Ätiologie und Pathogenese
Grundsätzlich werden kongenitale von erworbenen Schädigungen unterschieden. Bei den erworbenen Ursachen können Hypothalamus und/oder Hypophyse durch Traumata, Noxen, Bestrahlung mit Dosen >40 Gy oder Tumoren beschädigt oder zerstört werden (Tab.
1). Das Kraniopharyngeom, welches meist zystisch wächst und sich rasch intra- und suprasellär ausbreiten kann, ist ein relativ häufiger Tumor. Funktionell erworbener Gonadotropinmangel findet sich bei Patienten mit
Anorexia nervosa und schweren Systemerkrankungen.
Kongenitale Störungen des Gonadotropinmangels können aufgrund einer Funktionsstörung der GnRH-Neurone (Migrationsstörung,
Reifungsstörung, verkürzte Lebensdauer), der Adenohypophyse, im Rahmen von Mittelliniendefekten, Defekten einiger hypothalamisch-hypophysären Transkriptionsfaktoren und genetischer Syndrome, wie das
Prader-Willi-Syndrom, vorkommen.
Das Kallmann-Syndrom beschreibt eine heterogene Gruppe von Erkrankungen, deren Defekt auf einer Migrationsstörung der embryonalen GnRH-Neurone aus der olfaktorischen Plakode in den Hypothalamus beruht (Kap. „Krankheiten von Hypophyse und Hypothalamus bei Kindern und Jugendlichen“). Es finden sich sowohl gonosomale als auch autosomale Gendefekte in derzeit mindestens 10 unterschiedlichen Genen (Tab.
2). Bei der X-chromosomalen Störung liegt eine Mutation im
KAL1-Gen (Xp22.3) vor, welches für Anosmin-1 kodiert, ein Protein, das für die Entwicklung der Geruchsnerven und der
Migration der GnRH-Neuronen verantwortlich ist. Bei den betroffenen Patienten liegt neben dem kongenitalen Gonadotropinmangel eine Anosmie vor. Andere assoziierte Fehlbildungen können Nierenagenesie, bimanuale Synkinesie, Gaumenspalten und Zahnanomalien sein. Der Phänotyp variiert innerhalb betroffener Familien erheblich.
KAL1-Mutationen finden sich bei 14 % der familiären und 11 % der sporadischen Fälle. Bei der autosomal-dominanten Form des Kallmann-Syndroms (
KAL2) liegt ebenfalls ein heterogenes variables Krankheitsbild vor. Die zugrunde liegende genetische Störung ist eine Loss-of-function-Mutation im
FGFR1-Gen auf
Chromosom 8p11.2-p12.
Tab. 2Kandidatengene für Kallmann-Syndrom (KS) und idiopathischen hypogonadotropen
Hypogonadismus (IHH) ohne Riechstörung
KAL1 | Anosmin 1 | Xp22.3 | KS |
FGFR1 | Fibroblast-growth-factor-Rezeptor | 8p12 | KS oder IHH |
FGF8 | Fibroblast growth factor 8 | 10q24.32 | KS oder IHH |
PROK2 | Prokineticin 2 | 3q21.1 | KS oder IHH |
PROKR2 | Prokineticin-2-Rezeptor | 20p13 | KS oder IHH |
NELF | Nasal embryonic factor | 9q34.3 | KS |
CDH7 | Helicase-DNA-binding-Protein 7 | 8q12.1 | KS oder IHH |
HS6ST1 | Heparansulfat-6-O-Sulfotransferase 1 | 2q21 | IHH |
WDR 11 | WD repeat domain 11 | 10q26 | KS oder IHH |
SEMA3A | Semaphorin-3A | 7p12.1 | KS |
GPR54 | KiSS1-Rezeptor | 19p13 | IHH |
KISS1 | Kisspeptin1 | 1q32 | IHH |
GnRH | GnRH | 8p11 | IHH |
GnRHR | GnRH-Rezeptor | 4q21 | IHH |
TAC3 | Neurokinin B | 12q13-q21 | IHH |
TACR3 | Neurokinin-B-Rezeptor | 4q25 | IHH |
DAX1 | Dosage sensitive sex reversal 1 | Xp21 | IHH, NNR-Insuffizienz |
HESX1 | HESX-homeobox-1 | 3p14 | |
PROP1 | Prophet of Pit1 | 5q35 | IHH, multiple Hypophysenhormondefizienz |
LHX-3,-4 | LIM-homeobox-protein | 9q34 | IHH, multiple Hypophysenhormondefizienz |
LHβ | β-Untereinheit LH | 19q13 | IHH |
FSHβ | β-Untereinheit FSH | 11p13 | IHH |
NR5A1 | Steroidogenic Factor 1 | 9p33 | IHH, NNR-Insuffizienz |
LEP | | 7q31 | |
LEPR | Leptin-Rezeptor | 1p31 | IHH, Adipositas |
PC-1 | Prohormon-Convertase 1 | 5q15 | IHH, Adipositas |
Auch bei Patienten mit unbeeinträchtigtem Geruchssinn und
Hypogonadismus wurden Mutationen im
FGFR1-Gen beschrieben. Weitere genetische Defekte sind in Tab.
2 zusammengefasst. Patienten mit Mutationen im GnRH-Rezeptor-Gen (
GNRHR-Gen) haben einen normalen Geruchssinn und einen variablen Phänotyp. Das Gen für den GnRHR ist auf
Chromosom 4q21.2 lokalisiert. Der variable Phänotyp scheint mit der Lokalisation der Mutationen assoziiert zu sein, die die biologische Aktivität des Rezeptors beeinflussen. Weitere Mutationen und genetische Varianten wurden im
KISS1R/KISS-1 und Neurokinin-B-Signalkomplex beschrieben, weiteren wichtigen Regulatoren für die GnRH-Neuronenfunktion (Tab.
2). Genetische Ursachen für ein Kallmann-Syndrom oder einen hypogonadotropen Hypogonadismus lassen sich bei ca. einem Drittel der Patienten nachweisen. Die Genotyp-Phänotyp-Korrelation ist variabel und wird durch sowohl monogenetische als auch polygenetische Defekte mit unterschiedlicher Genpenetranz selbst innerhalb einer betroffenen Familie erklärt.
Mutationen in Genen, die für Transkriptionsfaktoren kodieren, die an der Embryogenese der Hypophyse beteiligt sind, können ebenfalls zu hypogonadotropem
Hypogonadismus führen. Je nachdem, welche Transkriptionsfaktoren betroffen sind, kommt es auch zum Ausfall anderer Hormonachsen. Bei Mutationen im
PROP1-,
HESX1- und
LHX4-Gen kommt es zum Panhypopituitarismus, bei Mutationen im
LHX3-Gen, ist die Hypophysen-Nebennieren-Achse nicht betroffen.
Sehr selten sind Mittelliniendefekte, bei denen es zu Fehlbildung des Mittelgesichts und mittelständiger Hirnanteile, wie Balken, Chiasma opticum,
Hypothalamus und Hypophyse kommen kann. Klinisch zeigen betroffene Patienten neben dem Ausfall endokriner Achsen gegebenenfalls einen singulären Schneidezahn, eine Gaumenspalte, einen Nystagmus oder eine Visusminderung.
Präsentieren sich Patienten mit dem klinischen Bild einer
Adipositas und eines hypogonadotropen
Hypogonadismus, so kann ein Leptinmangel oder eine Leptinresistenz vorliegen, sowie ein Defekt im Prohormonconvertase-Gen 1 (
PC1), welches
Proinsulin in
Insulin umwandelt. Bei einigen syndromalen Erkrankungen, wie dem
Prader-Willi-Syndrom, ist der hypogonadotrope Hypogonadismus Bestandteil der Erkrankung.