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Anti-Müller-Hormon

Verfasst von: M. Bidlingmaier
Anti-Müller-Hormon
Synonym(e)
AMH; Anti-Müller-Faktor; Anti-Müller-Substanz; MIH; MIF; MIS
Englischer Begriff
anti-Müllerian hormone (AMH); Müllerian-inhibiting hormone (MIH); Müllerian-inhibiting-factor (MIF); Müllerian-inhibiting-substance (MIS)
Definition
Glykoprotein aus der TGF-β-Familie („transforming growth factor-β“), das beim männlichen Feten die Rückbildung der Müller-Gänge induziert und damit zur Entwicklung des männlichen Genitales führt.
Struktur
Es handelt sich um ein aus 2 identischen, über Disulfidbrücken verbundenen Untereinheiten bestehendes Glykoprotein (Homodimer). Synthetisiert wird zunächst ein 560 Aminosäuren langes Präkursormolekül, von dem noch eine Signalsequenz abgespalten wird.
Molmasse
140 kDa (glykiertes Hormon).
Synthese – Verteilung – Abbau – Elimination
Beim Mann wird AMH von den Sertoli-Zellen des Hodens gebildet. Bei Frauen wird AMH ab der Pubertät von den Granulosazellen der heranwachsenden, präantralen und kleinen antralen Follikeln des Ovars gebildet. Das AMH-Molekül kann noch proteolytisch gespalten werden, ein kürzeres C-terminales Fragment ist ebenfalls biologisch aktiv. In Zirkulation findet sich eine Mischung von molekularen Isoformen. Die Ausscheidung erfolgt hepatisch und renal.
Halbwertszeit
Ca. 28 Stunden.
Pathophysiologie
Die pathophysiologische Bedeutung des AMH ist wie seine physiologische Rolle bei beiden Geschlechtern unterschiedlich.
Männer
Das im embryonalen Hoden ab der 7. Gestationswoche gebildete AMH führt zur Regression der Müller-Gänge. Es verbleibt als morphologisches Korrelat die Appendix testis (Morgagni-Hydatide). AMH ist damit neben Testosteron das wichtigste Hormon, das die normale Entwicklung des männlichen Genitales steuert. Über die gesamte Kindheit bleibt AMH bei Jungen ein guter Indikator der Sertoli-Zell-Aktivität. Normale AMH-Konzentrationen sprechen bei Knaben mit Kryptorchismus, vermuteter Anorchie oder bei einer Reihe von Erkrankungen der sexuellen Entwicklung und Reifung („disorders of sex development“, DSD) sehr für das Vorhandensein von Hodengewebe, während niedriges oder nicht messbares AMH auf eine Hodendysgenesie oder Anorchie hinweist. Mit Einsetzen der Pubertät kommt es unter dem Einfluss der Androgene zur Suppression der AMH-Konzentrationen. Die Rolle des AMH im späteren Leben des Mannes ist unklar, es scheint kein Bezug zur Fertilität zu bestehen.
Frauen
Anders als beim männlichen fehlt beim weiblichen Feten AMH. Die Müller-Gänge entwickeln sich daher zu Eileiter, Gebärmutter und zum oberen Teil der Vagina des weiblichen inneren Genitales. Ab der 36. Gestationswoche ist eine AMH-Bildung nachgewiesen, jedoch sind die Konzentrationen bei weiblichen Neugeborenen sehr niedrig. Höhere AMH-Konzentrationen sprechen für das Vorhandensein von Hodengewebe. Erst ab der Pubertät erreichen bei Mädchen die Konzentrationen des dann von den Granulosazellen der präantralen und frühen antralen Follikel gebildeten AMH annähernd die Werte postpubertärer Jungen. Physiologisch inhibiert AMH die Follikelrekrutierung und -selektion. Fehlt bei der Frau AMH oder besteht aufgrund von AMH-Rezeptormutationen eine Insensitivität, kommt es zum akzellerierten Follikelverlust. Mit fortschreitendem Lebensalter und damit fortschreitendem Follikelverlust kommt es zum Abfall der AMH-Konzentrationen. Dieser Abfall ist biochemisch deutlich vor dem menopausalen Anstieg des FSH (Follikelstimulierendes Hormon) nachweisbar.
Die spezifische Bildung des AMH in den frühen Formen potenziell reifungsfähiger Follikeln macht es zum idealen Marker der ovariellen Funktionsreserve. Dies erklärt auch die zunehmende Bedeutung für die biochemische Analytik im Umfeld der assistierten Reproduktion. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass AMH zwar Aussagekraft für die ovarielle Reserve, nicht aber für den Erfolg der Schwangerschaft hat. Offensichtlich korrelieren Follikelanzahl und Follikelqualität nicht immer.
Beim polyzystischen Ovar sind die AMH-Konzentrationen teilweise stark erhöht. Es ist damit zu rechnen, dass die AMH-Bestimmung in zukünftigen Leitlinien zum PCOS (polyzystisches Ovarialsyndrom) die traditionellen diagnostischen Kriterien ergänzt oder aber ersetzt. Die Beeinträchtigung der ovariellen Funktion durch Chemotherapie, aber auch ihre Erholung lässt sich ebenfalls an den AMH-Konzentrationen ablesen. Massiv erhöhte AMH-Konzentrationen finden sich bei von Granulosazellen ausgehenden ovariellen Tumoren. Es kann in diesen Fällen auch als sensitiver Marker im Monitoring von Therapie und Krankheitsverlauf eingesetzt werden.
Untersuchungsmaterial
Probenstabilität
Die Stabilität wird für unterschiedliche Assays und von unterschiedlichen Autoren verschieden bewertet. Allgemein ist mit längerer Lagerungsdauer bei Raumtemperatur mit falsch hohen Werten zu rechnen (+20 % in 4 Tagen), während Langzeitlagerung bei −20 °C zu erniedrigten Werten führt. Empfohlen wird die Langzeitlagerung bei −80 °C.
Präanalytik
Keine besonderen Maßnahmen erforderlich. Bemerkenswert ist, dass AMH kaum zyklusabhängig ist und auch nicht durch orale Kontrazeptiva beeinflusst wird.
Analytik
Konventionelle Einheit
ng/mL.
Internationale Einheit
pmol/L.
Umrechnungsfaktor zw. konv. u. int. Einheit
1 ng/mL = 7,1429 pmol/L.
Referenzbereich – Erwachsene
Die Referenzbereiche sind stark vom verwendeten Assay abhängig.
Männer 2–14 ng/mL, Frauen (fertil) 1–8 ng/mL.
Werte unter 1 ng/mL sprechen für eine deutlich reduzierte Follikelzahl und damit für eine niedrigere Wahrscheinlichkeit für eine Schwangerschaft.
Referenzbereich – Kinder
Die Referenzbereiche sind stark vom verwendeten Assay abhängig.
Jungen bis zur Pubertät: 42–154 ng/mL.
Jungen nach der Pubertät: 2–16 ng/mL.
Neugeborene: nicht messbar bis 2,2 ng/mL.
Mädchen: 0,7–8,4 ng/mL.
Indikation
Männer
  • Diagnose von Störungen der Sexualentwicklung („disorders of sex development“, DSD) bei Neugeborenen (nicht eindeutige Genitalien, bilateraler Kryptorchismus)
  • Indikation in der Fertilitätsdiagnostik fraglich
Frauen
  • Beurteilung der ovariellen Reserve
  • Prognostischer Faktor in der Indikationsstellung für In-vitro-Fertilisation (IVF)
  • Vorhersage der Antwort auf kontrollierte ovarielle Stimulation
  • Einschätzung des Risikos eines ovariellen Hyperstimulationssyndroms (OHSS)
  • Diagnose von Störungen der Sexualentwicklung („disorders of sex development“, DSD) bei Neugeborenen
  • Prämature Ovarialinsuffizienz
  • Überprüfung der Ovarialfunktion bei Chemotherapie
  • Monitoring von Granulosazelltumoren
  • Polyzystisches Ovarialsyndroms (“polycystic ovary syndrome”, PCOS)
  • Vorhersage des Zeitpunktes der Menopause
Interpretation
S. Pathophysiologie und Referenzbereiche.
Diagnostische Wertigkeit
Insbesondere die spezifische und enge Korrelation mit der Anzahl potenziell reifungsfähiger Follikel, die relativ geringen Schwankungen über den Zyklus und die fehlende Beeinflussung durch Kontrazeptiva machen AMH zu einem wertvollen Parameter im Rahmen der Kinderwunschbehandlung.
Literatur
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