Unter dem Begriff Essstörungen werden zumeist die Anorexia nervosa (AN), die Bulimia nervosa (BN) und die Binge-Eating-Störung (BES) verstanden. Das Ersterkrankungsalter für AN und BN liegt in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter bei deutlicher Bevorzugung des weiblichen Geschlechts. Für BES liegt das Ersterkrankungsalter bei ca. 28 Jahren. Die genaue Ätiologie dieser Störungen ist noch nicht geklärt; neben biologischen spielen soziokulturelle Faktoren und äußere Belastungen eine wichtige pathogenetische Rolle.
Essen hat verschiedene Funktionen: Es erfüllt einen biologischen Zweck zur Erhaltung des Lebens und es kann Quelle von Genuss sein. Es kann im sozialen Kontext (Festessen) eine wichtige kommunikative Rolle einnehmen. Für den, der hungert, kann der Nahrungsmangel quälend sein und für jenen, der versucht, intentional an Gewicht abzunehmen, kann Essen stark emotional besetzt werden (Panik, Ängste, Gier, Angst, die Kontrolle über das Essen zu verlieren).
Sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig an Essen kann gesundheitlich schädlich sein. Nahrungsverweigerung kann auf gesellschaftlicher Ebene ein politisches Druckmittel sein. Innerhalb einer Familie kann die Essensverweigerung einer Magersüchtigen – mangels anderer Ausdrucksmöglichkeiten – der Ausdruck eigenen Widerstandes, ein Versuch der Abgrenzung und eine Möglichkeit darstellen, aus Angst vor den Anforderungen an Erwachsene (Sexualität, Beziehungen, Beruf, Leistung) auf gewohnte kindliche Muster zu regredieren.
Ein gestörtes Essverhalten kommt ferner im Rahmen einiger psychischer Erkrankungen vor, wie etwa bei Depressionen, Manien oder Vergiftungswahn.
Für die Abgrenzung verschiedener Essstörungen spielt der Body-Mass-Index (BMI) eine Rolle. Der BMI berechnet sich nach der einfachen Formel:
Der BMI berücksichtigt nicht den Knochenbau bzw. die Muskelmasse, gibt aber eine grobe Abgrenzung von Untergewicht (BMI < 17,5), Normalgewicht (BMI 17,5–24,9), Übergewicht (BMI 25–29,9) und Adipositas (BMI > 30,0). Bei Kindern und Jugendlichen empfiehlt sich die Verwendung von Perzentiltabellen (Hebebrand et al. 1996).
Anorexia nervosa
Die bekannteste, aber keineswegs die verbreitetste Essstörung ist die Anorexia nervosa (Magersucht). Sie wurde erstmals von dem Londoner Arzt Richard Morton 1669 unter dem Begriff „nervous consumption“ beschrieben. Detaillierter wurde das klinische Bild der Magersucht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa gleichzeitig von Sir William Gull in England und Charles Lasègue in Frankreich beschrieben.
Diagnostische Kriterien für Anorexia nervosa nach ICD-10
Anorexia nervosa (F50.0)
1.
Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15 % unter dem erwarteten (entweder durch Gewichtsverlust oder nie erreichtes Gewicht) oder Body-Mass-Index von 17,5 kg/m2 oder weniger. Bei Patienten in der Vorpubertät kann die erwartete Gewichtszunahme während der Wachstumsperiode ausbleiben.
2.
Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch:
a.
Vermeidung von hochkalorischen Speisen; und eine oder mehrere der folgenden Möglichkeiten:
Körperschemastörung in Form einer spezifischen psychischen Störung: die Angst, zu dick zu werden, besteht als tiefverwurzelte überwertige Idee; die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest.
4.
Eine endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse. Sie manifestiert sich bei Frauen als Amenorrhö und bei Männern als Libido- und Potenzverlust. Eine Ausnahme stellt das Persistieren vaginaler Blutungen bei anorektischen Frauen mit einer Hormonsubstitutionstherapie zur Kontrazeption dar. Erhöhte Wachstumshormon- und Kortisolspiegel, Änderung des peripheren Metabolismus von Schilddrüsenhormonen und Störungen der Insulinsekretion können gleichfalls vorliegen.
5.
Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt (Wachstumsstopp; fehlende Brustentwicklung und primäre Amenorrhö beim Mädchen; bei Knaben bleiben die Genitalien kindlich). Nach Remission wird die Pubertätsentwicklung häufig normal abgeschlossen, die Menarche tritt aber verspätet ein.
Untertypen
F50.00 Anorexia ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc.) – dazugehörige Begriffe: asketische Form der Anorexia nervosa, passive Form der Anorexia nervosa, restriktive Form der Anorexia nervosa
F50.01 Anorexia mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc., u. U. in Verbindung mit Heißhungerattacken) – dazugehörige Begriffe: aktive Form der Anorexia nervosa, bulimische Form der Anorexia nervosa.
F50.1 Atypische Anorexia nervosa, ein oder mehrere diagnostische Merkmale der Anorexia nervosa (F50.0) z. B. Amenorrhö oder signifikanter Gewichtsverlust fehlen, bei ansonsten ziemlich typischem klinischem Bild. Auch für Patientinnen, die alle Kernsymptome aufweisen, allerdings in leichterer Ausprägung, kann diese Rubrik Verwendung finden. Die Rubrik ist nicht gedacht für anorexieähnliche Essstörungen, die auf einer bekannten körperlichen Krankheit beruhen.
Bulimia nervosa
Im Jahr 1979 wurde von Russell erstmals das Krankheitsbild der Bulimia nervosa beschrieben, das kurz danach Eingang in die amerikanischen diagnostischen Kriterien für psychische Erkrankungen, dem Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders (DSM-III), und später in DSM-IV-TR und die ICD-10-Kriterien sowie in die neuen amerikanischen DSM-5-Kriterien gefunden hat.
Diagnostische Kriterien für Bulimia nervosa und weitere Essstörungen nach ICD-10
F50.2 Bulimia nervosa
Eine andauernde Beschäftigung mit Essen, eine unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln; die Patientin erliegt Essattacken, bei denen große Mengen Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden.
Die Patientin versucht, dem dick machenden Effekt der Nahrung durch verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern: selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeitweilige Hungerperioden, Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika. Wenn die Bulimie bei Diabetikerinnen auftritt, kann es zu einer Vernachlässigung der Insulinbehandlung kommen.
Die psychopathologische Auffälligkeit besteht in einer krankhaften Furcht davor, dick zu werden; die Patientin setzt sich eine scharf definierte Gewichtsgrenze, weit unter dem prämorbiden, vom Arzt als optimal oder „gesund“ betrachteten Gewicht.
Häufig lässt sich in der Vorgeschichte mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren eine Episode einer Anorexia nervosa nachweisen. Diese frühere Episode kann voll ausgeprägt gewesen sein oder war eine verdeckte Form mit mäßigem Gewichtsverlust und/oder einer vorübergehenden Amenorrhö.
F50.3 Atypische Bulimia nervosa
Ein oder mehrere Kernmerkmale der Bulimia nervosa (F50.2) fehlen, bei ansonsten recht typischem klinischen Bild. Die Patienten können vom Normalgewicht nach oben oder unten abweichen oder Syndrome mit depressiven Symptomen aufweisen.
F50.4 Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen
Übermäßiges Essen als Reaktion auf belastende Ereignisse mit daraus resultierendem Übergewicht. Trauerfälle, Unfälle, Operationen und emotional belastende Ereignisse können von einem „reaktiven Übergewicht“ gefolgt sein. Übergewicht als Ursache einer psychischen Störung ist unter dieser Rubrik nicht zu codieren, sondern unter F38 (sonstige affektive Störungen), F41.2 (Angst und depressive Störung, gemischt) oder F48.9 (nicht näher bezeichnete neurotische Störung) zusammen mit einer Codierung für den Typ des Übergewichts. Übergewicht als Nebenwirkung einer lang dauernden Behandlung mit gewichtssteigernden Medikamenten (z. B. Neuroleptika, Antidepressiva) ist unter E66.1 zu klassifizieren. Übergewicht kann eine Motivation für Fasten oder Diät darstellen, oder aber andere psychische Symptome (Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, Ruhelosigkeit, Ängste) nach sich ziehen. Dies würde unter F30–39 oder F40–48 erfasst, wobei Fasten zusätzlich unter F50.8 (sonstige Essstörungen) klassifiziert werden sollte.
F50.5 Erbrechen bei sonstigen psychischen Störungen
Erbrechen im Zusammenhang mit einer dissoziativen Störung (F44), einer hypochondrischen Störung (F45.2) oder im Sinne einer psychogenen Hyperemesis gravidarum.
F50.8 Sonstige Essstörungen
Psychogener Appetitverlust, nichtorganische Pica (Essen von Papier, Sand etc.) bei Erwachsenen.
F50.9 Nicht näher bezeichnete Essstörung.
Die diagnostischen Kriterien der ICD-10 für alle psychischen Erkrankungen befinden sich in Überarbeitung. 2013 wurden die neuen amerikanischen Kriterien (DSM-5) publiziert.
Binge-Eating-Störung (BES)
In den letzten Jahren fand die Binge-Eating-Störung (BES) eine zunehmende Beachtung. In den amerikanischen DSM-5-Kriterien ist die BES definiert als eine oft mit Übergewicht einhergehende bulimische Essstörung ohne Erbrechen und ohne andere einer Gewichtszunahme gegensteuernde Maßnahmen.
Diagnostische Kriterien der Binge-Eating-Störung nach den neuen amerikanischen DSM-5-Kriterien (American Psychiatric Association 2013)
A.
Wiederholte Episoden von Essanfällen. Eine Episode von „Essanfällen“ ist durch die beiden folgenden Kriterien charakterisiert:
(1)
Essen einer Nahrungsmenge in einem abgrenzbaren Zeitraum (z. B. in einem 2-h-Intervall), die definitiv größer ist als die meisten Menschen in einem ähnlichen Zeitraum unter ähnlichen Umständen essen würden.
(2)
Ein Gefühl des Kontrollverlusts über das Essen während der Episode (z. B. ein Gefühl, dass man mit dem Essen nicht aufhören kann bzw. nicht kontrollieren kann, was und wie viel man isst).
B.
Die Episoden von Essanfällen treten gemeinsam mit mindestens 3 der folgenden Symptome auf:
(1)
Wesentlich schneller essen als normal,
(2)
essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl,
(3)
essen großer Nahrungsmengen, wenn man sich körperlich nicht hungrig fühlt,
(4)
alleine essen aus Verlegenheit über die Menge, die man isst,
(5)
Ekelgefühle gegenüber sich selbst, Deprimiertheit oder große Schuldgefühle nach dem übermäßigen Essen.
C.
Es besteht deutliches Leiden wegen der Essanfälle.
D.
Die Essanfälle treten im Durchschnitt mindestens einmal in der Woche über drei Monate auf.
E.
Die Essanfälle gehen nicht mit dem regelmäßigen Einsatz von unangemessenen kompensatorischen Verhaltensweisen einher und treten nicht ausschließlich im Verlauf einer Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa auf.
Kardinalsymptome von Essstörungen
Hilde Bruch (1973) formulierte für AN, BN („thin-fat-people“) und psychogene Adipositas folgende gemeinsame Kardinalbereiche:
1.
Störung des Körperbildes,
2.
Störung der interozeptiven, propriozeptiven und emotionalen Wahrnehmung und
3.
ein alles durchdringendes Gefühl eigener Unzulänglichkeit.
Diese 3 Bereiche weisen auf viele bedeutsame Gemeinsamkeiten der in diesem Kapitel abgehandelten Essstörungen hin, und Bruchs Konzeptualisierung der Essstörungen erwies sich für spätere empirische Untersuchungen als sehr anregend.
Pathophysiologie und Ätiopathogenese
Unter Pathophysiologie versteht man, wie der Körper unter pathologischen Veränderungen abweichend funktioniert. Die Pathogenese beschreibt, welche Funktionsmechanismen zu der pathologischen Veränderung führen. Die Ätiopathogenese fragt nach den ursächlichen Bedingungen der Krankheitsentstehung und -entwicklung.
Für die Entstehung von anorektischen und bulimischen Essstörungen werden folgende relevante Faktoren diskutiert:
Soziokulturelle Faktoren (vermittelt durch Familie, Schule und Massenmedien),
biologische Faktoren (genetisch, neurochemisch und pathophysiologisch),
gestörte Interaktions- und Beziehungsmuster in der Familie und andere chronische Schwierigkeiten und belastende Lebensereignisse (Verlust von Bezugsperson, Konflikt mit Partner),
entwicklungsbedingte Faktoren (Störungen der frühen und späteren Kindheit und Pubertät).
Soziokulturelle Faktoren
Essen (z. B. in Form eines Gastmahls) und Nichtessen (z. B. vorösterliches Fasten, Ramadan) wurden schon immer in hohem Maße von kulturellen oder religiösen Geboten reguliert. Wie und was wir mit wem wo essen determiniert in hohem Maße die Kultur, in der wir leben. So erstrecken sich zahlreiche Gebote des Talmuds auf Fragen der Essenszubereitung.
Schlankheitsideal industrialisierter Länder
Noch nie in der Geschichte der Menschheit lebte ein so hoher Anteil der Bevölkerung der Industrieländer über so lange Zeit im Nahrungsüberfluss. Aufgrund der Evolution der Menschheit sind wir biologisch für Nahrungsmangel relativ gut gerüstet, für die Bewältigung von chronischem Nahrungsüberfluss dagegen nicht. Das Schlankheitsideal entwickelte sich parallel zum Nahrungsüberfluss gerade in diesen entwickelten Industrieländern. Ein hoher Prozentsatz insbesondere der Frauen in diesen Ländern macht immer wieder Diäten und fastet, was körperliche Reaktionen nach sich zieht, die in eine Essstörung hineinführen können.
Biologische Faktoren
Genetik
Genetische Faktoren scheinen insbesondere bei der Anorexia nervosa eine bedeutsame Rolle zu spielen.
Zwillings- und Familienstudien
Bei Magersucht zeigen Studien aus den 80er-Jahren hohe Konkordanzraten für monozygote Zwillinge. Für Bulimia nervosa scheinen genetische Faktoren nicht ganz so stark ausgeprägt zu sein (Fichter und Nögel 1990). Große Familien-Aggressionsstudien zeigen ein erhöhtes Risiko für die AN-Erkrankung für Geschwister und für affektive Störungen bei Familienangehörigen (Steinhausen et al. 2015)
Viele molekulargenetischen Untersuchungen zu Anorexia nervosa sind Assoziationsstudien (familiäre Fallkontrollstudien, wobei Magersüchtige mit gesunden Kontrollpersonen verglichen werden). Solche Studien erfordern Hypothesen zu Kandidatengenen. Die vorliegenden Ergebnisse aus Neurotransmitterstudien veranlassten Wissenschaftler in Assoziationsstudien bei Magersucht Genorte nahe den Rezeptoren für Monoamine, wie Serotonin, Dopamin oder Noradrenalin, zu untersuchen.
Eine Metaanalyse von Gorwood et al. (2003) bestätigte eine positive Assoziation des 5-HT2A-Rezeptor-Gens und Magersucht. Etwa 1/3 der Studien, die diesen Zusammenhang untersuchten, fanden eine positive Assoziation. Zwei Studien, die sich mit der Assoziation zwischen dem Östrogenrezeptor-β-Gen und Essstörungen befassten, wiesen auf eine Assoziation mit Anorexia nervosa, aber auch mit Bulimia nervosa hin. Östrogen reguliert auch die Serotonin-Gentranskription (z. B. 5-HT2A). Interaktionen zwischen Serotonin und Östrogenen beeinflussen möglicherweise das genetische Risiko für Magersucht. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Magersucht meist in der Pubertät beginnt und eine frühe Menarche einen Risikofaktor für die Entstehung von Anorexia nervosa darstellt.
In Linkage-Analysen werden Familien mit einem oder mehreren Betroffenen hinsichtlich einer größeren Anzahl von genetischen Markern im Genom untersucht, die mit Magersucht verbunden sein kann („linked“). Damit können chromosomale Regionen identifiziert werden. Es wird dabei untersucht, ob Verwandte, die eine Magersucht haben, mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Markerallele auf bestimmten Markern auf Chromosomen aufweisen. Bergen et al. (2003) fanden starke Belege für Linkage auf Chromosom 1p nach Einengung der Stichprobe auf restriktiv Magersüchtige. Eine Verstärkung dieses Effektes wurde beobachtet, wenn die Kandidatengene des ™-Opiodid-Rezeptors (OPRD1) und Serotonin1d-Rezeptors (5-HTR1d-Gen) mit berücksichtigt wurden. Andere genetische Studien erbrachten keine replizierten Ergebnisse (Clarke et al. 2014; Scott-Van Zeeland et al. 2014). Auch Studien mit einem (neuen) „GWAS-Ansatz“ (Genome Wide Association Studies) erfordern riesige Fallzahlen und erbrachten bisher zur Genetik von AN, BN und BES keine konklusiven Ergebnisse (Boraska et al. 2014). Zukünftige Forschungen werden hier mit der Zeit zu überzeugenderen Ergebnissen kommen.
Hypothalamus
Eine wichtige Rolle für die Regulation des Essverhaltens
kommt dem Hypothalamus zu. Auf der Basis von Läsionsuntersuchungen kann man grob ein „Esszentrum“ im lateralen Hypothalamus und ein „Sättigungszentrum“ im medialen Hypothalamus lokalisieren. Eine Läsion im lateralen Hypothalamus führt zu einer Appetitverminderung und folglich zu Gewichtsabnahme. Eine Läsion im medialen Hypothalamus zieht gesteigerten Appetit und in der Folge Übergewicht nach sich. Der Hypothalamus steht mit anderen Gehirnregionen in enger Verbindung. Auch reagiert er auf periphere Signale aus dem Gastrointestinaltrakt.
Reduktion der Nahrungszufuhr
Folgende körpereigene Substanzen können den Hunger bzw. die Nahrungszufuhr reduzieren:
bestimmte Peptide, die teilweise sowohl zentral als auch peripher (z. B. im Verdauungstrakt) freigesetzt werden: Cholezystokinin (CCK), Glukagon, Bombesin, Gastrin-releasing-Peptid sowie Somatostatin, Calcitonin-gene-related-Peptid und Neurotensin;
das Peptid „Leptin“, das in experimentellen Untersuchungen isoliert und dessen Genort auf der Basis molekulargenetischer Untersuchungen identifiziert wurde; dem Leptin kommt eine wichtige Funktion für die Regulation von Hunger und Sättigung des Körpergewichts zu das Monoamin Serotonin.
Steigerung der Nahrungszufuhr
Andere Substanzen, wie das Neuropeptid Y und das Peptid YY (beide in der Bauchspeicheldrüse sezerniert), erhöhen dagegen die Nahrungszufuhr. Weitere Substanzen, die die Nahrungszufuhr erhöhen, sind: Galanin, β-Endorphin, Dynorphin, Growth-hormone-releasing-Hormon und das Monoamin Noradrenalin. Für die Nahrungsaufnahme spielen daneben auch andere Faktoren der Nahrung selbst eine Rolle: Schmackhaftigkeit, Kaloriengehalt, Anteil der Kohlehydrate, Fette und Proteine.
Konditionierte Reaktionen des Essverhaltens
In tierexperimentellen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Stressbedingungen (Schmerzreiz, Immobilisation bei Ratten) bzw. eine Erhöhung der Palatibilität (Schmackhaftigkeit) ein experimentell erzeugtes Übergewicht verursachen können.
Patientinnen mit Anorexia und Bulimia nervosa haben in der Regel eine deutliche Wahrnehmungsstörung für Hunger und Sättigung. Es ist offen, inwieweit dies Ursache oder Folge des gestörten Essverhaltens ist.
Endokrine Veränderungen
Bei Magersüchtigen und in geringerem Ausmaß auch bei Patientinnen mit Bulimia nervosa finden sich zahlreiche endokrine Veränderungen. Da sich ähnliche Veränderungen auch bei Mangelernährung finden und experimentell in Fastenstudien induzierbar sind, ist es in hohem Maße wahrscheinlich, dass es sich dabei um Folgen und nicht Ursachen des gestörten Essverhaltens handelt.
Glukokortikoide spielen bei der Regulation des Stoffwechsels von Kohlehydraten, Proteinen und Fetten eine wichtige Rolle und sind deshalb auch von Bedeutung für Anpassungsvorgänge an wechselnde Nahrungszufuhr und Ernährungszustände. Glukokortikoide induzieren die Glukoneogenese und den Proteinkatabolismus in der Leber und beeinflussen Wasserhaushalt, vaskuläre Reaktivität, Immunsystem und psychische Funktionen (depressive oder euphorische Zustände).
Afferenzen aus dem limbischen System modulieren die Ausschüttung von CRH und Arginin-Vasopressin (AVP). Beide Peptide stimulieren die Ausschüttung von Adrenokortikotropin (ACTH) aus der Hypophyse, das seinerseits die Kortisolsekretion aus der Nebenniere stimuliert. In einer Feedbackschleife führen hohe Kortisolspiegel im Blut zu einer Verminderung der CRH-Sekretion. CRH hat auch Auswirkungen auf Psychomotorik, Schlaf, sexuelles Verhalten und Essverhalten.
Bei untergewichtigen Magersüchtigen findet sich (wie bei Mangelernährung) eine deutliche Erhöhung der Kortisolsekretion über 24 h und eine Zunahme sekretorischer Episoden. Die Feedbacksensitivität der endogenen Kortisolsekretion auf exogene Verabreichung von Dexamethason nimmt ab. Auf intravenöse Gabe von CRH erfolgt eine abgeschwächte ACTH- und Kortisolreaktion. Die Veränderungen im HPA-System bei Magersucht (und Bulimia nervosa) normalisieren sich schnell – innerhalb von Stunden oder Tagen – nach Normalisierung der Nahrungszufuhr (Fichter et al. 1986).
Möglicherweise kommt es bei Essstörungen zu einer Wechselwirkung zwischen Verhaltensänderungen und biologischen Veränderungen, durch die ein Fortschreiten der Erkrankung begünstigt werden kann. Metabolisch-endokrinen und neurochemischen Veränderungen käme danach eine bedeutsame pathophysiologische, nicht aber eine ätiologische Rolle zu.
Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden- (HPG-)System
Dieses wird auf hypothalamischer Ebene durch das Gonadotropin-releasing-Hormon (GnRH) und auf hypophysärer Ebene durch das Luteinisierungshormon (LH) und das Follikel-stimulierende-Hormon (FSH) gesteuert.
Amenorrhö ist gemäß den diagnostischen Kriterien von ICD-10 ein obligates Symptom der Magersucht; nach dem neuen DSM-5-Kriterium ist Amenorrhö für die Diagnose Anorexia nervosa nicht mehr erforderlich. Die Plasmaspiegel von Östradiol und Progesteron sind bei untergewichtigen Magersüchtigen außerordentlich niedrig. Auch das Volumen der Ovarien ist im kachektischen Zustand erheblich vermindert, ebenso die LH- und FSH-Plasmaspiegel. Die LH- und FSH-Sekretionsmuster über 24 h sind bei stark untergewichtigen Magersüchtigen wie bei Kindern (infantil) und normalisieren sich graduell mit zunehmender Gewichtsnormalisierung.
Nach vollständiger Ernährungsrehabilitation kommt es zu einer Normalisierung des HPG-Systems. Auch wenn es keine Anhaltspunkte für eine dauerhafte Einschränkung der Fertilität ehemals Magersüchtiger gibt, zeigen Langzeitstudien, dass ehemals magersüchtige Frauen vergleichsweise seltener Kinder gebären. Auch Frauen mit Bulimia nervosa zeigen ovarielle Funktionsstörungen: Etwa 50 % hatten anovulatorische Zyklen und weitere 40 % Störungen der Lutealphase (Fichter 1989). Übergewichtige Frauen weisen gehäuft polyzystische Ovarien und einen Hyperandrogenismus auf.
Weitere endokrine Befunde
Insulin, Leptin und Neurotropine
Insulinsensitivität und -konzentration spielen eine wichtige Rolle hinsichtlich des Grundumsatzes und der Anpassung an Mangelernährung. Untergewichtige Magersüchtige weisen Störungen der Glukosetoleranz mit erhöhten Insulin- und Glukosekonzentrationen nach Testmahlzeiten auf.
Leptin wird in Fettzellen sezerniert. Der Blutspiegel ist niedrig bei AN (Untergewicht) und hoch bei Adipositas. Mit der Gewichtszunahme bei AN steigt der Blutspiegel von Leptin. Yilmas et al. (2014) untersuchten 20 genotypisierte Marker für Leptin, Melanokortin und Neurotropin-Systeme bei AN-, BN-Patienten und gesunden Kontrollen und fanden keine signifikanten Unterschiede in den Allel-Frequenzen.
Freie Fettsäuren und Ketonkörper
Bei Lipidabbau, wie er unter Mangelernährungsbedingungen besteht, erhöhen sich die Plasmakonzentrationen von freien Fettsäuren und Ketonkörpern (z. B. β-Hydroxybuttersäure, BHBA). Diese können als Marker für eine negative Energiebilanz in den zurückliegenden Stunden und Tagen betrachtet werden.
Bei Magersucht ist die Aktivität des sympathischen Nervensystems vermindert. Das klinische Korrelat dazu sind die bei Magersucht anzutreffenden Symptome Bradykardie, Hypotonie und Störung der Regulation der Körpertemperatur.
Auch für Serotonin und dessen Metaboliten (z. B. 5-HIAA) fand sich bei untergewichtigen Magersüchtigen eine verminderte Aktivität.
Computertomografische Befunde
Computertomografische Untersuchungen zeigten bei untergewichtigen Magersüchtigen in etwa 80 % eine Erweiterung der äußeren Liquorräume; diese bildet sich mit einer Gewichtsnormalisierung zumindest weitgehend zurück. Uher und Treasure (2004) berichteten über strukturelle Läsionen im rechten frontalen und temporalen Kortex in Zusammenhang mit der Entstehungspsychopathologie. Neuere Untersuchungen mit „Functional Imaging“ und anderen Techniken zeigen detaillierte Veränderungen in der zerebralen Bildgebung bei AN, aber auch BN im Vergleich zu Kontrollpersonen auf (Vocks et al. 2011; Marsh et al. 2011; Frank und Kaye 2012 (Review); Yan et al. 2013; Bailer et al. 2013; Kaye et al. 2013; Wierenga et al. 2015).
Einfluss äußerer Faktoren
Anorektische und bulimische Essstörungen wie AN und BN haben ihren Beginn meist in der Adoleszenz, d. h. an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein. Wenn eine schwerere AN oder BN erst deutlich nach der Adoleszenz auftritt, findet sich meist auch eine (bisweilen abortive) Essstörungsepisode in der Früh-, Mittel- oder Spätadoleszenz.
Konfliktbereich Adoleszenz
In dieser Zeit finden innere sowie äußerlich sichtbare biologische Veränderungen statt. In der Adoleszenz ändern sich die Anforderungsmuster: Pflichten, Verantwortungsübernahme und Beziehungen zum anderen Geschlecht gewinnen zunehmend an Bedeutung. Lebensereignisse und Belastungen, wie sie von Patientinnen mit anorektischen und bulimischen Essstörungen vor oder bei Beginn der Erkrankung geschildert werden, entsprechen deshalb häufig den Ereignissen, Problemen und Konflikten, wie sie in dieser Altersgruppe zu erwarten sind.
Von den drei eingangs genannten, von Bruch (1973) formulierten Kardinalbereichen anorektischer und bulimischer Essstörungen hob Bruch das „alles durchdringende Gefühl eigener Unzulänglichkeit“ ganz besonders hervor. Ein tief sitzender Mangel an Selbstvertrauen macht Menschen vulnerabler für belastende Ereignisse und chronische Schwierigkeiten. Die Essstörung kann als ein (zum Scheitern verurteilter) Lösungsversuch gesehen werden, die innere Balance wiederzufinden.
Mit Fortschreiten der Essstörung werden die Gedanken der Betroffenen zunehmend auf Themenbereiche wie Essen, Fasten, Diät, Ernährung, Gewicht, Figur und Schlankheit reduziert. Andere Interessen und damit auch andere mögliche Problemfelder werden ausgeblendet. Damit erscheinen sie weniger bedrohlich, können so aber auch nicht gelöst werden.
Die Magersüchtige kann sich selbst und ihrer Umgebung ihre Willensstärke durch Fasten täglich immer neu beweisen. Bulimische Patientinnen finden vorübergehende Erleichterung in Heißhungeranfällen, wobei die Angst vor dem Dickwerden durch gegensteuernde Maßnahmen wie Erbrechen gemindert wird.
Phobisches Vermeidungsverhalten bezüglich Essen und Reifungskonflikten im Jugendalter wurden von Crisp (1980) als besonders wichtig für die Pathogenese der Magersucht hervorgehoben. Sexuelle Ängste, Ängste in Verbindungen mit neuen Anforderungen und Verantwortungen im Erwachsenenalter können im Rahmen einer AN durch eine „Regression“ in kindliche Muster vermieden werden. Ängste in der Kindheit können ein Risikofaktor für das Auftreten einer AN in der Adoleszenz sein.
Familieninteraktion
Es wurde versucht, spezielle Charakteristika der Familieninteraktionen und -konflikte für magersüchtige bzw. bulimische Patientinnen empirisch zu belegen. Die überfürsorgliche Mutter und der emotional und/oder persönlich abwesende Vater in der Magersuchtfamilie stellen ein Stereotyp dar, das allerdings empirisch nicht fundiert ist. Auch liegt der Zeitpunkt der Erfassung der Familieninteraktionen, -konflikte und -probleme bei kasuistischen Schilderungen und empirischen Untersuchungen einige, oft erhebliche Zeit nach Beginn der Erkrankung, sodass Ursachen und Folgen aufgrund methodischer Probleme nur schwer auseinandergehalten werden können.
Es gibt viele plausible Erklärungen und Beschreibungen möglicher Zusammenhänge zwischen familiären Konflikten und der Entstehung von anorektischen und bulimischen Essstörungen. Vieles davon ist derzeit aber nicht ausreichend empirisch fundiert. Dies gilt teilweise auch für die Wirksamkeit familientherapeutischer Interventionen. In einer der wenigen fundierten empirischen Arbeiten dazu konnten Russell et al. (1987) aufzeigen, dass die Familientherapie bei jüngeren Magersüchtigen einer Einzelpsychotherapie überlegen war, während dies für ältere Magersüchtige nicht zutraf. Einige neuere Psychotherapieansätze (z. B. Family-based Therapie, s. unten) bauen auf diesem Ansatz auf.
Sonstige pathogenetische Faktoren
Gedrosseltes Essverhalten
Ein hoher Anteil der 11- bis 18-jährigen Mädchen in westlichen Industrieländern hat bereits mindestens einmal eine Diät gemacht. Der Druck, eine schlanke Figur zu halten oder zu bekommen, ist besonders für Mädchen und Frauen hoch. Diäten wirken kurzfristig. Vermutlich führen häufige Diäten langfristig eher zum gegenteiligen Effekt einer Gewichtszunahme (Jojo-Effekt). Gefährdet dürften insbesondere Jugendliche sein mit niedrigem Selbstwertgefühl, die dies durch übermäßige Anpassung an das herrschende Schlankheitsideal zu kompensieren versuchen. Unter gedrosseltem Essverhalten („restraint eating“) ist gemeint, dass Menschen absichtlich weniger Nahrung zu sich nehmen, als zur Deckung des Energiebedarfs erforderlich ist. Dieses Konzept lenkt die Aufmerksamkeit mehr auf Beobachtung und Erfassung des Essverhaltens und damit verbundener Motive.
Metabolische Veränderungen
Gebremstes Essverhalten führt zu metabolischen Veränderungen, die durch erhöhte Werte von freien Fettsäuren und Ketonkörpern leicht nachweisbar sind. Diese und zahlreiche andere metabolische Veränderungen (neuroendokrine Sekretion, Neurotransmitter) zeigen sich hauptsächlich bei einer temporären Änderung der Nahrungszufuhr und sind nicht so sehr vom absoluten Gewicht abhängig. Damit sind sie nicht diagnose- oder gewichtsspezifisch, sondern Ausdruck gezügelten Essverhaltens. Tab. 1 stellt Zusammenhänge zwischen Essverhalten (gebremst/ungebremst) und dem Körpergewicht dar.
Tab. 1
Konzept des gebremsten Essverhaltens („restraint eating“)
Sollwerttheorie („setpoint“) zur Regulation des Körpergewichts
Unser Körper vermag es, das eigene Gewicht und wohl auch den Anteil der Fettmasse zu erfassen. Endogene Peptide, wie z. B. Leptin, spielen in diesem Regelkreis der Gewichtsregulation eine sehr wichtige Rolle. Nach der kybernetischen Sollwerttheorie erfolgen biologische Gegenregulationen, wenn das reale Gewicht von dem zentral vorgegebenen Sollgewicht abweicht. Medikamente, die den Appetit erhöhen oder vermindern, können dieser Theorie zufolge den Sollwert zumindest zeitweise verändern. Unter freilaufenden (nicht gebremsten) Bedingungen stellt sich unser Stoffwechsel so ein, dass das Sollwertgewicht erreicht bzw. gehalten wird.
Dieser Zusammenhang wird in Abb. 1 verdeutlicht. Sie zeigt den tierexperimentellen Gewichtsverlauf während und nach Nahrungsdeprivation bzw. Gabe einer appetithemmenden Substanz (Amphetamin). Mit Ende der Nahrungsdeprivation bzw. nach Beendigung der Amphetamingabe erfolgt eine zügige Normalisierung des Gewichts auf den Sollwert hin.
×
Rolle intrauteriner und frühkindlicher Belastungen
Virusexpositionen „in utero“ (z. B. Windpocken, Röteln) können das Risiko, später eine Magersucht zu entwickeln, erhöhen (Favaro et al. 2011). Auch die möglichen Einflüsse frühkindlicher Belastungen sind aufgrund methodischer Schwierigkeiten empirisch nur unzureichend untersucht.
Essstörungen im Kontext affektiver Erkrankungen
Folgende Befunde sprechen für enge Zusammenhänge zwischen bulimischen und anorektischen Essstörungen und affektiven Erkrankungen wie Angsterkrankungen oder Depressionen:
Systematische Familienstudien zeigen, dass affektive Störungen bei Familienangehörigen von Patientinnen mit Anorexia bzw. Bulimia nervosa überzufällig häufig vorkommen. Auch bei Patientinnen mit Essstörungen kommen affektive Erkrankungen gehäuft vor.
Eine mögliche Erklärung für das gehäufte Auftreten depressiver Symptome bei Essstörungen ist allerdings auch, dass es sich dabei zumindest teilweise um die Folge des gestörten Ernährungsverhaltens (zu niedriger Kohlehydratanteil in der Nahrung) handelt.
Magersucht und Esssucht im Kontext von Suchterkrankungen
Der Begriff Magersucht leitet sich etymologisch von dem Wort „siechen“ ab und hat ursprünglich nichts mit den Begriffen Sucht und Abhängigkeit zu tun. Dennoch gibt es zwischen anorektischen und bulimischen Essstörungen einerseits und Abhängigkeitserkrankungen andererseits einen gewissen Überlappungsbereich.
Ein Teil der Essgestörten (insbesondere restriktiv Magersüchtige) lehnt den Genuss von Suchtmitteln gänzlich ab. Dafür findet sich bei bulimischen Patientinnen nicht selten ein erhöhter Alkoholkonsum bzw. -missbrauch. Bulimische Frauen zeigen ähnlich wie Frauen mit Alkohol- oder Drogenmissbrauch erhöhte Werte in Fragebogenskalen, die Impulsivität, Depression, Aggressivität, Angst und Rückzug erfassen. Magersucht und „Esssucht“ primär als Suchterkrankungen aufzufassen, würde allerdings dem komplexen Bild dieser Erkrankungen nicht gerecht werden.
Folgen gestörten Essverhaltens
Starvationsmodell
Zahlreiche Veränderungen der endokrinen Regulation und des Neurotransmitterhaushaltes sind Folge und nicht Ursache einer anorektischen oder bulimischen Essstörung. Das Starvationsmodell erweist sich hier als hilfreich. Sowohl kachektisch Magersüchtige als auch gesunde Probanden unter Fastenbedingungen weisen u. a. folgende Gemeinsamkeiten auf:
Hyperkortisolismus mit unzureichender Kortisolsuppression nach Gabe von Dexamethason,
Reduktion nächtlicher sekretorischer Spikes der Prolaktinsekretion,
Regression des 24-h-Sekretionsmusters des luteinisierenden Hormons (LH) und des Follikel-stimulierenden-Hormons (FSH),
Veränderungen auf der Schilddrüsenachse mit verminderter T3- und TSH-Ausschüttung nach Stimulation mit TRH (Thyreotropin-releasing-Hormon) und ein verminderter Noradrenalin-Turnover (Fichter et al. 1986; Fichter 1992).
Erbrechen
Im Zusammenhang mit Erbrechen kommt es zu Elektrolytverlusten (Hypokaliämie, Hypochlorämie bei hypokaliämischer Alkalose), die auch letale Herzrhythmusstörungen oder eine irreversible chronische Niereninsuffizienz nach sich ziehen können. Bei bulimischen Essstörungen kommt es vermutlich durch Magensaftverätzungen nach Erbrechen zu ausgeprägter Karies und Sialadenose sowie Refluxösophagitis.
Folgen pathologischen Übergewichts
Bekanntlich sind kardiovaskuläre Erkrankungen, Hypertension und Diabetes häufige Folge von pathologischem Übergewicht bei andromorpher Fettverteilung. Bei adipösen Frauen ist das Risiko für ein Karzinom an Ovarien, Uterus, Mammae und Gallenblase, für Männer das Risiko für Karzinome an Kolon, Rektum oder Prostata erhöht.
Neuropsychologische Auffälligkeiten
Neuerdings wurden neuropsychologische Auffälligkeiten bei Anorexia nervosa wie „impaired behavioral response shifting“ und „impaired set shifting“ herausgearbeitet, die auch bei genesenen Magersüchtigen zu finden sind (Zastrow et al. 2009; Nakazato et al. 2009; Lindner et al. 2012, 2013, 2014). Veränderungen bei der Bewältigung spezifischer Aufgaben wurden mit bildgebenden Verfahren (PET, fMRT) bei Anorexia nervosa aufgezeigt (Bailer et al. 2005; Wagner et al. 2007).
Epidemiologie
Eine Übersichtsarbeit zur Epidemiologie von Essstörungen wurde jüngst veröffentlicht (Fichter 2015).
Anorexia nervosa
Die Punktprävalenzrate für Magersucht liegt für Frauen im Hauptrisikoalter von 15–35 Jahren bei ca. 0,5 %. In besonderen Risikogruppen, wie z. B. Balletttänzerinnen, liegt die Prävalenz von Anorexia nervosa noch wesentlich höher. Die Frage, ob die genannten Essstörungen über die letzten Jahrzehnte zugenommen haben, ist aufgrund methodischer Schwierigkeiten, dies zu untersuchen, nicht so leicht zu beantworten.
Die Behandlungsinzidenz von Anorexia nervosa hat sich über die Jahrzehnte erhöht. Dies wurde in mehreren epidemiologischen Studien aufgezeigt, so für einen Bezirk in Südschweden für Dänemark sowie für den Kanton Zürich in der Schweiz. Auch psychiatrisch-epidemiologische Fallregisteruntersuchungen in den USA (Monroe County Studie) zeigten eine Zunahme anorektischer und bulimischer Essstörungen.
Während die Zunahme der Behandlungsinzidenz von Anorexia nervosa in zurückliegenden Jahrzehnten relativ gut belegt ist, ist unser Wissen zur wahren Prävalenz dieser Störung in der Bevölkerung sehr lückenhaft; es wird angenommen, dass sich auch die wahre Prävalenz über die Jahrzehnte unseres Jahrhunderts erhöht hat. Hudson et al. (2007) berichten aus den USA für Frauen ≥ 18 Jahre eine Lebenszeitprävalenz von 0,9 %. Bemerkenswert ist, dass Magersucht bei Schwarzen in den USA oder in der Karibik sehr viel seltener zu finden ist als bei Weißen, obwohl alle mehr oder weniger denselben Medieneinflüssen ausgesetzt sind (Taylor et al. 2007). Anorexia nervosa ist bei jungen Frauen deutlich mehr verbreitet als bei jungen Männern; die Relation ist etwa 12:1 (im Text wird deshalb von „Patientin“ gesprochen). Der Erkrankungsbeginn liegt im Mittel bei etwa 16 Jahren.
Bulimia nervosa
Bulimia nervosa findet sich in der Bevölkerung deutlich häufiger als Anorexia nervosa. Zahlreiche Untersuchungen wurden allerdings bei ausgewählten Zielgruppen (Schülerinnen, Studentinnen) durchgeführt und sind deshalb nicht auf die Allgemeinbevölkerung übertragbar.
Garfinkel et al. (1995) untersuchten mithilfe eines standardisierten Interviews (Composite International Diagnostic Interview, CIDI) 8116 Personen einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe in Kanada und fanden eine Lebenszeitprävalenz für Bulimia nervosa von 1,1 % für Frauen und 0,1 % für Männer. Hudson et al. (2007) berichteten Lebenszeitprävalenzraten von 1,5 % bei Frauen und 0,3 % bei Männern und eine 12-Monatsprävalenz von 0,5 % für Frauen und 0,1 % für Männer.
Die Ergebnisse repräsentativer Bevölkerungsstudien lassen annehmen, dass etwa 0,5–3,0 % der Frauen im relevanten Alter (15–35 Jahre) eine Bulimia nervosa entsprechend den festgelegten Kriterien nach DSM-IV oder ICD-10 aufweisen. Auch Bulimia nervosa ist bei Frauen deutlich häufiger anzutreffen als bei Männern.
Das Alter zum Zeitpunkt der Diagnosestellung liegt bei Bulimia nervosa etwas höher als bei Anorexia nervosa. Ein Teil der bulimischen Patientinnen hatte zuvor eine Episode mit Anorexia nervosa. Wie auch Magersüchtige zeigen Patientinnen mit Bulimia nervosa komorbid Angsterkrankungen, affektive Erkrankungen oder Alkoholprobleme, und bei ihren Familienangehörigen finden sich häufiger psychische Erkrankungen.
Binge-Eating-Störung (BES)
Für das im DSM-5 genauer definierte Krankheitsbild der BES gibt es wegen der erst kürzeren Zeit seit seiner Beschreibung wenig epidemiologische Befunde. In einer norwegischen Studie fand sich in der Allgemeinbevölkerung bei Frauen eine wahre Prävalenz von Binge-Eating-Störung von 1,5 %; im Vergleich dazu lagen die Prävalenzraten für Bulimia nervosa (Punktprävalenz) bei 0,7 % und für Anorexia nervosa bei 0,3 % (Götestam und Agras 1995). Für Frauen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren in Schweden fanden Ghaderi und Scott (2001) eine Prävalenzrate für Binge-Eating-Störung von 1,2 %. Striegel-Moore et al. (2000) berichteten über die Häufigkeit von wiederkehrendem Binge Eating (mindestens 2-mal/Woche über mindestens 3 Monate) bei schwarzen amerikanischen Frauen (4,5 %) sowie bei weißen amerikanischen Frauen (2,6 %). Hudson et al. (2007) wiesen Lebenszeitprävalenzraten von 3,5 % bei Frauen und 2 % bei Männern nach.
Bei BES liegt der Anteil der Männer (20–30 %) und das Alter bei Krankheitsbeginn höher als bei Magersucht oder Bulimia nervosa. BES ist deutlich häufiger (Prävalenz) als AN und BN.
Symptomatologie
Anorexia nervosa
Diese ist gekennzeichnet durch einen absichtlich herbeigeführten Gewichtsverlust, der zu ausgeprägtem Untergewicht führt. Verschiedene Mittel können eingesetzt werden, um eine negative Energiebilanz zu erzielen oder zumindest das Gewicht auf der Waage niedriger erscheinen zu lassen: Fasten oder Diäten, übertriebene körperliche Aktivitäten, Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder Schilddrüsenmedikamente sowie Erbrechen.
Es besteht eine übermäßige Beschäftigung mit dem eigenen Körpergewicht und der Figur.
Magersüchtige definieren ihren Selbstwert in hohem Maße über das Erreichen einer schlanken Figur, das Einhalten selbst gesetzter Gewichtsziele und Leistung.
Sie zeigen meist große Angst vor einer (z. B. therapeutisch induzierten) Gewichtszunahme. Es besteht phobisches Verhalten bezüglich Gewichtszunahme und Übergewicht. Magersüchtige können sich selbst bei krassem Untergewicht noch als viel zu dick empfinden. Als Folge des Gewichtsverlustes kommt es zu zahlreichen körperlichen Veränderungen wie Amenorrhö, endokrine Störungen und Störungen der neuronalen Neurotransmitteraktivität.
Bulimia nervosa
Diese ist charakterisiert durch häufiges Auftreten von Essattacken. Im Rahmen einer Essattacke essen Betroffene in verhältnismäßig kurzer Zeit relativ große Nahrungsmengen. Man unterscheidet zwischen subjektiv empfundenen und objektiv nachvollziehbaren Essattacken:
Bei subjektiv empfundenen Essattacken kann die Essmenge gering sein und dennoch große Angst vor dem Dickwerden und vor Kontrollverlust hinsichtlich des Essens bestehen.
Bei einer objektiven Essattacke wird eine große Kalorienmenge in relativ kurzer Zeit gegessen (mehr als ein gesunder Mensch in demselben Kontext essen würde).
Im Rahmen von Essattacken werden meist besonders jene Nahrungsmittel gegessen, die die Betroffenen sonst aufgrund des Kaloriengehalts meiden (Fette, Kohlenhydrate). Essattacken sind mit dem Gefühl, die Kontrolle über das eigene Essverhalten zu verlieren, verbunden. Die Patientinnen greifen nach Essattacken zu Maßnahmen, die einer Gewichtszunahme entgegenwirken sollen (gegenregulierende Maßnahmen).
Differenzialdiagnostik der Bulimia nervosa
Das Vorliegen gegenregulierender Maßnahmen („compensatory behavior“) ist der wesentliche Unterschied zwischen Bulimia nervosa und BES. Patientinnen mit BES sind deshalb häufig übergewichtig, während Patientinnen mit Bulimia nervosa durch die gegenregulierenden Maßnahmen ein mehr oder weniger normales Gewicht halten.
Wie bei Magersucht findet sich auch bei Bulimia nervosa eine übermäßige Beschäftigung mit Körpergewicht, Figur, Nahrung und Essen. Es besteht eine kognitive Fixierung auf diese Bereiche, während andere wichtige Bereiche des Lebens und damit verbundene Probleme in den Hintergrund treten oder ausgeblendet werden. Im Vergleich zu asketisch (restriktiv) Magersüchtigen sind bulimische Patientinnen impulsiver und extrovertierter.
Bei Bulimia nervosa besteht eine sehr niedrige Selbstachtung und eine hohe Abhängigkeit von sozialen Normen und der Meinung anderer. Das Selbstwertgefühl ist in starkem Maße von der Erfüllung sozialer Normen und Ideale z. B. hinsichtlich Figur und Gewicht abhängig.
Dichotomes Denken in „Alles-oder-nichts-Kategorien“ ist bei Magersucht, Bulimia nervosa und BES sehr weit verbreitet. Bulimisch Magersüchtige sind in vielen Aspekten Patientinnen mit Bulimia nervosa ähnlicher als restriktiv Magersüchtige.
Binge-Eating-Störung
Patientinnen mit BES zeigen im Wesentlichen die gleiche Symptomatik wie jene mit Bulimia nervosa, nur dass sie keine wesentlichen gegensteuernden Maßnahmen außer gelegentlichem Fasten und Diäten zeigen. Über die Grenze zwischen Normal- und Übergewicht gehen die Meinungen auseinander und eine Festlegung hängt auch von der zugrunde liegenden Fragestellung ab. Generell hat es sich eingebürgert, das Gewicht als Body-Mass-Index (BMI) auszudrücken.
Von Übergewicht spricht man bei einem BMI von 25,0–29,9. Eine Adipositas besteht ab einem BMI von 30,0 (leichte Adipositas = BMI 30,0–34,9; deutliche Adipositas = BMI 35,0–39,9; schwere Adipositas = BMI >40,0).
Relation von Gewicht und Alter
Da der BMI-Wert zwar die Körpergröße, nicht aber das Alter berücksichtigt und sich das Gewicht in der Bevölkerung auch mit dem Alter verändert, erscheint eine Bestimmung der Gewichtsabweichung unter Zugrundelegung altersbezogener Perzentilwerte sinnvoll (Hebebrand et al. 1996). Dabei wird aus entsprechenden Tabellen auf der Basis des BMI-Wertes und des Alters einer Person abgelesen, in welche Perzentile sie fällt. Dieses Vorgehen ist besonders relevant für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.
Die Binge-Eating-Störung ist in den amerikanischen DSM-5-Kriterien detailliert definiert (Abschn. 1). Da BES-Patientinnen und -Patienten meist mehr essen, als sie durch Diät, Fasten oder erhöhte Körperaktivität einsparen bzw. verbrennen (positive Energiebilanz), entwickeln sie meist Übergewicht.
Verlauf und Prognose
Anorexia nervosa
Zahlreiche Untersuchungen zum Kurz-, Mittel- und Langzeitverlauf von Anorexia nervosa liegen vor. Der Anteil remittierter Patientinnen nimmt im Verlauf des Beobachtungszeitraums deutlich zu. Andererseits findet sich bei denselben Patientenkohorten beim Langzeitverlauf (10–20 Jahre) auch eine hohe Mortalität von 6–20 % (Theander 1985; Ratnasuriya et al. 1991; Fichter et al. 2006; Papadopoulos et al. 2009; Franko et al. 2013; Hoang et al. 2014; Ackard et al. 2014). Anorexia nervosa hat die höchste Mortalität aller psychischen Erkrankungen bei Frauen der entsprechenden Altersgruppe – weit höher als bei Depression oder Schizophrenie. Es gibt Hinweise, dass mit einer Verbesserung der therapeutischen Versorgung über die zurückliegenden Jahrzehnte die Mortalitätsrate bei AN sich etwas reduzierte (Lindblad et al. 2006).
AN-Patientinnen mit frühem Krankheitsbeginn, die bereits in jungen Jahren einer Therapie zugeführt wurden (Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie), haben eine günstigere Prognose.
Mit zunehmender Zeit erhöht sich der Anteil gebesserter und remittierter AN-Patientinnen; parallel dazu nimmt allerdings auch die Mortalität zu (Fichter und Quadflieg 1997).
Bulimia nervosa
Zum Verlauf der Bulimia nervosa sind mehrere empirische Untersuchungen veröffentlicht worden (Keel und Mitchell 1997; Fichter und Quadflieg 2004; Fichter et al. 2008). Im Vergleich zur Anorexia nervosa scheint der Verlauf insgesamt etwas günstiger zu sein, wenngleich auch bei Bulimia nervosa Todesfälle im Zusammenhang mit der Erkrankung berichtet wurden. Insgesamt ist das Gesamtverlaufsmuster wie bei BES im Vergleich zur AN etwas günstiger.
Das Vorliegen einer anderen psychischen Erkrankung zusätzlich zu der Diagnose Bulimia nervosa (psychiatrische Komorbidität) zeigte sich bei einem Teil der Studien als ein Indikator für ungünstigen Verlauf, was in anderen Studien aber nicht bestätigt wurde.
Binge-Eating-Störung (BES)
Zu Verlauf und Prognose der BES gibt es nur begrenzt systematische Literatur. Der Verlauf von BES nach intensiver (stationärer) Behandlung war sehr ähnlich der von Bulimia nervosa. Im 3-Jahres-Verlauf blieb die therapiebedingte Besserung essspezifischer und allgemeiner Psychopathologie im Wesentlichen bestehen; im 6- und 12-Jahres-Beobachtungszeitraum zeigte sich eine weitere Besserung und Stabilisierung (Fichter et al. 2008). Die dauerhafte Senkung bestehenden Übergewichts bedarf jedoch noch weiterer Entwicklungen und Erforschung.
Diagnose und Differenzialdiagnose
Die diagnostischen Kriterien für Anorexia nervosa, Bulimia nervosa nach ICD-10 und für BES nach DSM-5 sind in den Übersichten in Abschn. 1 (in gekürzter Form) wiedergegeben.
Bei Vorliegen einer Magersucht oder Bulimia nervosa ist eine somatische Diagnostik von begrenztem Wert, da sie im Wesentlichen unspezifische Folgesymptome des veränderten Essverhaltens aufzeigt.
Eine wesentliche Schwierigkeit in der Diagnostik anorektischer und bulimischer Essstörungen ist die Tatsache, dass viele Patientinnen – auch wenn sie in anderen Bereichen sehr vertrauenswürdig sind – ihr Essverhalten oft nicht aufrichtig schildern. Für sie stellt ihr Essverhalten oft etwas sehr Intimes dar, und sie empfinden für die Essstörung oft Schuld und Schamgefühle. Schildert die Patientin ihre Symptome nicht von sich aus, erfordert es eine geschickte Vorgehensweise, die Symptomatik herauszuarbeiten.
Anorexia nervosa
Abgrenzung gegen somatische Erkrankungen
Bei Magersucht sind differenzialdiagnostisch somatische Erkrankungen (z. B. Tumor), die mit einer Appetitlosigkeit und daraus resultierender Gewichtsabnahme bis zur Kachexie verbunden sind, zu beachten. Auch wenn eine entsprechende körperliche Grunderkrankung nicht bekannt ist, ist es bei einer fundierten psychiatrischen Exploration relativ gut zu unterscheiden, ob es sich um eine absichtlich herbeigeführte Gewichtsabnahme oder eine Gewichtsabnahme infolge Appetitverlusts, z. B. im Zusammenhang mit einer körperlichen Grunderkrankung, handelt. Die nachfolgende Übersicht gibt eine Auswahl relevanter körperlicher Veränderungen bei Essstörungen.
Auswahl relevanter körperlicher Veränderungen bei Essstörungen
Patientinnen mit Depressionen oder körperlich bedingter sekundärer Appetitlosigkeit (Anorexie heißt wörtlich Appetitlosigkeit, was für Magersucht nicht zutrifft) haben – anders als Magersüchtige – keine Angst vor einer Gewichtszunahme. Es ist relevant, evtl. bestehende Motive für eine Gewichtsabweichung zu eruieren. Sind diese nicht erkennbar oder bleiben Aspekte der Symptomatik unklar (z. B. Müdigkeit und fehlender Bewegungsdrang bei einer untergewichtigen Patientin), sollten entsprechende somatisch-diagnostische Maßnahmen eingeleitet werden.
Bulimia nervosa
Bei Verdacht auf Bulimia nervosa sind andere Erkrankungen, die mit Essattacken einhergehen, differenzialdiagnostisch auszuschließen (z. B. Diabetes mellitus, hypothalamische Tumoren). Erbrechen kann z. B. auch im Zusammenhang mit einer Vergiftung vorkommen; bei Bulimia nervosa oder bulimischer Magersucht ist Erbrechen allerdings im Wesentlichen selbst induziert.
Therapie
Berücksichtigt werden hier für die einzelnen Essstörungen die Psychotherapie, Aspekte der therapeutischen Praxis und die medikamentöse Therapie. Betroffene und Angehörige sollten sich z. B. durch Bücher (Fichter 2008) oder das Internet informieren.
Generelle und evidenzbasierte Aspekte zur Therapie von Essstörungen
Bis heute haben sich weder Antidepressiva noch Neuroleptika oder andere Psychopharmaka für die Behandlung von Anorexia nervosa in den bisher durchgeführten kontrollierten Studien bezüglich der Essstörung als ausreichend wirkungsvoll erwiesen. Der Nutzen einer Osteoporoseprophylaxe bei chronisch untergewichtigen Magersüchtigen (z. B. mit Östrogen-Gestagen-Kombinationen) ist bisher empirisch nicht belegt (Claudino et al. 2006).
Bulimia nervosa
Hierzu gibt es eine größere Anzahl kontrollierter Studien, v. a. mit Antidepressiva. In vielen dieser Studien konnte eine statistisch signifikante, wenn auch nicht immer klinisch substanzielle Wirksamkeit für trizyklische Antidepressiva und Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) aufgezeigt werden (Fichter 1993; Hudson und Pope 1989; Fichter et al. 1996; Lennkh et al. 1997). Einige Ergebnisse sprechen dafür, dass der antidepressive und antibulimische Wirkmechanismus nicht identisch ist. Antidepressiva stabilisieren sowohl die oft depressive Stimmung bei bulimischen Patientinnen als auch deren Essverhalten (Fichter et al. 1997).
Trizyklika vs. SSRI
Trizyklische (Imipramin, Desipramin) und viele andere Antidepressiva wirken appetitanregend und damit gewichtssteigernd – eine Nebenwirkung, die manche bulimische Patientin abschrecken kann. SSRI haben diese Nebenwirkungen in der Regel nicht, was die Compliance bei diesen Patientinnen verbessern kann. Das einzige in Deutschland für die Behandlung von Bulimia nervosa zugelassene Medikament ist Fluoxetin (60 mg/Tag) in Verbindung mit Psychotherapie. Andere Verschreibungen sind „off label“. Auch für Sertralin (100 mg/Tag) gibt es Evidenzen. Positive Ergebnisse wurden auch für andere Pharmaka wie für Trazodon, Topiramat, Odansetron berichtet.
De Zwaan und Svitek (2008) und Becker et al. (2008) geben eine detaillierte Übersicht (Cochrane Review) zur medikamentösen Therapie der Bulimia nervosa.
Eine Wirksamkeit wurde auch eindeutig für verschiedene klassische MAO-Hemmer nachgewiesen, doch muss davon abgeraten werden, diese bei bulimischen Patientinnen einzusetzen, wenn nicht gewährleistet ist, dass sie die erforderliche tyraminarme Ernährung einhalten können.
Binge-Eating-Störung
Einige Antidepressiva, wie Sertralin (50–200 mg/Tag) und Citalopram (20–60 mg/Tag), zeigten (ähnlich wie bei Bulimia nervosa) eine mäßiggradige Wirksamkeit hinsichtlich der Reduktion von Heißhungerattacken bei Binge-Eating-Störung.
Die mäßige Wirksamkeit derzeit vieler auf dem Markt befindlicher Medikamente zur Appetit- und Gewichtsreduktion sowie deren Risiken und Nebenwirkungen werden durch zahlreiche Studien belegt. Ein beträchtlicher Teil der BES-Patienten hat Übergewicht.
Psychotherapie bei Essstörungen
Eine Übersicht dazu findet sich bei Fichter und Herpertz (2008). Auf der Basis von Übersichten und Metastudien ergibt sich folgendes Bild:
Anorexia nervosa
Im Vergleich zu Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung liegen relativ wenige randomisierte Therapiestudien zur Wirksamkeit verschiedener Psychotherapieverfahren bei Anorexia nervosa vor. Für die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie (KVT), kognitiver analytischer Therapie (CAT), psychodynamischer Therapie und insbesondere Familientherapie bei Jugendlichen liegen mäßiggradige Belege vor.
Bulimia nervosa
Für die Bulimia nervosa liegen zahlreiche kontrollierte randomisierte Studien vor, welche die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) belegen (Fairburn und Harrison 2003). Außerdem gibt es mäßiggradige Belege für eine deutliche Wirksamkeit von interpersonaler Therapie (IPT; Agras et al. 2000), Exposition mit Reaktionsverhinderung (ERP) und dialektischer Verhaltenstherapie (DBT) sowie einige Belege für eine mäßiggradige Wirksamkeit psychoedukativer Selbsthilfe („guided self-help“), psychodynamischer Therapie und Ernährungsberatung.
EbM-Info
Eine größere Anzahl kontrollierter randomisierter Studien wurde zur Evaluation von kognitiver Verhaltenstherapie bei Bulimia nervosa durchgeführt. Diese belegen auf der Evidenzebene Ia die Wirksamkeit dieses Therapieansatzes, der damit für diese Essstörung derzeit als Therapieansatz der 1. Wahl gilt (S3-Essstörungsleitlinien der AWMF 2010; Herpertz et al. 2011).
Nicht näher bezeichnete Essstörungen und atypische Essstörungen
Diese machen fast die Hälfte aller Essstörungen aus, doch gibt es bisher weder aussagekräftige Veröffentlichungen zur Psycho- noch zur medikamentösen Therapie auf der Basis randomisierter kontrollierter Studien.
Therapeutische Praxis
Tab. 2 gibt eine Übersicht über Störungsbereiche, Behandlungsziele und verschiedene therapeutische Ansätze, die im Rahmen eines multimodalen Behandlungsansatzes – je nach Sachlage in unterschiedlicher Akzentuierung – zur Anwendung kommen können (Einzelheiten bei Fichter 1989).
Tab. 2
Zielbereiche und therapeutische Interventionen bei bulimischen Essstörungen. (Nach Fichter 1989)
Spezifischer Bereich
Behandlungsziele
Therapeutische Interventionen
Interozeptive und emotionale Wahrnehmung
Verbesserung der Wahrnehmung eigener Körpersignale fördern
Trainieren der Interozeption (Sättigung, Hunger, Schmerz) und Wahrnehmung von eigenen Emotionen (Zorn, Hass, Freude …)
Soziale Fähigkeiten und Durchsetzungsvermögen
Erhöhung der sozialen Fähigkeiten und des Durchsetzungsvermögens
Steigerung der angemessenen emotionalen Ausdruckskraft und der Kompetenz für das Lösen der Probleme
Trainieren von sozialen Fähigkeiten in Rollenspielsitzungen
Essverhalten (z. B. Heißhungerattacken, Erbrechen)
Zunahme (Erhöhung) der Kenntnis über die Konsequenzen von Essenspathologie etc.
Regelmäßige tägliche Mahlzeiten
Verständnis für die Assoziation zwischen Auslöser („Stress“), eigenem Verhalten (Heißhunger/Erbrechen) und die Konsequenzen (kurzzeitige Erleichterung gefolgt von langfristigen, negativen Konsequenzen)
Ernährungsberatung
Mindestens 3 regelmäßige Mahlzeiten pro Tag, weder Diät noch Fasten
Funktionelle Analyse und Verhaltensverträge
Depressive Symptomatik
Ändern von dysfunktionalen, irrationalen Gedanken und grundlegenden Überzeugungen Erhöhung der positiven Verstärkungen und Werte
Verstärkungsprogramm, um die Häufigkeit von angenehmen Aktivitäten zu erhöhen
Verhaltensaktivitätsprogramm
Chronische Belastung im sozialen Umfeld
Herbeiführung von Änderungen im sozialen Umfeld und in der Kommunikation
Gemeinschaftliche Ehetherapie
Verhaltenstherapie in der Familie
Passivität und Mangel bei der Annahme von Verantwortung und unangemessenes Vertrauen in eigene Fähigkeiten
Aktivierung der eigenen Initiativen und Verantwortung
Aktive Teilnahme in Selbsthilfegruppen
Selbstüberwachung
Biologische Disposition für affektive Erkrankung
Stabilisierung des emotionalen Gleichgewichts
Antidepressive Medikamente, wenn indiziert
Bei Patienten mit Übergewicht im Zusammenhang mit psychischen Faktoren spielt darüber hinaus eine wirkungsvolle körperliche Aktivierung (Bewegung) eine Rolle. Schritte zur Gewichtsabnahme sollen langsam und maßvoll sein und für einen langen Zeitraum konzipiert werden (Jahre!). Bei Übergewicht als Folge der Einnahme von Neuroleptika, Lithium oder bestimmter Antidepressiva ist Dosisänderung, Medikamentenwechsel oder Absetzen des Medikaments zu erwägen. In Abhängigkeit des Gewichtszustandes (Untergewicht, Übergewicht) sind spezielle Maßnahmen erforderlich, die im folgenden Text näher beschrieben werden.
Spezifische Aspekte der Therapie anorektischer Störungen
Gewichtsnormalisierung als Therapieteilziel
Eine psychologische Therapie bei Anorexia nervosa ist kaum möglich, wenn die Patientin extrem untergewichtig ist.
Subjektive Bedeutung des Untergewichts
Bei Beginn einer Therapie bei Anorexia nervosa besteht oft eine Diskrepanz zwischen den Therapiezielen des Therapeuten (Patientin soll an Gewicht zunehmen) und der (begrenzten) Änderungsbereitschaft der Patientin. Eine Magersüchtige ist stolz, wenn sie es geschafft hat, lange zu fasten und abzunehmen. Dies stärkt vorübergehend ihr Selbstwertgefühl.
Gewichtsabnahme oder Halten eines niedrigen Gewichts hat für Magersüchtige bei Beginn der Therapie eine wichtige Funktion. Die Kontrolle über Essen und Gewicht ist für sie oft das einzige noch verfügbare „Machtinstrument“ oder zumindest ihr Halt. Durch die gedankliche Zentrierung auf Essen, Figur und Gewicht blenden Magersüchtige andere Probleme und Konfliktbereiche in ihrem Leben aus. Sie besiegen ihre „animalischen Triebe“, indem sie fasten und an Gewicht abnehmen.
Häufig wird die Therapie durch Angehörige initiiert und die Magersüchtige ist trotz Versprechungen nicht wirklich bereit oder nicht in der Lage, an Gewicht zuzunehmen. Sie braucht in diesem Stadium die Erkrankung für ihre emotionale Balance.
Klarheit, Informiertheit und Entschlossenheit auf Seiten des Therapeuten sind förderlich; eine forcierte Gewichtsnormalisierung einseitig durch den Behandler ist, von lebensbedrohlichen Extremfällen abgesehen, kontraindiziert.
Beim therapeutischen Umgang mit dem Untergewicht ist es für den behandelnden Arzt wichtig zu verstehen, dass das Untergewicht für die Magersüchtige eine bedeutsame Funktion erfüllt. Ein ausgeprägtes Untergewicht beinhaltet – bewusst oder unbewusst – auch, dass bestimmte, oft stark angstbesetzte Bereiche weit in der Ferne liegen. Für eine kachektische Patientin stellen sich Fragen von partnerschaftlicher Beziehung, Vertrauen im Rahmen der Beziehung und Sexualität nicht. Auch die Themen Leistung und Versagensängste sind weitgehend ausgeklammert, da ein Nachlassen z. B. der schulischen Leistungen leicht durch das Untergewicht und die damit verringerte Konzentrationsfähigkeit erklärt und entschuldigt werden kann.
Angstproblematik
Hinter der Fassade der rigiden Kontrolliertheit und Willensstärke bestehen bei allen untergewichtigen Magersüchtigen große, alles durchdringende Ängste. Diese sind ihnen im Anfangsstadium der Therapie kognitiv oft nicht zugänglich.
Es hat sich bewährt, die Patientinnen im Rahmen therapeutischer Übungen (z. B. Übung der Zeitprojektion) näher mit anstehenden Lebensentscheidungen und möglichen künftigen Realitäten zu konfrontieren (z. B. Partnerschaft und Sexualität, Verantwortung im Beruf). Je mehr eine Magersüchtige an diesen Zukunftsängsten arbeiten kann, je mehr sie darüber hinaus Perspektiven und Wege sieht, desto weniger braucht sie die „Notbremse“ des anorektischen Untergewichts.
Behandlungsprozess
Am Anfang einer Therapie können die Patientinnen mögliche positive Perspektiven oft nicht sehen. Sie fühlen nur den nach dem Essen „aufgetriebenen“ Bauch, und schon geringfügige Gewichtszunahmen können starke Ängste auslösen. Mit fortschreitender Therapie lässt sich der Magersüchtigen vermitteln, dass die Diskrepanz in den Therapiezielen nicht zwischen dem Therapeuten und ihr, sondern in ihr liegt – der Konflikt zwischen ihren gesunden und ihren kranken Anteilen. Nicht zwischen dem Therapeuten und ihr, sondern in ihr sollte auch der weitere „Kampf“, die Fortentwicklung stattfinden. Hilfreich ist Informationsvermittlung, die Bearbeitung tiefersitzender Ängste (z. B. Leistungsängste, Ängste vor Nähe und Intimität), die Förderung der Körperwahrnehmung und der Wahrnehmung von Gefühlen, des emotionalen Ausdrucks und ein Aufbau sozialer Fertigkeiten. Ein wichtiges Ziel ist dabei das Thema „Neinsagen können“, das auch bei Untergewicht im Rollenspiel geübt und bearbeitet werden kann.
Wenn die Magersüchtige erste Einsichten über die Zusammenhänge ihrer Magersucht und ihrer Lebensumstände gewonnen hat, sollte über die Möglichkeiten und ein konkretes Vorgehen in Bezug auf eine kontrollierte Gewichtszunahme gesprochen werden. Eine durch den Therapeuten forcierte Gewichtszunahme oder aufgedrängte Gewichtsverträge werden von der Patientin schnell als bevormundend oder bestrafend erlebt und beeinträchtigen die Arzt-Patient-Beziehung.
Magersüchtige haben – dem Alter bei Krankheitsbeginn entsprechend – ein ausgeprägtes Autonomiebestreben, und eine Bevormundung, im wörtlichen Sinne, wäre letztlich kontraproduktiv.
Vorgehen zur Gewichtsrestitution
Selbstkontrollprogramm
Als erster Schritt ist meist ein Selbstkontrollprogramm ohne Einführung von Konsequenzen sinnvoll.
Nach den geschilderten Vor- und Motivierungsarbeiten kann ein strukturierter Plan für die Gewichtszunahme gemeinsam von Patientin und Therapeut erarbeitet werden. Die Magersüchtige versucht, im Rahmen eines unterstützenden therapeutischen Gesamtkontextes selbstständig eine definierte Gewichtszunahme zu erzielen und holt sich bei Bedarf Hilfestellungen. Für das Ausmaß einer sinnvollen Gewichtszunahme gibt es keine starren Regeln, jedoch gilt, dass allzu kleine Gewichtsziele (z. B. 50 g/Tag) die Geduld aller Beteiligten oft sehr strapazieren und die Patientin demotivieren können. Allzu hohe Gewichtsziele bergen bereits den Misserfolg in sich.
Auch wenn es der Magersüchtigen kurzfristig gelingt, schnell zuzunehmen, wird sie dies über eine längere Zeit hinweg vermutlich nicht einhalten. Selbst wenn dies geschieht, kann es sich im Gesamtkontext (starke Gewichtsphobie) oft als nicht sinnvoll erweisen. Eine schnelle Gewichtszunahme provoziert Ängste, die Kontrolle über das Essen und das Körpergewicht zu verlieren. Ziel sollte nicht eine möglichst schnelle, forcierte, sondern eine maß- und sinnvolle Gewichtszunahme sein. Hilfreich ist ein schriftlicher Kontrakt, in dem Mindestgrenzen (z. B. 0,7 kg Gewichtszunahme pro Woche) und Obergrenzen (z. B. 2–3 kg Gewichtszunahme pro Woche) festgelegt werden. Die Magersüchtige versucht, innerhalb des vereinbarten Bereichs selbstständig zuzunehmen. Ein Teil der Patientinnen schafft es, im Kontext der begleitenden psychologischen Therapie unter diesen Bedingungen zuzunehmen, ein anderer Teil stößt jedoch bald auf einen so ausgeprägten Widerstand, dass ein Selbstkontrollprogramm nicht aussichtsreich oder gar aussichtslos ist.
Möglichkeiten therapeutischer Hilfestellung
Gelingt es einer Magersüchtigen nicht, innerhalb einer vereinbarten Zeit (bei engmaschiger, intensiver, z. B. stationärer Therapie 10–14 Tage, bei weitmaschigerer ambulanter Therapie 4 Wochen) ihr Gewicht zu steigern, dürfte die Patientin überfordert sein, ohne weitere Hilfestellungen und einen kontingenten Gewichtskontrakt nachhaltig an Gewicht zuzunehmen.
Reduktion des Energieverbrauchs
Das Gewicht kann zu einem geringen Teil durch Reduktion des Energieverbrauchs (z. B. weniger Treppensteigen, gymnastische Übungen, lange Läufe), jedoch sehr viel effektiver durch Erhöhung der Energiezufuhr gesteigert werden.
Für Magersüchtige, die altersgemäß stark ausgeprägte Autonomiebestrebungen haben, ist es wichtig, sie in Entscheidungen mit einzubeziehen, sie schrittweise Verantwortung übernehmen zu lassen und ihnen da, wo es sinnvoll, möglich und vertretbar ist, Entscheidungsfreiheit einzuräumen.
Gewichtsvertrag
Eine Magersüchtige, die gesehen hat, dass sie aus eigener Kraft das Gewicht nicht steigern kann, wird eher für einen (schriftlichen) kontingenten Gewichtsvertrag zu motivieren sein. Dieser unterscheidet sich von dem Selbstkontrollprogramm in einem wesentlichen Punkt: dem gezielten Einsatz von Verstärkern zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Auftretens sinnvollen Essverhaltens und folglicher Gewichtszunahme. Dies beinhaltet ausreichende Nahrungszufuhr in mehreren über den Tag verteilten Mahlzeiten (3 Hauptmahlzeiten) mit zusätzlichen Zwischenmahlzeiten, Einschränken der Möglichkeiten für Erbrechen und folglicher Gewichtszunahme.
Es gibt kein Patentrezept für einen Gewichtsvertrag, doch einige Grundregeln:
Eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung und die Glaubwürdigkeit des Therapeuten sind wesentlich für den Aufbau einer ausreichenden Motivation, diesen Konflikt in sich zu lösen und es zuzulassen, dass der Körper mehr und mehr reift und Objekt der Begierde für andere werden kann.
Transparenz und Information: Je mehr die Patientin über Erkrankung und Therapie weiß und je mehr ihr die Wichtigkeit einer Gewichtszunahme vermittelt wurde, desto besser sind die Aussichten auf Erfolg. Ein Machtkampf zwischen Therapeut und Patientin ist der Fehler eines Anfängers. Es geht nicht darum, wer gewinnt. Es geht darum, die Magersüchtige aufzubauen und zu motivieren, dass sie sich mit ihren inneren Konflikten auseinandersetzt, dass sie dazu bereit wird, auf die Ängste, die eine Gewichtszunahme auslösen, „zuzugehen“ – ganz im Sinne der Expositionstherapie bei Angsterkrankungen, sie auszuhalten, durchzustehen, und zu bewältigen.
Zum Gelingen trägt entscheidend bei, dass sehr konkrete Abmachungen gemacht werden und v. a. die richtigen Verstärker ausgesucht werden. Für die Auswahl von Verstärkern gilt:
Wählen Sie im Einvernehmen mit der Magersüchtigen die für die Patientin essenziellen und persönlich wichtigen Verstärker aus.
Nur Verstärker, die einen wirklichen Anreiz bieten, führen weiter.
Für einen Fußballfan wäre die Möglichkeit, ein wichtiges Spiel (z. B. am Fernseher in der Klinik) verfolgen zu dürfen, ein großer Motivator. Für Fußballdesinteressierte hätte dies keine Zugkraft. Je wirkungsvoller der Verstärker ist, desto eher wird ein kontingentes Gewichtsprogramm Erfolg haben. Je mehr der Verstärker (Zugang zur Geige für den Violinvirtuosen, Möglichkeiten zum Malen für den künstlerisch Begabten, Möglichkeiten zum – maßvollen – Joggen für den Fitnessfreak) zugkräftig auf die Patientin abgestimmt ist, desto besser wird der weitere Gewichtsverlauf sein.
Klare Rahmenbedingungen hinsichtlich minimaler und maximaler Gewichtszunahme pro Woche (s. oben). Je nach Umständen kann ein Gesamtzielgewicht oder einzelne Etappenzielgewichte vereinbart werden.
Für eine ausreichende Transparenz ist auch ein regelmäßiges Wiegen sehr wichtig (täglich). Von Bedeutung ist ein umsichtiges, konsequentes (nicht hartes) Vorgehen des Therapeuten, das mit Empathie (nicht mit seelischer Härte) gepaart sein sollte. Eine Inkonsequenz rächt sich im weiteren Verlauf. Es ist unsinnig, in Verträgen Dinge zu vereinbaren, die am Ende nicht durchzuhalten sind. So sollte für die Nichteinhaltung bestimmter Regeln nicht die sofortige Therapiebeendigung oder Entlassung aus stationärer Therapie vereinbart werden, denn bei Stagnation oder Rückfall braucht die Patientin Hilfe. Auch kann eine solche Vereinbarung den Therapeuten z. B. bei Suizidalität der Patientin in ein schwieriges Dilemma bringen. Deshalb ist anzuraten, Gewichtsverträge konsequent, aber nicht kurzsichtig überspitzt, zu formulieren.
Jede Patientin ist anders und jeder Gewichtsvertrag sollte den individuellen Bedingungen unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes angepasst werden. Oft ist es hilfreich, wenn die Magersüchtige den Gewichtsverlauf grafisch darstellt und für jeden sichtbar auslegt oder aufhängt. Da der Vertrag ein Kontrakt zwischen Therapeut und Patientin ist, sollten beide ihn unterschreiben und jeder eine Kopie erhalten. Verhaltenstherapeutische Programme zur Erhöhung des Körpergewichts sind, wenn sie adäquat durchgeführt werden, sehr wirkungsvoll. Bei inkonsequenter Durchführung sind sie allerdings ineffektiv. Führt ein kontingentes verhaltenstherapeutisches Gewichtszunahmeprogramm nicht zum gewünschten Erfolg, sollten die vereinbarten Verstärker überdacht, überprüft und neu adjustiert werden – evtl. mehrfach. Wenn auch dies nicht weiterführt, kann die zusätzliche Einbeziehung von Sondenernährung weiterführen. Bei lebensbedrohlichem Untergewicht sollte dies von Anfang an erfolgen.
Weitere Therapieziele
Normalisierung des Körpergewichts ist eines von mehreren wesentlichen Therapiezielen. Andere Therapieziele, wie die Verbesserung der Körperwahrnehmung und der emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten, Verbesserung der sozialen Kompetenz, Klärung familiärer Konflikte und Abbau von Ängsten vor Pflichten und Verantwortung eines Erwachsenen, sollten in einen komplexen Therapieplan einbezogen werden. In dem Maße, wie sich „Lebensängste“ verringern und das Gefühl eigenen Wertes aufbaut, kann die Patientin eine Gewichtszunahme und Normalisierung des Gewichts zunehmend leichter annehmen.
Pharmakologische Behandlungsversuche der Anorexia nervosa zeigten bisher wenig Erfolg. Neben der Gewichtsnormalisierung spielen in unterschiedlicher Akzentuierung alle in Tab. 2 aufgeführten Bereiche eine Rolle.
Gut die Hälfte der Magersüchtigen weist auch bulimische Symptome auf.
In den Practice Guidelines for Eating Disorders der American Psychiatric Association (2006) sind folgende 8 auch heute noch relevante Therapieziele genannt:
1.
Gewichtsnormalisierung,
2.
Vermittlung eines normalen Essverhaltens,
3.
Behandlung körperlicher Folgen der Magersucht,
4.
Behandlung dysfunktionaler Gedanken, Überzeugungen und Werthaltungen,
5.
Behebung von Defiziten im Bereich der Regulation von Gefühlen und Verhalten,
6.
Verbesserung psychologischer Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit der Essstörung stehen,
7.
Einbeziehung von Familie und/oder Partner, wenn erforderlich, sowie
8.
Rückfallprophylaxe.
Für gut motivierte Patientinnen mit Magersucht, deren Gewichtsverlust nicht besonders stark ist (bis etwa 70 % des durchschnittlichen Gewichts bei entsprechender Größe), kann eine ambulante oder teilstationäre Behandlung ausreichend sein. Magersüchtige mit ausgeprägtem Untergewicht, ausgeprägter Verheimlichungstendenz und Krankheitsdissimulation, Patientinnen, die einer psychotherapeutischen Intervention schwer zugänglich sind, und Patientinnen, die infolge von Untergewicht und Störung des Essverhaltens eine ausgeprägte metabolische Instabilität (Säure-Basen-Haushalt, Elektrolyte) aufweisen, bedürfen in der Regel einer stationären Behandlung. In Einzelfällen kann z. B. im Rahmen einer gerichtlich erwirkten Betreuung eine Behandlung auch gegen den Willen eines magersüchtigen Patienten erforderlich sein. Magersucht kann eine sehr ernste und tückische Krankheit sein, wenn kein ausreichendes Krankheitsgefühl und keine Krankheitseinsicht vorhanden ist.
Spezielle Aspekte der Therapie bulimischer Störungen
Unkomplizierte Symptomatik
Patientinnen mit unkomplizierter Bulimia nervosa, die lediglich Essattacken und Erbrechen, aber keine weiteren Probleme wie Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit, Suizidalität, Psychose, ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen etc. aufweisen, können nicht selten allein durch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen und/oder ambulante Therapie die Essstörung bewältigen.
Kombinierte Symptomatik
Patientinnen mit einer komplexeren Bulimia nervosa, bei denen die Essstörung chronifiziert ist, oder bei denen zusätzlich zu der bulimischen Essstörung weitere psychopathologische Auffälligkeiten vorliegen, bedürfen einer intensiveren, z. B. stationären Therapie.
Zusätzlich zu den weiter oben beschriebenen allgemeinen therapeutischen Ansätzen bei Essstörungen sind besondere Probleme in der Behandlung der Bulimia nervosa zu beachten. Dies ist der Fall, wenn zusätzlich zur Essstörung Alkohol- oder Drogenmissbrauch/-abhängigkeit, multiimpulsives Verhalten wie wiederholte Diebstähle oder selbstverletzendes Verhalten, exzessives Erbrechen, Laxanzienabusus, Depressionen oder psychotische Symptome bestehen. Tab. 2 gibt eine Übersicht über gestörte Funktionen, sinnvolle therapeutische Ziele und Bereiche für spezielle therapeutische Interventionen bei Bulimia nervosa und anderen bulimischen Syndromen (bulimische AN, BES).
Störung der körperlichen und emotionalen Wahrnehmung
Die meisten bulimischen Patientinnen weisen Störungen der körperlichen und emotionalen Wahrnehmung auf. Die Verbesserung der Körperwahrnehmung und ein angstfreier Umgang mit dem eigenen Körper sowie die Förderung des Körperausdrucks sind Ziele verschiedener körperorientierter Therapieansätze wie beispielsweise der Tanztherapie. Durch eine größere Akzeptanz des eigenen Körpers kann es auch zu einer Verbesserung des Selbstwertgefühls und des seelischen Wohlbefindens kommen.
Alternative Strategien zur Spannungsreduktion
Heißhungeranfälle dienen der temporären Spannungsreduktion und treten häufig nach spannungsinduzierenden Interaktionen oder Erlebnissen auf. Daher ist die Vermittlung alternativer Bewältigungsstrategien zum Spannungsabbau wichtig. Autogenes Training (AT) oder progressive Muskelentspannung (PME) können eine physiologische Spannungsreduktion herbeiführen und damit die Wahrscheinlichkeit einer Essattacke für die unmittelbar folgende Zeit reduzieren. Eine Gestaltungstherapie kann Betroffenen die Möglichkeit bieten, über ein nonverbales Medium den Zugang zu ihren Emotionen zu bekommen. Die so gewonnen Erkenntnisse und ausgelösten Emotionen können weiter therapeutisch bearbeitet werden.
Wahrnehmung von Emotionen
Adäquater Ausdruck von Gefühlen setzt voraus, dass diese wahrgenommen werden. Die Förderung des emotionalen Ausdrucks wird anfangs mehr im Sinne von Katharsis-Übungen vonstattengehen, in denen es den Betroffenen überhaupt gelingt, Gefühle, die als Folge von Kränkungen, Verletzungen etc. aufgetreten sind, wahrzunehmen und zum Ausdruck zu bringen.
Im nächsten Schritt kann ein Training der sozialen Kompetenz erfolgen. In Rollenspielen werden hier konkrete alltagsrelevante Situationen durchgespielt und den Betroffenen zunehmende Kompetenz vermittelt, Gefühle künftig nicht mehr unbemerkt „hinunterschlucken zu müssen“, sondern Probleme in angemessener Weise sozial kompetent zu bewältigen und zu lösen.
Häufig finden sich bei Bulimia nervosa dysfunktionale, irrationale Gedanken, Überzeugungen und Werthaltungen. Betroffene neigen dazu, nach Art des dichotomen Denkens das Leben in Schwarz-Weiß-Mustern zu sehen. Für die Bearbeitung dieser Störung haben sich Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie, wie sie bei Depressionen zum Einsatz kommen, bewährt.
Weitere Therapieinhalte
Informationsbedarf der Patienten
Zu Beginn der Therapie bestehen nicht selten Informationsdefizite über gesunde Ernährung, Möglichkeiten und Grenzen einer Therapie, Selbsthilfe, Umgang mit Stress, Folgen bulimischen Verhaltens etc..
Informierten Patientinnen gelingt die effektive Mitarbeit in der Behandlung in der Regel wesentlich leichter. Eine kompetente Vermittlung relevanter Informationen gibt der Therapie Transparenz, vermittelt den Betroffenen Erklärungsmodelle für ihre Erkrankung und kann motivierend wirken, indem Wege und Perspektiven aus der Symptomatik heraus aufgezeigt werden. Pathologisches Essverhalten wird in Therapien heute sehr viel direkter thematisiert, als dies früher der Fall war.
Ernährungstagebuch
Ein „Ernährungstagebuch“ schärft die Selbstbeobachtung und ermöglicht es, schrittweise funktionelle Zusammenhänge zwischen äußeren Ereignissen, Gefühlen und Essverhalten für Therapeut und Patientin deutlicher zu machen. Auf diese Weise werden Auslöser und Konsequenzen für das Auslassen einer Mahlzeit oder übermäßiges Essen identifiziert und damit der Aufbau eines geregelten Essverhaltens erleichtert. Nicht selten führt allein die Selbstbeobachtung durch schriftliche Aufzeichnung zu Verhaltensänderungen.
Das Ernährungstagebuch kann z. B. so aussehen, dass Uhrzeit, Situation vor dem Essen, Kontext während des Essens, Ausprägung von Hunger und Sättigung, konsumierte Lebensmittel und Getränke und Situation nach dem Essen in tabellarischer Form über Tage und Wochen notiert und mit dem Therapeuten besprochen werden.
Ziel ist nicht, die gedankliche Zentriertheit auf den Essensbereich weiter zu fördern, sondern funktionelle Zusammenhänge zwischen äußeren Ereignissen (z. B. Anruf der Eltern, welche die Patientin bedrängen, mehr für ihr Studium zu arbeiten) und Essverhalten (Heißhungerattacke mit nachfolgendem Erbrechen) zu finden.
Vorstrukturierung der Mahlzeiten
Der Aufbau eines geregelten Essverhaltens erfolgt anfangs – mangels ausreichender Orientierung an Hunger und Sättigung – durch eine starke Vorstrukturierung der Mahlzeiten. Im Rahmen einer Klinikbehandlung kann an einem Gruppenesstisch mit anderen Essgestörten „normales Essverhalten“ unter Anleitung eines Therapeuten oder Kotherapeuten eingeübt werden. Mit der Verbesserung der Orientierung an der eigenen Wahrnehmung bezüglich Hunger und Sättigung können die Freiheitsgrade zunehmend bis in die Alltagssituation hinein erhöht werden. Diätverhalten war häufig ein Weg in die Essstörung hinein.
Gruppenphyschotherapie
In Spezialgruppen mit anderen Essgestörten („Antidiätgruppe“) können folgende Ziele bearbeitet werden:
Steuerung des Essverhaltens durch verbesserte interozeptive Wahrnehmung von Hunger und Sättigung,
Abbau eines restriktiven (gezügelten) Essverhaltens, weil dieses das Risiko für Heißhungerattacken erhöht, und
Verbesserung der sozialen Kompetenz.
In der Ernährungsberatung und – wo die Möglichkeit dazu besteht – in der Lehrküche können Fehlinformationen über gesunde Ernährung korrigiert werden.
Ernährungsberatung
Essgestörte sind meist Experten im Kalorienzählen, doch ist ihr Wissen über wirklich gesunde Ernährung oft sehr gering. Eine sinnvolle Ernährungsberatung kann der Tendenz, sich Nahrungsmittel zu verbieten und zunehmend selektiv zu essen, entgegenwirken.
Lehrküche
In einer Lehrküche haben Patientinnen die Möglichkeit, im Sinne einer Ernährungskonfrontation – analog zur Expositionstherapie bei Angsterkrankungen – konkret mit Einkauf, Zubereitung und Verzehr von Lebensmitteln umzugehen. Den Betroffenen wird Grundwissen über gesunde, ausgewogene Ernährung und Basiskenntnisse zum Kochen gesunder Mahlzeiten vermittelt. Darüber hinaus lernen die Betroffenen, Ängste im Umgang mit bestimmten Lebensmitteln abzubauen und zuvor „verbotene“ Nahrungsmittel wieder ohne Schuldgefühle genießen zu können. Die Wahrnehmung von Hunger und Sättigung wird gefördert. Eine Lehrküche kann die Alltagssituation, in der Betroffene das, was sie essen, selbst bestimmen, simulieren.
Familien- und paartherapeutisches Setting
Chronische Belastungen im sozialen Umfeld können als Ursache oder Folge der Erkrankung vorliegen. Je nach Konstellation des Falls können in Familien- oder Partnersitzungen problemaufrechterhaltende Bedingungen innerhalb der Familie oder der Partnerschaft identifiziert und ggf. auch verändert werden. Dysfunktionale Interaktionen und Kommunikationsstrukturen, in denen sich Betroffene und Angehörige in alten Mustern festfahren, können erkannt und, z. B. im Rollenspiel, konstruktive Alternativen aufgezeigt und eingeübt werden.
Förderung von Eigeninitiative und Verantwortung
Viele, wenngleich nicht alle Patientinnen mit einem bulimischen Syndrom, neigen in relevanten Lebensbereichen zu Passivität und Mangel an Übernahme von Verantwortung. Im Zusammenhang damit besteht ein unzureichendes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Therapie soll Selbstregulation, Aktivierung eigener Initiativen und die Verantwortungsübernahme fördern. Dies kann durch schrittweises Vorgehen und Bestärkung für erfolgreich bewältigte Schritte erfolgen.
Effizienz unterschiedlicher Therapieschulen
In zahlreichen empirischen Untersuchungen wurde die Wirksamkeit konventioneller Verhaltenstherapie, multimodaler Verhaltenstherapie, kognitiver Verhaltenstherapie sowie einzelner Komponenten komplexerer Verhaltenstherapien in der Behandlung bulimischer Essstörungen aufgezeigt. In einer epochal wichtigen prospektiven Therapieevaluationsstudie verglichen Fairburn et al. (1995) die Wirksamkeit einfacher konventioneller Verhaltenstherapie, kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) und fokaler interpersoneller Therapie (IPT). Bereits nach der 12-Monats-Katamnese waren kognitive Verhaltenstherapie und interpersonelle Therapie der einfachen konventionellen Verhaltenstherapie überlegen. Nach 6 Jahren war dieser Effekt noch deutlicher.
Interessant ist bei diesem Ergebnis auch, dass eine Therapie, die nicht direkt auf das Essverhalten, sondern auf Interaktionen und Beziehungsfragen eingeht (IPT), ebenso wirksam wie und langfristig sogar geringfügig besser als die kognitive Verhaltenstherapie war. Bei einer umfangreichen multizentrischen Replikationsstudie (Agras et al. 2000) war jedoch KVT bei Therapieende signifikant und beim 1-Jahres-Follow-up tendenziell wirkungsvoller als IPT in der Behandlung der BN.
Einige Studien untersuchten die Wirksamkeit von Therapien aus unterschiedlichen Therapieschulen mit divergenten Ergebnissen. Poulsen et al. (2014) verglichen in einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT) psychoanalytische Psychotherapie mit kognitiver Verhaltenstherapie bei BN. KVT war hier wesentlich wirksamer. Zipfel et al. (2013) belegten für leichter untergewichtige AN-Patienten eine Wirksamkeit für fokale psychodynamische Therapie, die in der Wirksamkeit einer KVT im Wesentlichen entsprach.
Die Indikation für teilstationäre Behandlung hängt von den persönlichen Umständen des Patienten/der Patientin ab (Schule, Beruf etc.). Sie kann in ihrer Wirksamkeit bei entsprechender Indikation der der vollstationären Behandlung entsprechen (Herpertz-Dahlmann et al. 2014).
Neuere Entwicklungen zeigen recht deutlich auf, dass es wichtig ist, Betroffene nicht erst nach Chronifizierung der Erkrankung, sondern möglichst in frühen Erkrankungsstadien zu behandeln. „Family-Based Treatment“ (FBT) bei Adoleszenten mit AN oder BN ist hier ein vielversprechender Ansatz (Ciao et al. 2015; Agras et al. 2014).
Spezifische Aspekte der Therapie bei Binge-Eating-Störung
Über die allgemeinen Interventionsansätze bei Essstörungen hinaus besteht bei Hyperphagie mit Adipositas die Notwendigkeit, einen sinnvollen therapeutischen Umgang mit dem mehr oder weniger ausgeprägten Übergewicht zu finden.
Hierzu ist viel aus der Übergewichtsliteratur bekannt, aber nicht direkt übertragbar, da es sich in diesem Fall um eine spezielle Subgruppe von Übergewichtigen handelt. Aus der Adipositasliteratur geht hervor, dass reine Reduktionsdiäten und Abmagerungskuren zwar erfolgreich zu einer kurzfristigen Gewichtsabnahme führen, bei Betrachtung einer längeren Zeitstrecke von 5 und mehr Jahren allerdings höchst unbefriedigende Ergebnisse zeigen.
Multimodale Behandlungsprogramme zur Reduktion von Übergewicht beinhalten in der Regel:
Eine Reduktionsdiät zur Gewichtsabnahme,
körperliche Übungen zur Steigerung des Energieverbrauchs und Verbesserung der körperlichen Fitness sowie
verhaltenstherapeutische Strategien zur Normalisierung des Essverhaltens.
Analyse der Ursachen gesteigerten Essverhaltens
Wichtig ist eine funktionale Analyse von Auslösebedingungen – Stressoren – abnormen Essverhaltens, die zu der Reaktion vermehrten Essens mit der Konsequenz von Gewichtszunahme und dem damit verbundenen Gefühl von Scham oder Ärger führen. Für psychogen Hyperphage ist es – wie für Patientinnen mit Bulimia nervosa – von Bedeutung, die körperliche und emotionale Wahrnehmung, den emotionalen Ausdruck in relevanten persönlichen Aspekten sowie soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verbessern. Zwar ist es plausibel, hier vieles von dem, was wir über Bulimia nervosa wissen, auf hyperphage Menschen mit Übergewicht zu übertragen. Offen und unklar ist derzeit jedoch noch, was Bulimia nervosa und psychogene Hyperphagie ohne gegensteuernde Maßnahmen (BES) über die Essstörung hinaus gemeinsam haben und was sie über das Essverhalten und gegensteuernde Maßnahmen hinaus unterscheidet.
Chirurgische Maßnahmen
Lediglich bei sehr extrem ausgeprägter Adipositas erscheint die Durchführung chirurgischer Maßnahmen, wie eine künstliche Verkleinerung des Magens oder ein gastroduodenaler Bypass, indiziert. Risiken und negative Folgen sind allerdings gegeben.
Ausblick
Es bleibt abzuwarten, welche Relevanz neue molekulargenetische Entdeckungen über Genetik und Physiologie der Gewichtsregulation und der künstlichen Erzeugung und Applikation körpereigener Substanzen (z. B. Leptin) langfristig haben werden.
Zusammenfassende EbM-Info
2010/2011 erschienen die S3-Leitlinien für Essstörungen in Deutschland, an deren Erarbeitung der Autor dieses Kapitels maßgeblich beteiligt war. Folgende Empfehlungen der Leitlinien sind besonders wichtig:
Die Behandlung von anorektischen und bulimischen Essstörungen sollte insbesondere von Ärzten oder Psychologen bzw. ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten erfolgen.
Die Behandlung sollte in Einrichtungen erfolgen, die einschlägige Erfahrungen in der Therapie von Betroffenen mit anorektischen und bulimischen Essstörungen haben. Pharmakotherapie spielt bei Magersucht nahezu keine Rolle, bei anderen Essstörungen eine sehr begrenzte.
Pharmakotherapie
Anorexia nervosa
Verschiedenste Pharmaka wurden hinsichtlich ihrer Wirksamkeit insbesondere zur Gewichtsrestitution bei Magersucht in kontrollierten klinischen Studien geprüft: Neuroleptika (Olanzapin, Sulpirid), trizyklische Antidepressiva (Clomipramin, Amitriptylin), Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI –Fluoxetin, Citalopram, Sertralin), Appetitstimulanzien (Cyproheptadin, Tetrahydrocannabinol) sowie Lithium. Für keines der genannten Medikamente konnte für Magersucht eine Überlegenheit gegenüber Plazebo festgestellt werden (Evidenzgrad Ia). Gegen Magersucht ist bisher „kein Kraut gewachsen“.
Bulimia nervosa
Hauptsächlich untersucht wurden trizyklische Antidepressiva in länger zurückliegenden Jahren (Imipramin, Desipramin) und selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI). Für diese Medikamente konnte eine Wirksamkeit (bei hoher Plazebowirksamkeit) aufgezeigt werden mit allerdings eher schwachen Effektstärken (Evidenzgrad Ib). Das einzige in Deutschland für die Behandlung für Bulimia nervosa in Verbindung mit zumindest stützender Psychotherapie zugelassene Medikament ist Fluoxetin; alle anderen pharmakologischen Behandlungen sind „off label“.
Binge-Eating-Störung (BES)
Für SSRIs und SNRIs konnte für die Binge-Eating-Störung eine gewisse Wirksamkeit nachgewiesen werden, doch ist keines der Medikamente in Deutschland für die Behandlung von BES zugelassen (Off-Label-Use; Evidenzgrad II). Langzeiteffekte von Psychopharmaka sind bei BES bis dato nicht ausreichend untersucht (Brownley et al. 2015). Aufgrund des häufig bestehenden Übergewichts oder der Adipositas sollten gewichtssteigernde Medikamente eher nicht gegeben werden.
Psychotherapie
Anorexia nervosa
In einem Cochrane-Review (Hay et al. 2003) wurden 6 randomisierte und kontrollierte Studien, 2 davon bei Kindern und Jugendlichen zu AN, identifiziert, doch erschien eine Metaanalyse nicht durchführbar. In 2 dieser Studien fanden sich Hinweise darauf, dass eine spezialisierte (psychotherapeutische) Behandlung bei Anorexia nervosa günstiger als „Treatment as usual“ war (Evidenzgrad II). Für die Entwicklung der „S3-Leitlinien für anorektische und bulimische Essstörungen“ (AMWF 2010; Herpertz et al. 2011) wurden über 20 kontrollierte Studien bei Anorexia nervosa zusammengestellt und einer Metaanalyse unterzogen. Deren Ergebnisse waren teils aufgrund schlechter methodischer Qualität insbesondere älterer Studien und der Heterogenität hinsichtlich Behandlung, Art und Setting sowie unterschiedlicher Stichproben nur schwer interpretierbar. Verlaufsuntersuchungen zeigen, dass bei Magersüchtigen, die in jungem Alter in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt werden, die Prognose deutlich günstiger ist als bei Patienten, die erst nach längerem Verlauf der Krankheit eine Behandlung aufnehmen. In einer Studie zeigte sich eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Intervention im Anschluss an eine stationäre Behandlung einem Vorgehen mit „Ernährungsmanagement“ als überlegen (Evidenzgrad II). Zur Rückfallprophylaxe im Anschluss an eine stationäre Behandlung bei AN wurde ein internetbasiertes Programm entwickelt und erfolgreich evaluiert (Fichter et al. 2012, 2013).
Bulimia nervosa
Für die „S3-Leitlinien für anorektische und bulimische Essstörungen“ (AWMF 2010) wurden deutlich über 30 randomisierte kontrollierte Studien näher analysiert. Für psychotherapeutische Verfahren zeigten sich für Bulimia nervosa insgesamt näherungsweise große Effektstärken (zwischen d = .75 und fast 1.00) für eine durchschnittliche Reduktion von Essanfällen (Evidenzgrad Ia – Post-Effektstärken). Die überwiegende Mehrzahl der vorliegenden Psychotherapiestudien bei BN untersuchen primär die Wirksamkeit kognitiv-verhaltenstherapeutischer Behandlung, deren Wirksamkeit gegenüber unbehandelten Kontrollgruppen, anderen Therapiegruppen (z. B. Ernährungsberatung) sehr klar aufgezeigt werden konnte (Evidenzgrad Ia). Begrenzte Evidenzen gibt es auch für die Wirksamkeit interpersonaler Psychotherapie sowie für andere Psychotherapieverfahren, wie z. B. dialektisch-behaviorale Therapie (DBT), doch aufgrund fehlender Studien nur sehr begrenzt für psychodynamische/tiefenpsychologische Therapie. Auch liegen Studien zur Wirksamkeit manualisierter KVT-Selbsthilfe vor; bei diesen fanden sich Effektstärken für die Reduktion von Essanfällen im mittleren Bereich (Evidenzgrad IIb). Manualisierte therapeutenangeleitete KVT-Selbsthilfe zeigte sich wirksam, jedoch nicht in dem Ausmaß wie kognitive Verhaltenstherapie durch Psychotherapeuten.
Binge-Eating-Störung (BES): Psychotherapie ist die Behandlung der Wahl für BES. Die größte Datenlage liegt mit Abstand für kognitive Verhaltenstherapie vor, sodass sie in der Praxis vorzugsweise Verwendung finden sollte. Zur Wirksamkeit von IPT gibt es erste Hinweise, doch ist die IPT kein Verfahren entsprechend der Richtlinien für ambulante Psychotherapie in Deutschland. Zur psychodynamischen/tiefenpsychologisch fundierten Behandlung ist die Datenlage gering. Für angeleitete, manualisierte Selbsthilfe auf der Basis von kognitiver Verhaltenstherapie liegen begrenzt einige Studien vor.
Kombinationsbehandlung
Anorexia nervosa
Hinsichtlich Kombinationsbehandlung von Pharmakotherapie plus Psychotherapie bei Magersucht ist die Datenlage zu heterogen, komplex und gering um eine klare Empfehlung zu erlauben.
Bulimia nervosa
Zur Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie mit Antidepressiva liegen eine Reihe von Studien vor. Die Drop-out-Rate ist bei Pharmakotherapie im Vergleich zu kognitiver Verhaltenstherapie oder anderen Formen der Psychotherapie bei Bulimia nervosa erheblich höher (Evidenzgrad Ia). Bei Kombinationsbehandlungen liegt wohl durch den Pharmakotherapieteil die Drop-out-Rate ebenfalls höher als bei reinen Psychotherapiestudien. Studienergebnisse zu der Thematik sind uneinheitlich, stützen jedoch eher nicht die Annahme, eine Kombinationsbehandlung sei einer Monotherapie überlegen.
Binge-Eating-Störung (BES)
Für eine zusätzliche Pharmakotherapie zur Psychotherapie bei BES gibt es derzeit keine ausreichenden Belege.
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