Mentalisieren und das Mentalisierungskonzept
Das Mentalisierungskonzept ist ein junges Konzept, das seit den 1990er-Jahren von der Londoner Arbeitsgruppe um Peter Fonagy entwickelt wurde und sich in klinischen Zusammenhängen zunehmender Popularität erfreut [
18,
21]. Zentraler Aspekt des Konzepts ist die Mentalisierungsfähigkeit, die die imaginative Fähigkeit beschreibt, Verhaltensweisen unter Berücksichtigung intentionaler mentaler Zustände wie Bedürfnisse, Gefühle oder Gedanken in angemessener Weise wahrnehmen und verstehen zu können, was in der Folge die Bildung zutreffender und akkurater psychischer Erklärungsmodelle für Verhaltensweisen erlaubt [
12,
13]. Abzugrenzen ist die Mentalisierungsfähigkeit vom Interesse einer Person, mentale Zustände als Auslöser von eigenen und fremden Verhaltensweisen zuzuschreiben – das Mentalisierungsinteresse ist demnach zwar mit der Mentalisierungsfähigkeit assoziiert, beschreibt allerdings die grundlegende Bereitschaft zur mentalisierenden Zuschreibung, nicht jedoch die Fähigkeit als solche [
13,
29]. Die Fähigkeit zur Zuschreibung mentaler Zustände stellt eine Entwicklungserrungenschaft dar, die in Bindungsbeziehungen in den ersten Lebensjahren erworben wird und die in Abhängigkeit von der Qualität dieser frühkindlichen Erfahrungen unterschiedlich ausgeprägt ist [
13]. Insbesondere in jüngerer Vergangenheit wurde das zunächst stark dyadisch geprägte Entwicklungsmodell um die Bedeutung des erweiterten sozialen Umfeldes ergänzt, dem ebenfalls eine gewichtige Komponente in der Entwicklung der kindlichen Mentalisierungsfähigkeit zugeschrieben wird [
14].
Untersuchungen an klinischen Stichproben zeigen, dass sowohl Einschränkungen der Mentalisierungsfähigkeit als auch ein überhöhtes Interesse an mentalen Zuständen zentrale Merkmale psychischer Erkrankungen wie der Antisozialen Persönlichkeitsstörung [
28], der Borderline-Persönlichkeitsstörung [
27] oder depressiven Störungen [
10] darzustellen scheinen. Sogenanntes Hypermentalisieren – eine exzessive Form mentalisierender Zuschreibungen, gekennzeichnet durch stark verzerrte, mitunter feindselige Zuschreibungen und ein unverhältnismäßig starkes Interesse an mentalen Zuständen, das diese aber kaum produktiv nutzt [
13], konnte als Charakteristikum bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen beschrieben werden [
29]: Betroffene reagieren bereits auf kleine externe Stimuli wie Mimik oder Gestik mit verstärkter Sensibilität, was wiederum in stark verzerrten und unverhältnismäßigen Zuschreibungen (z. B. Feindseligkeit) mündet und in der Folge die Entstehung von zwischenmenschlichen Problemen und psychopathologischen Symptomen begünstigt [
18]. In randomisiert-kontrollierten Längsschnittstudien zeigt sich, dass die Förderung beeinträchtigter Mentalisierungsfähigkeiten grundsätzlich möglich ist [
8,
9,
20] und mit einer Abnahme der erfassten Symptombelastung korrespondiert [
5]. Dabei erwies sich die mentalisierungsbasierte Therapie (MBT; [
3]) in randomisiert-kontrollierten Längsschnittstudien bei der Behandlung von Patienten mit Borderline Persönlichkeitsstörungen als grundsätzlich wirksam [
17,
31]. Weitere Daten deuten an, dass anhand der Ausprägung der Mentalisierungsfähigkeit des Patienten bzw. der Patientin die Qualität des therapeutischen Arbeitsbündnisses vorhergesagt werden kann [
7]. Überdies scheint der Mentalisierungsfähigkeit eine moderierende Funktion im psychotherapeutischen Kontext zuzukommen: Patienten und Patientinnen mit mittlerer Mentalisierungsfähigkeit konnten eher von psychotherapeutischen Interventionen profitieren als Patienten oder Patientinnen mit schwacher Mentalisierungsfähigkeit [
15]. Eine Untersuchung von Müller et al. [
25] schließlich zeigt, dass die zu Beginn einer Psychotherapie erfasste Mentalisierungsfähigkeit eine Verbesserung des Gesundheitszustands vorhersagen konnte. Folglich stellt das Mentalisierungskonzept einen profunden Erklärungsansatz in der Entstehung, Manifestierung und Behandlung von psychischen Erkrankungen dar. Hierbei wird die Mentalisierungsfähigkeit als allgemeiner Wirkfaktor psychotherapeutischer Interventionen konzeptualisiert, der unabhängig von spezifischen Behandlungstechniken einen grundlegenden Veränderungs- und Entwicklungsmechanismus darstellen könnte [
12,
14].
Die Entwicklung einer effektiven Mentalisierungsfähigkeit wird als Prozess beschrieben, der weitestgehend unabhängig von allgemeiner Intelligenz ist [
13]. Ebenso wird die Entwicklung der Fähigkeit als weitestgehend geschlechterunabhängig konzeptualisiert, obwohl Untersuchungen auf temporär divergente Entwicklungsverläufe in der Adoleszenz zwischen den Geschlechtern und eine Angleichung im Erwachsenenalter hinweisen [
19]. Eine der Hauptdeterminanten der gelingenden Entwicklung ist gemäß des Entwicklungsmodells stattdessen die sensitive Reaktivität der Bezugsperson, mit der diese auf Äußerungen des Kindes reagiert [
13,
22] sowie das erweiterte soziale Umfeld, innerhalb dessen ein Kind aufwächst [
14,
21]. Hier gelingt es dem Kind auf Basis der intersubjektiven Kommunikationsprozesse, Aufschluss über eigene mentale Zustände zu erhalten, sowie spielerisch das mentale Erleben des Gegenübers zu erkunden. Insbesondere Misshandlungserfahrungen in der Kindheit hingegen beeinträchtigen die Entwicklung einer robusten Mentalisierungsfähigkeit [
2‐
4] und deuten zusammenfassend an, dass die Art und Weise der intersubjektiven Interaktionserfahrungen mit anderen Personen entscheidend die Entwicklung der kindlichen Mentalisierungsfähigkeit prägt. Folglich sollte es allen Individuen möglich sein, auf hohem Niveau zu mentalisieren, sofern die Entwicklungsvoraussetzungen erfüllt sind. Individuelle Persönlichkeitszüge hingegen dürften keinen nennenswerten Einfluss auf die Ausprägung der Mentalisierungsfähigkeit verüben.
Persönlichkeit und Persönlichkeitsdimensionen
Als Persönlichkeit wird das für ein Individuum charakteristische Muster von Denken, Fühlen und Handeln bezeichnet [
26]. Deren Beschreibung durch sog. Persönlichkeitsdimensionen („traits“) hat in der Persönlichkeitspsychologie eine lange Tradition [
1]. Persönlichkeitsdimensionen sind definiert als zu einem Menschen gehörende Verhaltens- und Veranlagungsmuster, die sich in der Art des Fühlens und Handelns manifestieren [
26]. Ein zunächst von Eyseneck und Eyseneck [
8] vorgeschlagenes zweidimensionales Modell („instabil – stabil“ und „introvertiert – extrovertiert“) wird in aktuellen Modellen auf insgesamt fünf Dimensionen erweitert [
24]. Die unter dem Namen „Big Five“ bekannten Persönlichkeitsdimensionen (1.) Gewissenhaftigkeit, (2.) Verträglichkeit, (3.) Neurotizismus, (4.) Offenheit und (5.) Extraversion gelten heute als eine der besten Annäherung zur grundlegenden Beschreibung von menschlicher Persönlichkeit [
16,
23]: (1.) Gewissenhaftigkeit umfasst dabei das Kontinuum zwischen Nachlässigkeit und Disziplin, (2.) Verträglichkeit bildet sich zwischen den Polen Rücksichtslosigkeit und Hilfsbereitschaft ab. (3.) Neurotizismus beschreibt die emotionale Stabilität bzw. Instabilität des Individuums, die Persönlichkeitsdimension (4.) Offenheit gestattet die Einordnung des Individuums im Hinblick auf die Bereitschaft für neue Erfahrungen. (5.) Extraversion als fünfte Persönlichkeitsdimension konstituiert sich über die Polaritäten Zurückhaltung und Geselligkeit.
Alle Persönlichkeitsdimensionen gelten bei Erwachsenen als robust [
30,
35] und unterliegen zu erheblichen Anteilen genetischen Faktoren [
36]. Sie repräsentieren analog zu Intelligenz und Geschlecht stabile individuelle Merkmale, die in ihrer Anordnung zur Beschreibung von menschlicher Individualität dienlich sind.
Die vorliegende Studie
Inwieweit die Mentalisierungsfähigkeit und das Interesse an mentalen Zuständen mit einzelnen Persönlichkeitsdimensionen assoziiert sind, wurde bis heute nur unzureichend untersucht. Einigkeit besteht zunächst darin, dass robuste, auffallend maladaptive Formen von Persönlichkeit – zum Ausdruck gebracht über verschiedene Formen der Persönlichkeitsstörung – mit erheblichen Einschränkungen der Mentalisierungsfähigkeit und einem stark überhöhten Interesse an mentalen Zuständen assoziiert sind [
27,
28]. Darauf aufbauend deuten Analysen von Taubner et al. [
34] an, dass auch in einem klinisch unauffälligen Sample zumindest geringfügig positive Zusammenhänge zwischen den Persönlichkeitsdimensionen Offenheit, Verträglichkeit und dem erfassten Mentalisierungsinteresse bestehen. Einschränkend ist jedoch anzumerken, dass im Rahmen der Studie nicht die Mentalisierungsfähigkeit als solche erfasst wurde, sodass die Ergebnisse lediglich als Hinweise zu interpretieren sind.