Hintergrund und Fragestellung
Das Dravet-Syndrom (DS), erstmals beschrieben von und benannt nach Charlotte Dravet (*1936) und früher als „schwere infantile myoklonische Epilepsie“ (SMEI) bekannt, ist ein seltenes, in der frühen Kindheit beginnendes therapierefraktäres Epilepsiesyndrom, das häufig mit bleibenden schwerwiegenden Einschränkungen in der kognitiven, motorischen, psychomotorischen und neurologischen Entwicklung einhergeht [
1]. Das DS wird primär klinisch diagnostiziert, unterstützt von einer Gendiagnostik zur Identifikation einer Mutation im
SCN1A-Gen, die bei über 80 % der Betroffenen vorliegt [
2]. Die Inzidenz wird in Europa auf etwa 1 zu 15.000 Lebendgeburten und die Prävalenz auf etwa 2 zu 100.000 geschätzt [
3‐
6].
Das DS manifestiert sich im ersten Lebensjahr bei zunächst gesunden Kindern zumeist in Form fieberinduzierter, generalisierter oder halbseitiger tonisch-klonischer oder klonischer Anfälle mit einem hohen Status-epilepticus-Risiko. Im weiteren Krankheitsverlauf treten dann zusätzliche Anfallstypen wie Myoklonien, atypische Absencen oder fokale Anfälle auf. Nach dem fünften Lebensjahr können die Anfallsfrequenz und Anfallsschwere abnehmen. Das DS ist mit einem hohen Risiko eines vorzeitigen Todes durch SUDEP (plötzlicher unerwarteter Tod bei Epilepsie), Status epilepticus oder Unfälle verbunden [
1,
2].
Während das Ziel der antiepileptischen Therapie üblicherweise eine komplette Anfallsfreiheit ist [
2], lässt sich diese bei DS nur in den wenigsten Fällen erreichen. Therapeutisch stehen v. a. die Antiepileptika („antiepileptic drugs“ [AED]) Valproat, Kaliumbromid, Clobazam und Topiramat, das speziell für das DS zugelassene Stiripentol in Kombination mit Clobazam und Valproat, seit 2019 Cannabidiol [
7] in Kombination mit Clobazam sowie seit 2021 Fenfluramin zur Verfügung [
8]. Trotz patientenindividueller Kombinationstherapien sind die wenigsten Betroffenen anfallsfrei. Eine frühzeitige optimierte Therapie kann langfristig zu einer verbesserten Anfallskontrolle führen. Dass kognitive Leistungen oder Verhaltensauffälligkeiten dadurch verbessert werden, wäre wünschenswert, ist aber noch nicht wirklich geklärt [
9,
10].
Ziel der Querschnittsstudie „Dravet syndrome caregiver survey“ (DISCUSS) des europäischen Netzwerkes der „Dravet Syndrome European Federation“ war es, Faktoren zu identifizieren und zu beschreiben, die einen Einfluss auf die Krankheitslast von Betroffenen mit DS und ihre Betreuer haben können [
11]. In der vorliegenden Publikation werden die in Deutschland erhobenen Daten aus der Befragung von Eltern von am DS erkrankten Kindern vorgestellt.
Diskussion
Diese Querschnittsstudie liefert mit einer großen Stichprobe von 68 Patienten repräsentative Daten zum Einfluss des DS auf Patienten, Betreuer und Geschwister in Deutschland. Diese Ergebnisse der deutschen Kohorte werden im Folgenden mit den Ergebnissen der gesamteuropäischen Kohorte [
11,
13] und denen einer anderen in 2017 prospektiv durchgeführten, multizentrischen Querschnittsstudie mit 93 befragten Eltern in Deutschland, die der vorliegenden Studie hinsichtlich demografischer und klinischer Basisdaten ähnelt, verglichen [
9,
14,
15].
Die Diagnose eines DS erfolgt klinisch und wird durch den Nachweis einer Mutation im
SCN1A-Gen unterstützt; die Zeit bis zur korrekten Diagnose eines DS hat sich in den letzten Jahren in Deutschland signifikant verkürzt, wie in dieser Untersuchung und der 2017 Kohortenstudie gezeigt werden konnte [
14]. Gründe könnten eine steigende Wahrnehmung des DS sowie ein guter Zugang zur neuropädiatrischen Versorgung und zur Gendiagnostik sein. Im Vergleich zur europäischen Kohorte erhielten deutsche Patienten früher die zutreffende Diagnose. Während alle Kinder unter 2 Jahren ihre Diagnose spätestens nach einem Jahr erhielten, war dies in der europäischen Kohorte bei 87,5 % der Fall. Aus der europäischen Kohorte erhielten 44,7 % der Vorschulkinder und 12,0 % der erwachsenen Patienten direkt die Diagnose DS; in Deutschland waren es 62,5 % bzw. 22,2 % [
11]. Eine frühe, möglichst durch eine Gendiagnostik gestützte Diagnose des DS ermöglicht eine frühe, patientenindividuell optimierte Therapie sowie die Vermeidung kontraindizierter AED, sodass möglicherweise bessere Langzeitergebnisse erzielt werden können.
Die vorliegende Kohorte zeigte im Gegensatz zur europäischen Kohorte keine Korrelation zwischen dem jüngeren Alter der Patienten und einer hohen Anfallshäufigkeit bzw. der Häufigkeit von Notaufnahmen und Rettungseinsätzen. Auffällig waren insbesondere die höhere Anfallshäufigkeit und die häufigeren Notaufnahmen und Rettungseinsätze bei Erwachsenen, verglichen mit Jugendlichen [
11]. Diese Ergebnisse können auf Schwierigkeiten in der Transition von der Neuropädiatrie in die Erwachsenenneurologie sowie beim Wechsel in die Wohn- oder Betreuungseinrichtung für Erwachsene hinweisen.
Charakteristisch für ein DS zeigten sich tonisch-klonische Anfälle bei allen Altersgruppen am häufigsten, sowie unterschiedliche andere Anfallssemiologien wie myoklonische Anfälle, Absencen und fokale Anfälle. Verglichen mit der europäischen Kohorte, in der sich 9,4 % innerhalb der letzten 3 Monate anfallsfrei zeigten, waren es in der deutschen Kohorte nur 4,4 % [
11]. Letzteres war gut übereinstimmend zu der deutschen Querschnittsstudie aus 2017 mit 4,0 % (
n = 4) der Patienten, die eine Anfallsfreiheit von mehr als einem Jahr aufwiesen [
9].
In der Lebenszeitprävalenz eingenommener AED beim DS zeigte sich ein breites Spektrum. Die durchschnittlich 3 (SD 1,4, Spanne 0–6) zum Erhebungszeitpunkt eingenommen AED in der deutschen Kohorte waren mit den durchschnittlich 3,14 (SD 1,3, Spanne 0–12) der europäischen Kohorte vergleichbar, wobei die Spanne bei Letzterer deutlich breiter war. In der deutschen Querschnittsstudie aus 2017 lag der Durchschnitt mit 2,5 (SD 1,1, Spanne 0–6) etwas niedriger.
Zu den am häufigsten eingenommenen AED gehörten in der europäischen wie in der deutschen Kohorte Valproat (75,5 % bzw. 63,2 %), Stiripentol (47,1 % bzw. 44,1 %), Clobazam (52,7 % bzw. 39,7 %) und Topiramat (34,2 % bzw. 23,5 %) [
11], während Kaliumbromid (9,6 % bzw. 48,5 %) häufiger in der deutschen Kohorte eingenommen wurde. Die Ergebnisse decken sich mit den Ergebnissen der deutschen Querschnittsstudie aus 2017, in der diese 4 Medikamente (66,0, 35,0, 41,0 und 24,0 %) und Kaliumbromid (44,0 %) ebenfalls die am häufigsten eingenommenen AED waren [
9,
15]. Der Einsatz von Kaliumbromid erfolgte in der deutschen Kohorte vorwiegend in der Altersgruppe der Vorschulkinder (62,5 %) und bei den Grundschulkindern (54,2 %, Tab.
2). Dies lässt darauf schließen, dass Kaliumbromid erst nach Nichtansprechen auf andere AED im Kleinkindalter zum Einsatz kam. Bei den Vorschul- und Grundschulkindern liegt eine hohe Anfallslast vor, und dies lässt vermuten, dass Kaliumbromid als potentes AED deswegen so häufig eingesetzt wurde. Bei den Jugendlichen und Erwachsenen zeigt sich, dass bei ca. der Hälfte Kaliumbromid wieder abgesetzt wurde. Außerhalb Deutschlands war Kaliumbromid nur in Japan ein etabliertes AED [
16] und ist aktuell außerhalb Deutschlands nur eingeschränkt verfügbar. In den internationalen Therapieempfehlungen von Wirrel et al. (2017) gab es keinen Konsens über die Wirksamkeit von Bromiden [
17], es gibt jedoch eine gute Evidenzlage für den Einsatz des Medikamentes aus deutschen und japanischen Kohortenstudien [
18‐
20].
In der Vergangenheit waren bei den Betroffenen mit DS bereits zahlreiche verschiedene Medikamente eingesetzt worden, die sich teilweise als nichtwirksam oder als kontraindiziert herausgestellt haben. Insgesamt hat sich der Einsatz beim DS wenig wirksamer Medikamente wie Levetiracetam und der kontraindizierten Natriumkanalblocker zugunsten von wirksameren Medikamenten verschoben. Da die Anzahl der durchschnittlich in der Vergangenheit eingenommenen AED im Vergleich zum Erhebungszeitraum nicht deutlich gesunken war, besteht nach wie vor schon bei jungen Patienten die Notwendigkeit einer Polytherapie, und dies ist ein Hinweis für den hohen therapeutischen Bedarf bei Patienten mit DS. Ansprechraten auf die verschiedenen Therapien sowie Gründe für einen Therapiewechsel oder -abbruch konnten in dieser Studie nicht beleuchtet werden.
Fast alle (91,0 %) Betroffenen, die älter als 5 Jahre waren, hatten mehrere Begleiterkrankungen. Am häufigsten traten motorische Störungen, Lernschwierigkeiten und Sprachstörungen auf. In der europäischen Kohorte entfiel der größte Anteil der Komorbiditäten auf Lernschwierigkeiten, die bei 98 % der Patienten vorhanden waren. Darüber hinaus hatten 80,0 % der Patienten Sprachstörungen, gefolgt von motorischen Störungen (74,0 %), sonstigen Verhaltensauffälligkeiten (51,0 %), Autismus (42,0 %) und ADHS (24,0 %). Von diesen Komorbiditäten wurden sowohl in der deutschen als auch der europäischen Kohorte v. a. motorische (71,8 % bzw. 68,0 %) und Sprachstörungen (74,2 % bzw. 70,0 %) therapiert [
11,
13].
Aufgrund der Anfallshäufigkeit, der Vielzahl an Komorbiditäten und des therapeutischen Aufwands geht die Erkrankung mit einer deutlich reduzierten Lebensqualität einher. Alle Altersgruppen hatten niedrige Indizes. So lag z. B. der Index für Erwachsene mit 0,47 (SD 0,17) um 0,41 niedriger als der für die Allgemeinbevölkerung mit 0,88 [
12,
21]. Auch auf europäischer Ebene zeigten sich keine großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Altersgruppen. Der Mittelwert der deutschen Stichprobe (0,60, SD 0,27) lag über dem der europäischen Kohorte (0,42, SD 0,29) [
11]. Dies ist am ehesten darauf zurückzuführen, dass für die europäische Kohorte das britische Werte-Set verwendet wurde und die Ergebnisse der deutschen Kohorte auf das deutsche Werte-Set umgerechnet worden sind. In der deutschen Querschnittsstudie aus 2017 ergab die mit dem Kiddy-KINDL gemessene Lebensqualität signifikant niedrigere Werte für die Kinder mit DS im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung. Kinder zwischen 4 und 6 Jahren hatten eine um 20,6 % (Werte 65,0 vs. 81,9) niedrigere Lebensqualität, bei Kindern zwischen 7 und 17 Jahren war sie um 29,4 % (Werte 54,4 vs. 77,0) niedriger [
9].
Die für die europäische Kohorte aufgestellte Hypothese, dass die Anfallshäufigkeit mit dem Ausmaß kognitiver und Verhaltenseinschränkungen korreliert, wurde teilweise für die Gesamtkohorte bestätigt [
11]. Die dafür notwendige Bildung von Strata war für die länderspezifischen Kohorten nicht präspezifiziert und bedarf zur Klärung der kausalen Zusammenhänge weiterer Studien [
11].
Die finanziellen Aufwendungen für die Therapie eines Patienten mit DS sind als hoch einzustufen und dies konnte in mehreren Studien bestätigt werden [
9,
22,
23]. Die von Lagae et al. (2019) berechneten durchschnittlichen jährlichen Kosten pro Patient lagen mit 7892 € für die Behandlung anfallsbedingter Symptome und mit 7271 € für die Therapie von Komorbiditäten über den durchschnittlichen Kosten der EU5 (Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Großbritannien) mit 6783 und 6759 € [
13]. Für Familien und Betreuer sind teilweise zu entrichtende Eigenanteile und Kosten für zusätzliche Heilbehandlungen oder andere Therapien eine hohe finanzielle Belastung [
23].
Die Erkrankung eines Familienmitglieds mit DS beeinflusst Eltern und Geschwister in hohem Maße. Dies bestätigt sich auch in der Studie von Strzelczyk et al., in der 38,2 % der Betreuer im Vergleich zu 4,3 % der Normalbevölkerung über Symptome von Angst oder Depression (gemessen mit EQ-5D-3L) berichteten [
9]. Der Anteil der Alleinerziehenden war mit 25 % leicht höher, als für die Gesamtbevölkerung in Deutschland (19 %;
www.destatis.de für 2017) angenommen wird. Geschwister können sich benachteiligt fühlen, da Freizeitaktivitäten ausfielen oder ihre eigene Betreuung nicht durch die Eltern, sondern durch andere Familienmitglieder oder Freunde erfolgte.
Insgesamt lassen die zahlreichen Übereinstimmungen mit lediglich wenigen Unterschieden zwischen der europäischen Gesamtkohorte und der deutschen Teilkohorte auf länderübergreifend weitgehend vergleichbare Versorgungsstandards schließen.
Die Studie weist Limitationen auf. Insgesamt gehörten 76,5 % der Betreuer einer Selbsthilfegruppe oder Patientenvereinigung an. Dies könnte mit einem Bias, z. B. durch eine übermäßige Anzahl besonders informierter und überdurchschnittlich motivierter Betreuer verbunden sein. Die teilweise retrospektive Erfassung kann zu einem erhöhten Verzerrungspotenzial führen. Kleinkinder waren in der Studie unterrepräsentiert. Stratifikationsanalysen zur Abbildung von Zusammenhängen zwischen Krankheitsmerkmalen, Begleiterkrankungen, Lebensqualität und der Krankheitslast waren nur für die europäische Gesamtkohorte, nicht für die länderspezifischen Kohorten geplant.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
A. Strzelczyk erhielt Beratungs‑, Referentenhonorare und/oder Unterstützung für Forschungsvorhaben von Arvelle Therapeutics, Desitin Arzneimittel, Eisai, GW Pharma, LivaNova, Marinus Pharmaceuticals, Medtronic, UCB Pharma und Zogenix. L. Lagae erhielt Beratungs‑, Referentenhonorare und/oder Unterstützung für Forschungsvorhaben von Zogenix, LivaNova, UCB, Shire, Eisai, Novartis, Takeda/Ovid, NEL und Epihunter. L. Lagae besitzt ein Patent für ZX008 (Fenfluramin) zur Behandlung des Dravet-Syndroms und infantiler Epilepsien, das seiner Institution zugewiesen ist und an Zogenix lizenziert wurde. G. Kurlemann erhielt Beratungs- und Referentenhonorare von Desitin Arzneimittel, GW Pharma, Novartis, Takeda, UCB Pharma und Zogenix. T. Bast erhielt Honorare für Beratungs- und/oder Vortragstätigkeit sowie Aufwandsentschädigungen im Rahmen von Studien von Eisai, Desitin Arzneimittel, GW Pharma, Novartis, Nutricia, Shire, Takeda, UCB Pharma und Zogenix. T. Polster erhielt Beratungs‑, Referentenhonorare und/oder Unterstützung für Forschungsvorhaben von Desitin Arzneimittel, Novartis, Shire, UCB Pharma und Zogenix. M. Pringsheim erhielt Beratungs- und Referentenhonorar von Zogenix. S. von Spiczak erhielt Beratungs- und Referentenhonorare und/oder Unterstützung für Forschungsvorhaben von Desitin Arzneimittel, Eisai und GW Pharma. P. Hipp erhielt ein Beratungshonorar von Almirall, MedDay, Sarepta und Zogenix. S. Schubert-Bast erhielt Beratungs‑, Referentenhonorare und/oder Unterstützung für Forschungsvorhaben von Desitin Arzneimittel, Eisai, GW Pharma, UCB Pharma und Zogenix. S. Flege gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Befragung erfolgte anonym durch das europäische Netzwerk der „Dravet Syndrome European Federation“ im Einklang mit der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung). Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.