlafbezogene Essstörung gehört zu den Parasomnien. Wesentliches Charakteristikum ist das unwillkürliche Auftreten von Essepisoden aus dem NREM-Schlaf heraus. Für die Episoden besteht allenfalls partielle Erinnerung. Während der Episoden sind die meisten Betroffenen schwer erweckbar, andere wiederum sind bei Bewusstsein. Eine Gefährdung der Betroffenen kann in dem unbeabsichtigten Konsum von gesundheitsschädlichen Stoffen wie zum Beispiel Spülmittel bestehen.

Synonyme

Schlafstörung durch nächtliches Essen und Trinken

Englischer Begriff

sleep related eating disorder (SRED); nocturnal binge-eating disorder; night eating syndrome

Definition

Die Schlafbezogene Essstörung gehört zu den „Parasomnien“. Sie wurde in der ICSD-2 (International Classification of Sleep Disorders 2005) zur Gruppe der „Anderen Parasomnien“ gezählt, mit der „ICSD-3“ (2014) wurde sie in die Gruppe der Arousalstörungen aus dem NREM-Schlaf (NREM-Parasomnien) aufgenommen. Wesentliches Charakteristikum ist das unwillkürliche Auftreten von Essepisoden aus dem NREM-Schlaf heraus. Für die Episoden besteht allenfalls partielle Erinnerung. Während der Episoden sind die meisten Betroffenen schwer erweckbar, andere wiederum sind bei Bewusstsein. Eine Gefährdung der Betroffenen kann in dem unbeabsichtigten Konsum von gesundheitsschädlichen Stoffen wie zum Beispiel Spülmittel bestehen. Weitere subjektiv unangenehme oder gesundheitsschädigende Konsequenzen können Gewichtszunahme, morgendliche Appetitlosigkeit oder abdominale Beschwerden sein.

Genetik, Geschlechterwendigkeit

Das häufige gleichzeitige Vorkommen einer Schlafbezogenen Essstörung mit den typischen NREM-Parasomnien lässt einen gemeinsamen genetischen Hintergrund vermuten. Untersuchungen zur Genetik der Schlafbezogenen Essstörung sind jedoch bislang nicht publiziert. Etwa zwei Drittel der Betroffenen sind weiblich.

Epidemiologie und Risikofaktoren

Größere epidemiologische Studien zur Häufigkeit der Schlafbezogenen Essstörung sind bislang nicht durchgeführt worden. Eine Untersuchung an 1341 Frauen ergab eine Prävalenz von 1,6 % (Striegel-Moore et al. 2005). Die Schlafbezogene Essstörung scheint bei Patienten mit einer bekannten Essstörung erhöht zu sein. Eine frühere Studie wies bei 16,7 % der stationär und bei 8,7 % der ambulant behandelten Patienten mit einer Essstörung nächtliche Essattacken nach (Winkelman et al. 1999). In den publizierten Fallserien zeigte sich mit 66–83 % ein Überwiegen des weiblichen Geschlechts (Schenck et al. 1991; Winkelman et al. 1999). Die Erkrankung beginnt üblicherweise im jungen Erwachsenenalter. Die Schlafbezogene Essstörung ist häufig assoziiert mit „Schlafwandeln“, wobei Schlafwandeln dann meistens zuerst auftritt. Als mögliche Risikofaktoren für das Auftreten einer Schlafbezogenen Essstörung wurden das Schlafwandeln im Kindesalter und andere Schlafbezogene Erkrankungen wie das „Restless-Legs-Syndrom“ (RLS), PLMD („Periodic Limb Movement Disorder“), „Schlafbezogene Atmungsstörungen“ sowie „Zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen“ mit Schlafphasenverschiebung beschrieben. Das Auftreten einer Schlafbezogenen Essstörung kann durch Nikotinentzug, Alkoholentzug, strenge kalorienreduzierte Diät oder durch eine nicht schlafbezogene Essstörung begünstigt werden.

Pathophysiologie, Psychophysiologie

Die Pathophysiologie der Schlafbezogenen Essstörung ist nicht bekannt. Die Erkrankung zeigt sowohl die Charakteristika einer Parasomnie wie auch einer Essstörung, sodass möglicherweise die Regulation von zwei essenziellen Grundbedürfnissen, nämlich Essen und Schlafen, gestört ist. Die verhältnismäßig homogene Symptomatik bei unterschiedlichen Ursachen bzw. Komorbiditäten legt eine gemeinsame pathophysiologische Endstrecke bei der Auslösung der Schlafbezogenen Essstörung nahe.

Symptomatik

Von der Erkrankung sind vor allem Frauen betroffen. Der Erkrankungsbeginn liegt meistens im jungen Erwachsenenalter. Bis zur Diagnosestellung können mehrere Jahre vergehen. Bezüglich der Essepisoden kann eine vollständige oder partielle Amnesie bestehen. Nur eine Minderheit von schätzungsweise 15 % der Betroffenen kann sich an die Essepisoden vollständig erinnern. Die Essepisoden sind für die Betroffenen nicht kontrollierbar. Meistens werden hochkalorische Lebensmittel wie Süßigkeiten, Nudeln, Butter, manchmal Milch oder nicht genießbare tiefgefrorene Lebensmittel konsumiert. Eine Körperschemastörung, induziertes Erbrechen oder Laxanzienabusus lässt sich bei Patienten, die nicht primär an einer Essstörung erkrankt sind, im Regelfall nicht feststellen.

Beschwerden und Symptome

Die Patienten klagen meistens über morgendliche Appetitlosigkeit, Gewichtszunahme sowie die Befürchtung, während der Essepisoden giftige Substanzen zu sich zu nehmen oder sich nachts, beispielsweise bei Zubereitung der Lebensmittel, zu verletzen.

Erstmanifestation

Der Erkrankungsbeginn liegt meist im jungen Erwachsenenalter.

Auslöser

Mögliche Auslöser können andere schlafmedizinische Erkrankungen sein. Berichten zufolge kann eine Schlafbezogene Essstörung auch durch Medikamente wie Zolpidem, Triazolam, Lithium, atypische Neuroleptika oder anticholinerge Substanzen ausgelöst werden (Morgenthaler und Silber 2002). Nikotinentzug, Alkoholentzug, strenge kalorienreduzierte Diät oder eine nicht schlafbezogene Essstörung können das Auftreten einer Schlafbezogenen Essstörung begünstigen.

Psychosoziale Faktoren

Sind nicht bekannt.

Komorbide Erkrankungen

Beschrieben wurden Schlafwandeln, andere schlafmedizinische Erkrankungen (s. o. unter Epidemiologie und Risikofaktoren) sowie Essstörungen.

Diagnostik

Die Diagnose beruht auf der Fremdanamnese. Durch die polysomnographische Untersuchung kann eine komorbide schlafmedizinische Erkrankung festgestellt oder ausgeschlossen werden. Es können Zeichen einer Arousalstörung mit häufigen Aufwachepisoden aus dem NREM-Schlaf vorhanden sein, begleitet von desorientiertem Verhalten („Schlaftrunkenheit“).
Diagnosekriterien der Schlafbezogenen Essstörung (sleep related eating disorder, SRED) nach ICSD-3 sind:
A.
Während der Hauptschlafzeiten treten wiederholt Episoden von unwillkürlichem Essen und Trinken auf.
 
B.
Eines oder mehrere der folgenden Kriterien müssen während der nächtlichen Essepisoden vorhanden sein:
  • Konsum von Lebensmitteln in ungewöhnlicher Form bzw. Kombination oder von nicht zum Verzehr geeigneten Substanzen oder giftigen Stoffen;
  • gefährliches Verhalten während der nächtlichen Beschaffung oder dem Kochen der Lebensmittel;
  • gesundheitliche Beeinträchtigung durch die wiederholte nächtliche Nahrungsaufnahme.
 
C.
Während der Episoden sind die Betroffenen nicht oder nur eingeschränkt bei Bewusstsein, und es besteht dementsprechend keine oder eingeschränkte Erinnerung.
 
D.
Die Störung kann nicht durch eine andere Schlafstörung, internistische, neurologische oder psychische Erkrankung, Medikamentengebrauch oder Substanzmissbrauch erklärt werden.
 

Differentialdiagnostik

Von der Schlafbezogenen Essstörung müssen nächtliche Hypoglykämien (beispielweise bei Insulinom), Essen infolge von Magenschmerzen bei Magengeschwür und Refluxösophagitis („Gastroösophagealer Reflux“) oder das „Kleine-Levin-Syndrom“ abgegrenzt werden.

Prävention

Nicht bekannt.

Therapie

Bei medikamentös induzierter Schlafbezogener Essstörung sollte die auslösende Substanz abgesetzt werden, da in diesem Falle eine vollständig Rückbildung der Symptomatik eintreten kann (Morgenthaler und Silber 2002). In kleinen Fallstudien wurden positive Effekte von dem selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer Sertralin und dem Dopaminagonisten Pramipexol beschrieben.

Psychosoziale Bedeutung

Leidensdruck kann auf den Folgen der Erkrankung beruhen, beispielsweise auf Gewichtszunahme oder Tagesmüdigkeit.

Prognose

Es ist von einem chronischen Verlauf auszugehen.

Zusammenfassung, Bewertung

Bei der Schlafbezogenen Essstörung handelt es sich um eine Parasomnie, die bei einigen Patienten eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensqualität zur Folge hat. Weitere Forschung bezüglich Epidemiologie, Diagnostik, Pathophysiologie und Therapie ist erforderlich.
Literatur
American Academy of Sleep Medicine (2005) International Classification of Sleep Disorders Diagnostic and Coding Manual (ICSD-2). American Academy of Sleep Medicine, Westchester
Morgenthaler TI, Silber MH (2002) Amnestic sleep-related eating disorder associated with zolpidem. Sleep Med 3:323–327CrossRef
Schenck C, Hurwitz T, Bundlie S, Mahowald M (1991) Sleep-related eating disorders: polysomnographic correlates of a heterogenous syndrome distinct from daytime eating disorder. Sleep 14:419–431CrossRef
Striegel-Moore RH, Dohm FA, Hook JM et al (2005) Night eating syndrome in young adult women: prevalence and correlates. Int J Eat Disord 37(3):200–206CrossRef
Winkelman J (1998) Clinical and polysomnographic features of sleep-related eating disorder. J Clin Psychiatry 59:14–19CrossRef
Winkelman JW, Herzog DB, Fava M (1999) The prevalence of sleep-related eating disorder in psychiatric and non-psychiatric populations. Psychol Med 29(6):1461–1466CrossRef