Pathophysiologie und Pathogenese
Wenn die Synthese der Purinbasen Adenin und Guanosin sowie der Pyrimidinbasen Uracil, Thymin und Zytosin abgeschlossen ist, wird der größte Teil der Basen weiter zu Nukleosiden (Base + Zucker) und Nukleotiden (Base + Zucker + Phosphatgruppe) verstoffwechselt. Bei dem Zuckermolekül handelt es sich meist um Ribose (diese Nukleoside werden in RNA eingebaut) oder um Desoxyribose (Einbau in DNA). Neben den 5 vorgenannten Basen, deren Nukleotide das Gerüst von DNA- und RNA-Molekülen bilden, gibt es weitere, deren Nukleoside und Nukleotide nur in bestimmte RNA (z. B. bestimmte Transfer-RNA) eingebaut werden oder regulatorische Aufgaben erfüllen. Desweiteren gibt es auch Derivate wie z. B. Adenosindiphosphat (ADP), Adenosintriphosphat (ATP), Guanosintriphosphat (GTP), zyklisches Adenosinmonophosphat (cAMP) oder S-Adenosylmethionin, die Schlüsselpositionen als Transporter, im zellulären Energiestoffwechsel (zytosolisch und mitochondrial), in Signalkaskaden oder beim Methylgruppentransfer einnehmen. Dies erklärt die vielfältige Symptomatik der Enzymdefekte. Dennoch lassen sich 3 besonders stark betroffene Organsysteme abgrenzen: Niere,
Knochenmark und Gehirn (Tab.
1).
Tab. 1
Klinische Synopse pädiatrisch relevanter Purin- und Pyrimidinstoffwechselstörungen in klassischer Manifestation bei breiter Variabilität
Adenylosuccinatlyase-Mangel, ADSL (608222) | – | – | ++ | Minderwuchs, Muskelschwund, Spektrum letal-moderat | | × | | | |
AICA-TF/Inosinmonophosphatcyclohydrolase-Mangel, ATIC (608688) AICA-Ribsodurie (601731) | | | ++ | 1 Patient, dysmorphe Stigmata, Optikusatrophie und Makulaveränderungen | × | | | | |
Adenosinmonophosphatdesaminase-1-Mangel, AMPD1 (Synonym: Myoadenylatdesaminase-Mangel, Muskel-Adenosinmonophosphatdesaminase-Mangel) (E.C.3.5.4.6) | – | – | – | Myopathie, asymptomatisch, sehr variabel | | | × | × | × |
Adenindesaminase-Mangel, ADA (608958) | – | +++ | + | Immundefekt, Diarrhö | x | x | | | |
Purinnukleosidphosphorylase-Mangel, PNP(613179) | – | ++ | + | Immundefekt | | x | x | | |
Familiäre juvenile Harnsäurenephropathie, FJHN (162000) | +++ | – | – | | | | × | × | |
Adeninphosphoribosyltransferase-Mangel, APRT (E.C.2.4.2.7) | ++ | – | – | 2,8-Dihydroxyadenin Konkremente | × | × | × | × | × |
Adenylatkinase-Mangel 1, AK1 (612631) | | + | | Hämolysefolgen | | x | | | |
Adenylatkinase-Mangel 2, AK2 (267500) | | +++ | | Immundefekt und Innenohrschwerhörigkeit | x | | | | |
Inosinmonophosphatdehydrogenase-Mangel II | | | + | Autosomal-dominant bei Retinitis pigmentosa RP (MIM 180105) und Leber`sche congenitale Amaurose LCA (MIM 613837) | | xLCA | xLCA | (xRP) | |
Inosintriphosphatpyrophosphatase-Mangel | | | +++ | Charakteristische Leukoenzephalopathie, Herzfehler variabel, Katarakt, früh letal (in 6 von 7 Fällen) | | | | | |
Uridinmonophosphatsynthetase-Mangel, UMPS (Synonym: hereditäre Orotazidurie) (258900) | (+) | ++ | + | Herzfehler, Strabismus | × | × | | | |
Dihydroorotatdehydrogenase-Mangel, DHODH (263750) | | | | Kraniofaziales Fehlbildungssyndrom | | | | | |
Uridinmonophosphathydrolase-Mangel, UMH (Synonym: Pyrimidin-5’-Nukleotidase-Mangel) (266120) | – | ++ | – | Hämolysefolgen | | | × | | |
Xanthindehydrogenase-Mangel, XDH I, (278300) (Synonym: Xanthinoxidase-Mangel), Typ II kombiniert mit Defizienz von Aldehydoxidase und Molybdänkofaktor-Sulfurase (603592) | ++ | – | – | Arthropathie, Myopathie, Duodenalulzera | × | × | × | × | × |
Sulfitoxidase-Mangel, SUOX (272300) | – | – | +++ | Sulfitstix positiv (frischer Urin), Linsendislokation | × | | | | |
Dihydropyrimidindehydrogenase-Mangel, DPYD (274270) | – | – | + | 5’-Fluoro-Uracil-Toxizität | | (×) | × | | |
Dihydropyrimidinamidohydrolase-Mangel, DPYS (Synonym: Dihydropyrimidinase-Mangel) (222748) | – | – | + | 5’-Fluoro-Uracil-Toxizität | | × | × | | |
Ureidopropionase-Mangel, UPB1 (Synonym: β-Ureidopropionase-Mangel) (613161) | – | – | + | 5’-Fluoro-Uracil-Toxizität | (×) | × | (×) | | |
Einige der Defekte lassen sich als mitochondriale Depletionssyndrome klassifizieren und zeigen verschiedene Phänotypen, die meist multisystemisch und degenerativ verlaufen,
Datenbank OMIM (Online Mendelian Inheritance of Man), Kap. „Genetische Defekte der Fettsäurenoxidation und des Ketonstoffwechsels“, „Mitochondriopathien“ und „Kreatinmangelsyndrome“. Die biochemische Diagnostik zeigt nur beim
Thymidinphosphorylase-Mangel (TP) eine erhöhte Thymidinausscheidung im
Urin, ansonsten sind meist
Laktatazidosen hinweisend. Beim Thymidinphosphorylase-Mangel besteht meist ein MNGIE-Phänotyp („mitochondrial neurogastrointestinal encephalomyopathy“, MIM 603041).
Die zentrale Rolle der
Purine und
Pyrimidine für die Erbinformation und ihre Prozessierung bedingt auch zahlreiche Möglichkeiten von pharmakokinetischen Problemen bei genetischen Enzymdefekten oder -varianten. Dies betrifft vor allem die Therapie von malignen Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen und antivirale Therapien. Bei Enzmydefekten entsteht meist eine erhöhte Toxizität der eingesetzten Nukleosid- oder Nukleobasenanaloga. Prominentes Beispiel hierfür ist die Toxizität von 5’-Fluoro-Uracil und Derivaten im Fall einer Pyrimidinbasenabbaustörung wie
DPYD,
DPYS oder
UPB (Tab.
1). Beim
Thiopurinmethyltransferase-Mangel (TPMT, MIM 187680) ist mit erheblicher Toxizität von Azathioprin zu rechnen. Das
Enzym katalysiert die Inaktivierung von 6-Mercaptopurin, das aus Azathioprin entsteht. Etwa 88 % der Bevölkerung haben eine hohe Aktivität in
Erythrozyten, 11 % eine intermediäre und ca. 0,3 % eine nicht messbare Aktivität. Eine hohe TMPT-Aktivität bedeutet ein Risiko für insuffiziente Immunsuppression und damit erhöhte Risiken bezüglich Transplantatabstoßung oder Krankheitsprogredienz (Autoimmunerkrankungen). Die in der Pädiatrie am häufigsten eingesetzten Virostatika Aciclovir, Ganciclovir und Ribavirin sind Purinanaloga. Der
Inosinmonophosphatdehydrogenase-II-Mangel (IMPDH II, 3p21.31, keine MIM-Nr.) beeinflusst die
Pharmakokinetik von Mycophenolat.
Manche Defekte sind nur biochemisch fassbar und klinisch symptomlos, z. B β-Aminoisobutyratpyruvat-Aminotransferase-Mangel (BAIBPAT; Synonym: Hyper-β-Aminoisobutyrat-Azidurie).
Der Guanosintriphosphatcyclohydrolase-Mangel verursacht meist ein Segawa-Syndrom und wird bei den Neurotransmitterstörungen behandelt (Kap. „Bewegungsstörungen und Neurotransmitterkrankungen bei Kindern und Jugendlichen“, Abschn. „Dystonien, Dystonie-Parkinsonismus- und Parkinson-Syndrome“).
In Tab.
1 findet sich ergänzend zu einigen im Text erläuterten Erkrankungen eine synoptische Darstellung der Charakteristika von Purin- und Pyrimidinstoffwechselstörungen in typischer Präsentation, die in der Pädiatrie in differenzialdiagnostische Überlegungen einbezogen werden sollten. Aufgrund exponentiell wachsender Erkenntnisse aus der Molekulargenetik ergeben sich oft breitere Phänotyp-Spektren (siehe unten). In Klammern ist die MIM-Nummer des Phänotyps oder ersatzweise die Enzymidentifikationsnummer E.C. angegeben. Die Nierenbeteiligung oder/und Arthropathie entsteht meist durch Steinbildung oder Kristalleinlagerung (Urat,
Xanthin, 2,8-Dihydroxy-Adenin). Für Details muss auf Spezialliteratur verwiesen werden.
Zwischenzeitlich wurden komplexe genetische und regulatorische Mechanismen der Krankheitsentstehung im Nukleotidstoffwechsel gefunden, z. B. wird nun ein
Phosphoribosylpyrophosphat(PRPP)-Synthase-Spektrum erkannt, das PRPP-Synthetase-Defizienz in verschiedenen Ausprägungen, PRPP-Überaktivität und PRPP-Überexpression umfasst. Hierunter fallen so unterschiedliche Phänotypen wie ausgeprägte psychomotorische Entwicklungsstörung, Schwerhörigkeit und Harnsäurenephropathie/
Gicht bei der PRPP-Überaktivität (MIM 300661) sowie ein ähnlicher Phänotyp ohne harnsäurebedingte Komplikationen, jedoch mit zusätzlicher Optikusatrophie und peripherer Neuropathie bei der schweren Defizienz der PRPP-Synthase (ARTS-Syndrom, MIM 301835). Eine moderate PRPP-Synthase-Defizienz hingegen verursacht das Charcot-Marie-Tooth-Syndrom Typ 5 (CMTX5, MIM 311070) mit Neuropathie und Schwerhörigkeit, während eine leichte Defizienz eine isolierte Schwerhörigkeit zur Folge hat (DFNX1, MIM 304500).
Das Lesch-Nyhan-Syndrom (HGPRT, Hypoxanthinguaninphosphoribosyltransferase[-Mangel], Synonym: HPRT, MIM 308000) führt neben einer langsam progredienten Harnsäurenephropathie zu einer schweren generalisierten dystonen Bewegungs- und Sprachstörung sowie einer zwanghaften Autoaggression mit schweren Beißverletzungen von Lippen und Fingern. Die Patienten leiden sehr unter ihrer Autoaggression, sodass sie sich erleichtert fühlen, wenn die Arme geschient oder die Zähne entfernt sind. In Einzelfällen gab es Therapieerfolge mit S-Adenosylmethionin oder einer Tiefenhirnstimulation.
Beim
Molybdänkofaktormangel (MOCOD) werden anhand von 3 involvierten Genen die Typen A-C unterschieden. Für Typ A (MOCS-1-Gen, MIM 252150) besteht inzwischen eine effiziente Therapie. Klinisch dominiert der Phänotyp einer progressiven infantilen
epileptischen Enzephalopathie mit deutlich verkürzter Lebenserwartung.
Eine neu entdeckte und effizient behandelbare Pyrimidinsynthesestörung ist die „uridine sensitive epileptic encephalopathy“ durch CAD-Mutationen (Carbamoylphosphatsynthetase/Aspartattranscarbamylase/Dihydro-Orotase, trifunktioneller Enzymkomplex CAD, MIM 616457).
Der
Adenosinkinase-Mangel manifestiert sich neonatal oder wenig später mit
Hyperbilirubinämie und Leberfunktionsstörungen sowie Hypoglyämien, im Verlauf mit globaler Entwicklungsverzögerung, muskulärer Hypotonie und teilweise
Epilepsie. Dysmorphologisch zeigt sich konstant eine hohe vorgewölbte Stirn. Methioninarme Diät sowie gegebenenfalls Diazoxid sind therapeutisch wirksam. Methioninarme Diät und Substitution mit
Kreatin und Phosphatidylcholin ist auch beim
S-Adenosylhomocysteinhydrolase-Mangel (MIM 613752) wirksam, der sich mit Myopathie (CK+), reduzierten Reflexen, kognitiven Einschränkungen und verzögerter Myelinisierung manifestiert.