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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 22.02.2020

Essstörung

Verfasst von: Ulrich Schweiger und Valerija Sipos
Auffälligkeiten des Essverhaltens finden sich bei einer Vielzahl von psychischen und medizinischen Erkrankungen. Die Besonderheiten bei der Essstörung sind, dass restriktives Essverhalten instrumentell eingesetzt wird, um Gewicht und Figur zu beeinflussen und durch Hungern, Essanfälle und Erbrechen emotionale Zustände zu verändern (Anorexia nervosa und Bulimia nervosa). Charakteristisch für Essstörung ist auch ein Teufelskreis zwischen Nahrungsrestriktion und Kontrollverlust in Form von Essanfällen. Langfristig können sich die Essanfälle dann auch verselbstständigen (Binge-Eating-Störung).

Einführung und Definition

Auffälligkeiten des Essverhaltens finden sich bei einer Vielzahl von psychischen und medizinischen Erkrankungen. Die Besonderheiten bei der Essstörung sind, dass restriktives Essverhalten instrumentell eingesetzt wird, um Gewicht und Figur zu beeinflussen und durch Hungern, Essanfälle und Erbrechen emotionale Zustände zu verändern (Anorexia nervosa und Bulimia nervosa). Charakteristisch für Essstörung ist auch ein Teufelskreis zwischen Nahrungsrestriktion und Kontrollverlust in Form von Essanfällen. Langfristig können sich die Essanfälle dann auch verselbstständigen (Binge-Eating-Störung). Nach DSM-5 sind die in Tab. 1 genannten Subtypen von Essstörung definiert.
Tab. 1
Subtypen von Essstörung (Falkai und Wittchen 2015)
Diagnose
Schlüsselmerkmale
Anorexia nervosa
• Untergewicht (BMI <17,5 kg KG/m2)
• Restriktives Essverhalten motiviert durch psychologische Faktoren wie Angst, zu dick zu sein, und Emotionsvermeidung
• Fakultativ Essanfälle, Erbrechen, exzessive Bewegung
Bulimia nervosa
• Große Essanfälle (>1000 kcal innerhalb eines umgrenzten Zeitraums) mit subjektivem Kontrollverlust, mindestens einmal pro Woche
• Gegensteuernde Maßnahmen in Form von Erbrechen, Laxantien- oder Diuretikamissbrauch, exzessiver Sport
• Intermittierendes restriktives Essverhalten motiviert durch psychologische Faktoren wie Angst, zu dick zu sein, und Emotionsvermeidung, dabei kein Untergewicht
Binge-Eating-Störung
• Große Essanfälle (>1000 kcal) mit subjektivem Kontrollverlust, mindestens einmal pro Woche
• Keine regelmäßigen gegensteuernden Maßnahmen
• Häufig Übergewicht
Sonstige Essstörung
• Klinisch relevante Essstörung, die Kriterien der definierten Essstörungen werden aber verfehlt

Pathophysiologie

Als ursächlich oder für die Aufrechterhaltung der Störung relevant werden genetische, epigenetische, neurophysiologische, neurochemische, neuroimmunologische, neuroendokrine, psychologische und Verhaltensfaktoren diskutiert (Agras und Robinson 2017; Brownell und Walsh 2017). Ein Konsensus über die Gewichtung dieser Faktoren existiert nicht. Folgende psychologischen und psychobiologischen Mechanismen bedürfen besonderer Beachtung, da sie die Aufrechterhaltung der Essstörung begünstigen und mit den Patientinnen diskutiert werden sollten:
  • Restriktives Essverhalten dient der Stabilisierung des Selbstwertgefühls.
  • Erfolgreiches Fasten erzeugt ein Gefühl von Selbstkontrolle und steigert das Selbstwertgefühl.
  • Restriktives Essverhalten dient der Emotionsvermeidung und der Erlebnisvermeidung.
  • Emotionsvermeidung und Erlebnisvermeidung reduzieren kurzfristig die emotionale Dysregulation.
  • Restriktives Essverhalten und niedriges Gewicht erhöhen über psychologische und psychobiologische Mechanismen das Risiko von Essanfällen.
  • Erbrechen, Laxantien und exzessiver Sport reduzieren kurzfristig die mit Essanfällen verbundenen aversiven emotionalen und körperlichen Folgen.
  • Stressbelastung und die damit verbundenen Emotionen erhöhen das Risiko eines Essanfalls.
  • Die mit gestörtem Essverhalten verbundene physiologische Dysregulation erhöht langfristig über psychobiologische Mechanismen die emotionale Dysregulation.

Epidemiologie, Alter und Gender

Bei Frauen in Europa liegt die Lebenszeitprävalenz der Anorexia nervosa in einem Bereich von 1–4 %, der Bulimia nervosa von 1–2 % und der Binge-Eating-Störung von 1–4 %. Bei Männern liegt die Lebenszeitprävalenz irgendeiner Essstörung im Bereich von 0,3–0,7 % (Keski-Rahkonen und Mustelin 2016). Anorexia nervosa und Bulimia nervosa beginnen am häufigsten in der Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter, die Binge-Eating-Störung im jungen oder mittleren Erwachsenenalter.

Klinik

Die Patienten suchen wegen eines breiten Spektrums von Symptomen und Problemen Behandlung auf: Erschöpfungszustände, Herzrhythmusstörungen, Ödeme, Störungen des Elektrolythaushalts, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Übergewicht und medizinische Folgeerkrankungen, Schmerzen im Abdomen oder Thorax, Durchfälle, Obstipation, Analprolaps, Nierenfunktionsstörungen, Hautprobleme, Zahnprobleme oder gynäkologisch-endokrinologische Probleme.
Die folgenden Verhaltensweisen weisen auf restriktives Essverhalten hin:
  • Vermeidung von hochkalorischen, fetthaltigen oder kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln, häufig begleitet von extremen Ernährungsregeln
  • Auslassen von Mahlzeitbestandteilen, wie Nachtisch, oder ganzer Mahlzeiten
  • Kauen und Ausspucken von Nahrungsmitteln
  • Genaue Bestimmung des Kaloriengehalts von Mahlzeiten, z. B. durch Abwiegen und Benutzung von Kalorientabellen
  • Vermeidung von Nahrungsmitteln, deren Kaloriengehalt nicht eindeutig bestimmbar ist, z. B. wenn eine andere Person Suppe gekocht hat
  • Verwendung von Süßstoffen, Fettersatzstoffen und Light-Produkten
  • Verwendung von Appetitzüglern oder Nikotin zur Appetitkontrolle
  • Beschränkung auf eine oder zwei Mahlzeiten pro Tag
  • Essverhalten in Form einer großen Zahl sehr kleiner Mahlzeiten
  • Zufuhr von großen Flüssigkeitsmengen vor den Mahlzeiten, um die Nahrungsaufnahme durch Völlegefühl zu begrenzen
  • Beschränkung der Flüssigkeitszufuhr, um durch Durst oder trockene Schleimhäute Nahrungsaufnahme zu erschweren
  • Einkaufen von unattraktiven Nahrungsmitteln, um das eigene Essverhalten durch Aversion zu steuern
  • Horten von Nahrungsmitteln, die betrachtet, aber nicht gegessen werden
  • Benutzung von Salz, Pfeffer und anderen Gewürzen, um Nahrungsmittel schwer essbar zu machen
  • Einsatz von bestimmten Vorstellungen, um den Konsum von Nahrungsmitteln unattraktiv zu machen, z. B. die Vorstellung, dass Schokolade durch Mäusekot verunreinigt ist, dass der Koch in die Suppe gespuckt hat, dass alles Gemüse durch Luftverschmutzung verunreinigt ist oder dass Fleisch immer von Tieren stammt, die nicht artgerecht gehalten wurden
  • Vermeidung von Essen in Gemeinschaft, um Ablenkung von den restriktiven Plänen beim Essen zu vermeiden
  • Vermeidung von Essen in Gemeinschaft, aus Scham über das eigene Essverhalten oder um Kommentare anderer über das eigene Essverhalten zu vermeiden
  • Nutzung von einengenden Bauchgürteln, beengender Kleidung oder Muskelanspannung, um beim Essen ein frühzeitiges Völlegefühl zu erzeugen
  • Nutzung von Zungenpiercings oder Selbstverletzungen im Mundraum, um die Nahrungsaufnahme zu erschweren
Der Begriff Essanfall beschreibt eine Episode von Nahrungszufuhr, bei der die üblichen steuernden Funktionen verloren gehen oder erst gar nicht ausgeübt werden. Bei objektiven Essanfällen werden Nahrungsmengen zugeführt, die von ihrer Kalorienzahl den Rahmen einer normalen Mahlzeit deutlich überschreiten. Eine genaue Kaloriengrenze ist nicht definiert, häufig werden aber 1000 kcal als Grenze angenommen. (Eine Ausnahme von dieser Regel stellen Mahlzeiten dar, die an Tagen mit intensiver körperlicher Arbeit oder sportlicher Betätigung erfolgen.) Episoden von Nahrungsmittelkonsum, die ungeplant oder unerwünscht sind, aber objektiv keine aus dem Rahmen fallenden Mengen darstellen, können subjektiv ebenfalls als Essanfälle wahrgenommen werden, sind aber für die diagnostische Eingruppierung nicht relevant. Typischerweise werden bei Essanfällen Nahrungsmittel gegessen, die ansonsten „verboten“ sind oder gemieden werden. Bei einer langzeitig bestehenden Essstörung werden Essanfälle häufig genau geplant, d. h., es werden für einen Essanfall geeignete Nahrungsmittel eingekauft und dafür gesorgt, dass niemand den Essanfall stört.
Folgende Verhaltensweisen dienen dazu, aufgenommene Energie oder Flüssigkeiten rasch wieder aus dem Organismus zu entfernen:
  • Erbrechen entweder automatisch, nach Reizung des Rachenraums oder unterstützt durch chemische Substanzen, wie Radix Ipecacuanha, Salzlösungen oder auch durch Ekelvorstellungen
  • Missbrauch von pflanzlichen oder chemischen Laxantien
  • Missbrauch von pflanzlichen oder chemischen Diuretika
  • Missbrauch von Schilddrüsenhormonen, um den Grundumsatz zu erhöhen
  • Exzessiver Sport inklusive exzessiver isometrischer Übungen
  • Exzessive Exposition gegenüber Kälte und Hitze, um Kalorien zu verbrauchen oder Flüssigkeit zu verlieren
  • Weglassen von Insulin bei Typ-1-Diabetes, um eine Glukosurie zu erzeugen
Essstörungstypische Aufmerksamkeitslenkung und Kontrollverhalten sind:
  • Mehrfach tägliches Wiegen, um Veränderungen des Körpergewichts engmaschig zu kontrollieren
  • Selbstbetrachtung im Spiegel, um die eigene Figur zu überprüfen oder sich zu weiterem Diätverhalten anzuspornen
  • Abmessen von Körperumfängen mit einem Maßband (Bauch, Oberschenkel, Arme); gelegentlich werden dazu Markierungen auf die Haut aufgebracht, um immer an derselben Stelle zu messen
  • Abschätzung der Dicke von Hautfalten (typischerweise mit 2 Fingern)
  • Abtasten der Körperoberfläche (beispielsweise, ob der Beckenkamm oder Rippen tastbar sind)
  • Problematische soziale Vergleichsprozesse (z. B. Vergleich des eigenen Körpers mit dem der attraktivsten jungen Frau im Raum)
Symptome, die auf eine „erworbene Furchtlosigkeit“ hinweisen, sind:
  • Fehlendes Erleben von Angst bezüglich des eigenen Überlebens oder der eigenen körperlichen Unversehrtheit trotz schwerwiegender objektiver Gefährdung
  • Bagatellisierung der Gefährdung durch Untergewicht oder Übergewicht
Symptome, die auf kontinuierliche oder intermittierende Nahrungsrestriktion zurückzuführen sind:
  • Kontinuierliche kognitive Beschäftigung mit Nahrung oder nahrungsbezogenen Themen
  • Reduzierte Libido
  • Kälte- und Wärmeempfindlichkeit
  • Psychomotorische Unruhe oder Apathie
  • Müdigkeit

Diagnostik

Essstörung wird unterdiagnostiziert. Wichtige Barrieren sind die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen und die damit verbundene Zurückhaltung von Patientinnen und Ärztinnen, dieses Thema anzusprechen. Essstörung wird nicht selten auch aktiv verheimlicht.
Besondere Aufmerksamkeit sollte folgenden Personen zukommen:
  • Junge Frauen mit niedrigem Körpergewicht
  • Patientinnen, die mit Gewichtssorgen kommen, aber nicht übergewichtig sind
  • Frauen mit Zyklusstörungen oder Amenorrhö
  • Patientinnen, die mangelernährt erscheinen
  • Übergewichtigen und adipösen Patienten, insbesondere wenn sie nicht in der Lage sind, Empfehlungen zu Verhaltensveränderungen umzusetzen
  • Junge Patientinnen mit gastrointestinalen Symptomen
  • Junge Patientinnen mit ausgeprägten Zahnschäden
  • Patientinnen mit wiederholtem Erbrechen
  • Kinder mit Wachstumsverzögerung.
Das Screening auf eine Essstörung kann sich auf ausgewählte Fragen aus diesem Katalog beschränken:
  • Sind Sie mit Ihrem Essverhalten zufrieden?
  • Haben Sie ein Essproblem?
  • Machen Sie sich Sorgen wegen Ihres Gewichts oder Ihrer Ernährung?
  • Beeinflusst Ihr Gewicht Ihr Selbstwertgefühl?
  • Machen Sie sich Gedanken wegen Ihrer Figur?
  • Essen Sie heimlich?
  • Essen Sie in der Nacht?
  • Übergeben Sie sich, wenn Sie sich unangenehm voll fühlen?
  • Machen Sie sich Sorgen, weil Sie manchmal mit dem Essen nicht aufhören können?
Zur präzisen Diagnostik stehen standardisierte Interviews und Checklisten zur Verfügung. Essstörung ist nur selten eine monomorbide Erkrankung. Bei etwa 80 % der Patienten finden sich komorbide psychische Störungen. Am häufigsten sind depressive Störungen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen und Substanzmissbrauch. Da komorbide psychische Störungen die Behandlungsplanung und Prognose erheblich beeinflussen, ist eine erweiterte Diagnostik möglicher Komorbidität mit psychischen Störungen empfehlenswert.
Medizinische Diagnostik bei Essstörung dient vor allem der Identifikation von behandelbaren Gefährdungsfaktoren, die sich aus Untergewicht, Erbrechen oder Übergewicht ergeben. Eine Indikation für eine stationäre Behandlung ergibt sich aus relevanten Herzrhythmusstörungen, einer Bradykardie mit einer Herzfrequenz <40/min, einer Hypotonie mit einem Blutdruck <90/60 mmHg, einer Blutglukose <60 mg/dl, einer Kaliumkonzentration <3,0 mmol/l, Natrium <130 mmol/l, Phosphat <0,5 mmol/l, einer Hypothermie <36,1 °C, erheblichen Störungen der Leber oder Nierenfunktion, Herzinsuffizienz oder einem entgleisten Diabetes mellitus.
Eine Dokumentation des komplexen Syndroms der Anpassung an Mangelernährung, das bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa besteht (Schorr und Miller 2017), mit Hyperkortisolismus, Hypogonadismus, Low-T3-Syndrom und niedriger Knochendichte ist zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken nicht erforderlich, da sich keine spezifischen Konsequenzen ergeben.

Differenzialdiagnostik

Differenzialdiagnosen der Anorexia nervosa sind alle medizinischen Erkrankungen, die zu Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust und Untergewicht führen. Anorexia nervosa ist die häufigste Ursache von Untergewicht bei Frauen in westlichen Ländern. Eine Anorexia nervosa ist nur selten eine Ausschlussdiagnose, da bei Patienten mit medizinischen Ursachen von Untergewicht die charakteristischen psychologischen Merkmale der Essstörung fehlen. In Zweifelsfällen empfiehlt sich eine intensive neurologische und medizinische Diagnostik. Die Assoziation zwischen Übergewicht und Essstörung ist in der Allgemeinbevölkerung weniger deutlich. Allerdings erfüllen bis zu 50 % der Patienten, die wegen Adipositas stationäre Behandlung aufsuchen, die Kriterien einer Binge-Eating-Störung.

Therapie

Zur Behandlung von Essstörung gibt es eine deutsche S3-Leitlinie (Herpertz 2018) sowie mehrere Cochrane Reviews zu Psychotherapie bei Bulimia nervosa und Binge Eating (Hay et al. 2009b), Psychotherapie bei Anorexia nervosa (Hay et al. 2009a) und zur Pharmakotherapie bei Bulimia nervosa (Bacaltchuk und Hay 2002; Bacaltchuk et al. 2002)

Ernährungstherapie bei Anorexia nervosa mit lebensbedrohlichem Untergewicht

Bei lebensbedrohlichem Untergewicht (BMI <13 kg KG/m2) oder medizinischen Komplikationen kann sich die Notwendigkeit einer enteralen oder parenteralen Ernährung ergeben. Hierbei ist zunächst zu erwägen, ob die Gefährdung durch verhaltensbezogene Maßnahmen abzuwenden ist (Thiels 2008). Wichtig ist es zu versuchen, einen Konsensus mit dem Patienten anzustreben. Maßnahmen gegen den Willen des Patienten müssen die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen beachten. Wiederernährung bei Patienten mit ausgeprägtem Untergewicht ist mit dem Risiko eines Refeeding-Syndroms belastet. Leitsymptome sind die rasche Entwicklung einer Hypophosphatämie, Hypomagnesämie, Hypokaliämie, Ödemen, Delir und weiteren neurologischen Syndromen. Die Gefährdung ist am höchsten bei parenteraler Gabe von Glukose. Es ist unklar, ob eines der spezifischen Ernährungsprotokolle für die Wiederernährung tatsächlich Vorteile bringt (Garber et al. 2016). Erforderlich ist eine engmaschige medizinische Überwachung.

Ernährungsmanagement bei nicht vital bedrohten Patienten

Die tägliche Ernährung sollte folgenden Kriterien genügen:
a)
Vielfalt unter Einschluss aller Nahrungsmittelgruppen
  • Getreideprodukte (Brot, Nudeln), Reis, Kartoffeln, Hülsenfrüchte
  • Gemüse
  • Obst
  • Speisefette
  • Milchprodukte
  • Fisch, Fleisch
Vielfalt erfordert den Abbau der „schwarzen Listen von verbotenen Nahrungsmitteln“ der Patientinnen. Da in der Essstörung viele Nahrungsmittel mit Ekelvorstellungen belegt wurden, ist es erforderlich, das Spektrum wieder zu erweitern. Wiederherstellung einer angemessenen Ernährungsvielfalt und der Abbau extremer Ernährungsregeln sind wichtige Prädiktoren für ein günstiges Therapieergebnis bei Anorexia nervosa.
 
b)
Ausgewogenheit bezieht sich auf die Makronährstoffe.
Eine ausgewogene Ernährung enthält (auf Kalorien bezogen) in Mitteleuropa etwa 50 % Kohlenhydrate, 35 % Fett und 15 % Eiweiß.
 
c)
Angemessene Kalorienzufuhr berücksichtigt den Grundumsatz (Hauptdeterminante ist die Muskelmasse) und den Verbrauchsumsatz. Der Energiebedarf kann mit folgenden Formeln geschätzt werden:
  • Grundumsatz Frauen (kcal): 700 + 7 × (Gewicht in kg)
  • Grundumsatz Männer (Kcal): 900 + 10 × (Gewicht in kg)
Um den Tagesbedarf bei geringer, mittlerer und hoher Aktivität zu schätzen, muss man den Grundumsatz mit 1,2, 1,4. bzw. 1,8 multiplizieren. Der tatsächliche Verbrauch kann allerdings von diesen Schätzungen um bis zu 30 % abweichen. Entscheidend für die Beurteilung der Angemessenheit der Kalorienzufuhr ist deshalb der Gewichtsverlauf.
 
d)
Regelmäßige Mahlzeiten zu festen Zeiten sind eine wesentliche Voraussetzung für das Wiedererlernen eines angemessenen Essverhaltens. Ein wichtiges Signal für die Angemessenheit von Ernährungsmengen ist es, wenn erst kurz vor der geplanten nächsten Mahlzeit wieder eine mentale Beschäftigung mit Nahrung einsetzt. Antizipatorische Nahrungszufuhr wird über Appetit geregelt. Die Aufforderung, „nach Hunger und Sättigung“ zu essen, berücksichtigt diese physiologischen Zusammenhänge nicht, ist überholt und potenziell nachteilig, da essen dann nur noch bei ausgeprägten Hungergefühlen erfolgt.
 
Strgukturiertes Essen
Der Wiederaufbau eines angemessenen Essverhaltens folgt einem Shaping-Modell. Der erste Schritt ist deshalb die Wiederaufnahme einer Essensstruktur. Der Patientin wird folgendes Vorgehen vorgeschlagen:
  • 3 Mahlzeiten zu festen Zeitpunkten
  • Zunächst keine Vorgaben zu Menge und Art der dabei konsumierten Nahrungsmittel
  • Die 3 Mahlzeiten sollen nicht erbrochen werden
Die Erfahrungen mit diesem Vorgehen werden anhand von Ernährungsprotokollen und Verhaltensprotokollen ausgewertet, anschließend werden weitere Schritte geplant.

Psychotherapie

Eine zentrale Behandlungsoption bei Essstörung ist eine Psychotherapie mit einem wissenschaftlich anerkannten Verfahren (Verhaltenstherapie oder psychodynamische Psychotherapie). Insbesondere für die Verhaltenstherapie liegt eine große Zahl von Wirksamkeitsnachweisen vor. Die Wirksamkeit von Psychotherapie ist für die Bulimia nervosa und die Binge-Eating-Störung sehr gut belegt, bei der Anorexia nervosa liegen deutlich weniger, aber ebenfalls positive Evidenzen vor (Zeeck et al. 2018; Murray et al. 2019).

Pharmakotherapie

Es gibt Hinweise auf günstige Wirkungen von Serotonin- und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern auf die bulimische Symptomatik. In Deutschland zur Behandlung der Bulimie zugelassen ist ausschließlich Fluoxetin. Bei dem Antidepressivum Bupropion besteht eine Kontraindikation zum Einsatz bei Patienten mit Essstörung (Tab. 2).
Tab. 2
Fluoxetin zur Behandlung der Bulimie
Gruppe
Substanz
Empfohlener Dosisbereich
Ausgewählte spezifische Nebenwirkungen und Interaktionen der Substanzklasse
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
Fluoxetin
60–80 mg
Übelkeit, Diarrhö, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Gewichtsabnahme, Gewichtszunahme, sexuelle Funktionsstörungen, Hyponatriämie, Verlängerung QT-Intervall, Blockade des Metabolismus anderer Pharmaka, Absetzsyndrome, erhöhtes Risiko von Blutungen insbesondere zusammen mit Antikoagulantien

Komplementäre Maßnahmen

Ein Lebensstil mit ausreichender körperlicher Aktivität (z. B. 3 Stunden intensiver sportlicher Betätigung oder 8 Stunden extensiver Bewegung pro Woche) und Verzicht auf Nikotin- und Substanzmissbrauch sind sowohl in der Prophylaxe wie in der Therapie von Essstörung hilfreich. Gute soziale Einbindung und Partizipation an Aktivitäten sind günstiger als Rückzug und Vermeidungsverhalten.

Setting der Behandlung

Folgende Kriterien sprechen für eine stationäre Behandlung in einer für Patientinnen mit Essstörung spezialisierten Krankenhausabteilung:
  • Rapider oder anhaltender Gewichtsverlust (>20 % über 6 Monate) bei Anorexia nervosa
  • Gravierendes Untergewicht (BMI <15 kg KG/m2)
  • Fehlender Erfolg einer ambulanten Behandlung bei allen Formen von Essstörung
  • Soziale oder familiäre Einflussfaktoren, die die Therapie im ambulanten Setting erheblich behindern (z. B. soziale Isolation, problematische familiäre Situation, unzureichende soziale Unterstützung)
  • Ausgeprägte Komorbidität mit weiteren psychischen Störungen
  • Körperliche Gefährdung (z. B. bei Hypokaliämie, niedrigem Blutdruck oder Herzrhythmusstörungen)
  • Notwendigkeit der Behandlung durch ein multiprofessionelles Team mit krankenhaustypischen Heilmethoden (stationäre Intensivtherapie)
Die stationäre Behandlung sollte an Einrichtungen erfolgen, die ein spezialisiertes Behandlungsprogramm anbieten. Stationäre Behandlung in psychiatrischen oder psychosomatischen Abteilungen, die in Kliniken der Maximalversorgung integriert sind, erlaubt auch ein psychotherapeutisches Management von körperlich schwerstkranken Patientinnen (z. B. Patientinnen mit BMI <12 kg KG/m2, Patientinnen mit kardialen oder renalen Komplikationen).

Verlauf und Prognose

Alle Subtypen von Essstörung sind mit einer erheblich erhöhten Mortalität vergesellschaftet. Besonders hoch ist die Mortalität bei Patienten, die im Rahmen einer Anorexia nervosa einen BMI von 13 unterschreiten (Arcelus et al. 2011) sowie bei Patientinnen mit weiteren komorbiden Störungen (Kask et al. 2016; Himmerich et al. 2019). Etwa 10 Jahre nach einer Indexbehandlung erfüllen etwa 60–70 % nicht mehr die Diagnose einer Essstörung. Die Zeit bis zur Remission beträgt in der Regel mehrere Jahre. Etwa 5–15 % der Patienten versterben. Die Todesfälle sind auf medizinische Komplikationen der Essstörung und auf Suizid zurückzuführen. Etwa 20 % haben eine chronische Essstörung. Ein Teil der bezüglich der Essstörung remittierten Patienten haben aufgrund von komorbiden psychischen Störungen weiter ein eingeschränktes Funktionsniveau. In den letzten Jahren wurde vorgeschlagen, Essstörungen nach ihrem zeitlichen Verlauf einzuteilen und ab einer Dauer von mindestens 7 Jahren mit ernsten Funktionseinschränkungen von einer „severe and enduring eating disorder“ (SEED) zu sprechen (Treasure et al. 2015).

Besondere Aspekte, Wechselwirkungen mit anderen Erkrankungen und Schwangerschaft

Essstörung und Komorbidität mit weiteren psychischen Störungen

Patientinnen mit Essstörung und komorbiden Persönlichkeitsstörungen oder depressiven Störungen lassen sich bezüglich der Essstörungssymptomatik selbst erfolgreich behandeln, haben aber nach einer Behandlung häufig eine größere allgemeine Symptombelastung. Gegebenenfalls sind weitere spezifische Interventionen bezüglich der Komorbidität erforderlich.

Essstörung und Adipositas

Insbesondere Patienten mit einer Binge-Eating-Störung entwickeln häufig eine Adipositas, die auch nach erfolgreicher Behandlung der Essstörung nicht reversibel ist. In der Folge sind metabolisches Syndrom, kardiovaskuläre Erkrankungen, obstruktive Schlafstörungen und Schädigung des Skelettsystems gehäuft. In dieser Situation ist das gesamte Repertoire verhaltensmedizinischer und medizinischer Interventionen indiziert. Interventionen, die auf restriktives Essverhalten aufbauen, haben allerdings eine verminderte Erfolgswahrscheinlichkeit.

Essstörung und Infertilität

Patientinnen mit Essstörung berichten häufig über Amenorrhoe oder Oligomenorrhoe. Aufgrund der ernährungsbedingten Störungen des gonadalen Systems leiden Männer und Frauen mit Essstörung häufiger unter Infertilität (Schweiger et al. 2018). Bei der Untersuchung finden sich häufig hypogonadotroper Hypogonadismus oder Lutealphasenstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa) oder polyzystische Ovarien (Bulimia nervosa, Binge-Eating-Störung). Bei Kinderwunsch ist es empfehlenswert, die Patientinnen und Patienten so zu beraten, dass der Behandlung der Essstörung Priorität gegeben wird, bevor Techniken der assistierten Reproduktion zum Einsatz kommen.

Essstörung und Schwangerschaft

Frauen mit Essstörung haben mehr prä- und perinatale Schwangerschaftskomplikationen (Kimmel et al. 2016). Die Häufigkeit von Frühgeburtlichkeit ist erhöht. Es treten mehr postpartale depressive Störungen auf. Schwangere Frauen mit einer Essstörung bedürfen deshalb einer besonders intensiven Betreuung.

Essstörung und Osteoporose

Infolge des bei Essstörung bestehenden endokrinen Syndroms ist die Häufigkeit von Osteoporose und pathologischen Frakturen erhöht (Schorr et al. 2017). Am stärksten betroffen sind ausgeprägt untergewichtige Patienten mit Anorexia nervosa. Substitution mit Östrogenen hat sich in kontrollierten Studien als unwirksam erwiesen. Auch andere Strategien aus der Behandlung der Osteoporose in der Menopause sind unwirksam oder nicht systematisch erprobt. Normalisierung von Gewicht und Ernährung führt zu einer erheblichen Verbesserung der Knochendichte.

Essstörung und Diabetes

Männliche Kinder und Adoleszente mit Diabetes mellitus Typ 1 haben ein um den Faktor 3,7, Frauen um den Faktor 2,0 erhöhtes Risiko einer Neuerkrankung an einer Essstörung (Dybdal et al. 2018). Interventionen bei Patienten mit einem Diabetes mellitus Typ 1 und einer Essstörung sind nur eingeschränkt wirksam (Clery et al. 2017). Besonders problematisch ist es, wenn die Insulinbehandlung absichtlich weggelassen wird, um eine Glukosurie zu erzeugen. Patienten mit einer Binge-Eating-Störung haben erhebliche Probleme, das Ernährungsmanagement bei Diabetes mellitus Typ 2 einzuhalten. Patienten mit Essstörung und Diabetes benötigen eine eng abgestimmte internistische und psychotherapeutische Behandlung.

Essstörung und Zahnstatus

Regelmäßiges induziertes Erbrechen führt zu einer erheblich erhöhten Häufigkeit von dentalen Erosionen, Karies und zugehörigen Komplikationen sowie Funktionsstörungen der Speicheldrüsen (Kisely et al. 2015).

Essstörung und bariatrische Chirurgie

Ein überproportionaler Teil der Patienten, die für sich die Option einer bariatrisch-chirurgischen Maßnahme überprüfen, erfüllen die Kriterien einer Essstörung. Das Vorliegen einer Essstörung ist keine Kontraindikation für eine bariatrische Operation, erhöht aber die Komplikationsrate und senkt das Ausmaß des erreichbaren Gewichtsverlusts (Müller et al. 2012; Chao et al. 2016).
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