Erschienen in:
20.03.2019 | Begutachtung | Übersicht
Die aussagepsychologische Begutachtung: eine verengte Perspektive?
verfasst von:
Prof. Dr. Renate Volbert, Dipl.-Psych. Jonas Schemmel, M.Sc. Rechtspsychologie, Dipl.-Psych. Anett Tamm
Erschienen in:
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie
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Ausgabe 2/2019
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Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag geht auf Kritik ein, die behauptet, in der Aussagepsychologie werde aktuelle neurobiologische Forschung, die eine Erinnerungsbeeinträchtigung durch Traumatisierung zeige, nicht zur Kenntnis genommen, und die Aussagen mehrfach Traumatisierter würden im Rahmen von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen deswegen fälschlicherweise negativ bewertet, was für Betroffene eine große Belastung darstelle. Teilweise wird auch die Durchführung der Glaubhaftigkeitsbegutachtungen außerhalb von strafrechtlichen Verfahren kritisiert.
In diesem Beitrag wird dargelegt, dass Untersuchungen zu Veränderungen der Gehirnstruktur durch Traumatisierung bereits nicht zu ganz einheitlichen Ergebnissen kommen, dass sich daraus aber auch keine unmittelbaren Schlussfolgerungen für die Erinnerungsleistung an das fragliche Ereignis ergeben, da einfache Struktur-Funktion-Beziehungen mentale Prozesse nicht angemessen repräsentieren. Studien, die auf Erinnerungsleistungen fokussieren, legen nahe, dass traumatische Erlebnisse besonders dauerhaft erinnert werden, dass periphere Details aber auch schlechter behalten werden können als bei anderen Ereignissen. Unabhängig von einer möglichen Traumatisierung werden für ein Ereignis aus einer Serie ähnlicher Vorfälle weniger Details erinnert als für distinkte Ereignisse. Erinnerungsbeeinträchtigungen, die auch bei tatsächlichem Erlebnisbezug eine Aussage beeinflussen können, werden in lege artis durchgeführten Glaubhaftigkeitsbegutachtungen berücksichtigt. Umgekehrt ist in Glaubhaftigkeitsbegutachtungen aber auch zu prüfen, ob Bedingungen vorgelegen haben, die eine Scheinerinnerung begünstigt haben könnten; bei diesem Prüfschritt steht die Rekonstruktion der Aussageentwicklung und nicht die Aussagequalität im Vordergrund. Ältere Befunde zeigen, dass das Erleben von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen durch Betroffene stark variieren kann und vom Ausgang des Gutachtens abhängt.
Die Berücksichtigung der jeweiligen Beweisschwellen unterschiedlicher Rechtskontexte ist auch für aussagepsychologische Gutachten prinzipiell möglich, das methodische Prinzip des systematischen Prüfens von Alternativhypothesen bleibt davon aber unberührt.