Erschienen in:
15.06.2022 | Psychotherapie | Schwerpunkt: Geschlecht – Übersichten
Männer sterben früher, Frauen leiden mehr
Vom epidemiologischen Paradox zum Genderbewusstsein in der Psychotherapie
verfasst von:
Uwe Berger
Erschienen in:
Die Psychotherapie
|
Ausgabe 4/2022
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Zusammenfassung
Männer leben im Durchschnitt mehrere Jahre weniger als Frauen. Dies gilt in allen Kulturen. Aufgrund der Universalität des Phänomens wurden lange Zeit biologische bzw. genetische Ursachen als selbstverständlich erachtet. Erst mit den quasiexperimentellen Analysen der sog. Kloster- und Lebensstilstudien wurden Sozialisationsbedingungen als wesentlicher Grund für die geschlechtsspezifische Mortalität belegt. Geschlecht wurde damit dekomponiert, von einem auf genotypischen und phänotypischen Merkmalen beruhenden Dimorphismus hin zu einem auf der Interaktion zwischen „Sex“ und „Gender“, also den biologischen Grundlagen und der Identitätsbildung, beruhenden eher kontinuierlichen Konstrukt. Die Pole „männlich“ und „weiblich“ werden durch eine sich über die Zeit von traditionell nach modern wandelnde Auffassung von Geschlechterrolle in Bezug auf die Dimensionen Gesellschaft, Sexualität, Persönlichkeit und Körperbau charakterisiert. Auch wenn die Polung selbst heute durch die immer stärkere Bedeutung von Transidentität und Neubewertung der Störungen der Geschlechtsentwicklung möglicherweise in Auflösung begriffen ist, sind die tradierten Geschlechterrollen nach wie vor wirkmächtig – nicht nur im Hinblick auf die Mortalität, sondern auch unter Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Morbidität (Krankheitslast). Die Reflexion der Bedeutung von Geschlecht ist nicht nur als gesellschaftlicher Diskurs relevant, sondern kann auch einen wichtigen Beitrag für das Agieren in der psychotherapeutischen Beziehung vom Mann-Frau- oder Nonbinärsein zum geschlechtssensiblen Handeln mit dem Anspruch eines geschlechtsaufmerksamen Bewusstseins leisten.