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Erschienen in: Ethik in der Medizin 1/2010

01.03.2010 | Originalarbeit

Ärztliche Schweigepflicht bei Kindeswohlgefährdung

Mehr Handlungssicherheit durch die neuen Kinderschutzgesetze?

verfasst von: Dipl. iur. Dipl. krim. Andrea Kemper, Dr. med. Michael Kölch, Prof. Heiner Fangerau, Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 1/2010

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Zusammenfassung

Die Schweigepflicht, einer der Grundpfeiler medizinischer Ethik, spielt in der aktuellen Diskussion um die Verbesserung des Kinderschutzes eine zentrale Rolle. Unklare und mehrdeutige gesetzliche Regelungen und Handlungsanweisungen, wie mit Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung umzugehen ist, wenn die Sorgeberechtigten eine weitergehende Hilfe ablehnen, werden als Hindernis für einen wirksamen Kinderschutz betrachtet. Aus der schwer durchschaubaren Rechtslage resultieren für Angehörige der Gesundheitsberufe regelmäßig Handlungsunsicherheiten, die im Einzelfall notwendige Hilfe verzögern oder gar verhindern könnten. Neue Gesetze auf Länderebene haben deshalb im Sinne eines verbesserten Kinderschutzes eine Erhöhung der Rechtssicherheit sowie eine Förderung der Vernetzung der beteiligten Akteure zum Ziel. Wenn auch einigen der Gesetze ein gewisses Klarstellungspotenzial zugebilligt werden kann, ist doch im Augenblick ihr Beitrag zu mehr Rechtssicherheit im Umgang mit Kinderschutzfällen noch als sehr eingeschränkt zu betrachten. Ein Bundesgesetz, welches die Intention hatte, die heterogenen Landesnormen durch eine bundeseinheitliche Regelung zu ersetzen, ist wenigstens in der letzten Legislaturperiode gescheitert.
Fußnoten
1
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die männliche Bezeichnung zurückgegriffen, gemeint sind aber stets beide Geschlechter.
 
2
Eine Untersuchung zum institutionellen Umgang mit sexuell missbrauchten Kindern ergab beispielsweise, dass bei einem entsprechenden Verdacht die Kinder zwischen etwa sieben Stellen „weitergereicht“ und jedes Mal neu untersucht wurden, weil keine hinreichende Kommunikation zwischen den Beteiligten erfolgte [7].
 
3
Betroffener bzw. Geheimnisträger ist in diesen Fällen das Kind. Grundsätzlich können auch Minderjährige eine wirksame Einwilligung abgeben (auch gegen den Willen des gesetzlichen Vertreters), soweit sie eine ausreichende Einsichtsfähigkeit besitzen. Dies wiederum ist nach den individuellen Gegebenheiten im Einzelfall und dem Reifungsgrad des Kindes zu beurteilen ([8], § 203 Rn 32).
 
4
Ein entsprechendes – viel kritisiertes – Bundeskinderschutzgesetz scheiterte allerdings Ende Mai 2009 (vorerst) [5].
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Ärztliche Schweigepflicht bei Kindeswohlgefährdung
Mehr Handlungssicherheit durch die neuen Kinderschutzgesetze?
verfasst von
Dipl. iur. Dipl. krim. Andrea Kemper
Dr. med. Michael Kölch
Prof. Heiner Fangerau
Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert
Publikationsdatum
01.03.2010
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 1/2010
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-009-0046-3

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