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Erschienen in: Ethik in der Medizin 4/2011

01.12.2011 | Originalarbeit

Wie können Ärzte ethisch vertretbar Kostenerwägungen in ihren Behandlungsentscheidungen berücksichtigen? Ein Stufenmodell

verfasst von: Prof. Dr. med. Georg Marckmann, MPH, Dr. med. Jürgen in der Schmitten, MPH

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 4/2011

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Zusammenfassung

Trotz aller Rationalisierungsbemühungen werden sich Leistungseinschränkungen im deutschen Gesundheitswesen nicht vermeiden lassen. Zwar sollten diese so weit möglich oberhalb der individuellen Arzt-Patient-Beziehung erfolgen, aus pragmatischen Gründen wird es sich aber nicht vermeiden lassen, dass Ärzte auch im Einzelfall Verantwortung für die Kosten ihrer Entscheidungen übernehmen, wie es bereits heute häufig der Fall ist. Der vorliegende Beitrag widmet sich deshalb der Frage, wie Ärzte in einer medizinisch rationalen und ethisch vertretbaren Art und Weise Kostenerwägungen in ihren Entscheidungen berücksichtigen können. Vorgeschlagen wird ein vierstufiges Modell eines „ethischen Kostenbewusstseins“: 1) Unterlassung ineffektiver Maßnahmen im Sinne einer evidenzbasierten Medizin; 2) konsequente Berücksichtigung individueller Patientenpräferenzen; 3) Minimierung des diagnostischen und therapeutischen Aufwands für die Erreichung eines bestimmten Therapieziels; und 4) Verzicht auf teure Maßnahmen mit einem geringen/fraglichen Nutzengewinn für den Patienten. Stufen (1–3) sind durch die Prinzipien Wohltun, Nichtschaden und Respekt der Autonomie ethisch begründet, Stufe (4) durch das Prinzip der Gerechtigkeit. Für Entscheidungen auf der vierten Stufe sollten nach Möglichkeit lokale explizite Vorgaben wie z. B. kostensensible Leitlinien erarbeitet werden. Prozedurale Mindeststandards sind zu berücksichtigen, regelmäßige Kosten-Fallbesprechungen oder klinische Ethikberatung sollten zur Entscheidungsunterstützung verfügbar sein. Abschließend wird ein ethischer Algorithmus zur Abklärung des Einsatzes einer kostspieligen medizinischen Maßnahme vorgestellt.
Fußnoten
1
Vgl. z. B. die Aussagen des ehemaligen Bundesgesundheitsministers Philipp Rösler in der Sitzung des Deutschen Bundestags am 21.01.2010: „Verstehen Sie dies auch als Botschaft an all diejenigen, die ganz aktuell über Rationierung und Priorisierung nachdenken. Wir jedenfalls lehnen solche Diskussionen ab.“ (http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17016.pdf, S. 1440. Zugegriffen: 11. Juli 2011).
 
2
Im BMBF-finanzierten Forschungsverbund „Allokation“ wurden zwei exemplarische kostensensible Leitlinien (KSLL) entwickelt, die zusammen mit einer allgemeinen Beschreibung der KSLL online verfügbar sind unter www.​iegm.​uni-tuebingen.​de/​allokation (zugegriffen: 11. Juli 2011).
 
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Metadaten
Titel
Wie können Ärzte ethisch vertretbar Kostenerwägungen in ihren Behandlungsentscheidungen berücksichtigen? Ein Stufenmodell
verfasst von
Prof. Dr. med. Georg Marckmann, MPH
Dr. med. Jürgen in der Schmitten, MPH
Publikationsdatum
01.12.2011
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 4/2011
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-011-0161-9

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